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# taz.de -- Elitenforscher Michael Hartmann: „Wir brauchen eine Arbeiterquote…
> Für Kinder aus Arbeiterfamilien ist es fast unmöglich, bis ganz nach oben
> aufzusteigen. Woran das liegt und wie sich das ändern ließe, untersucht
> Soziologe Hartmann.
Bild: Campagner statt Bier: Wer zur Elite gehört, den oder die erkennt man am …
taz: Gehört man als taz-Redakteur zur Elite?
Michael Hartmann: Nein, selbst wenn man die Elite weit fasst – auf etwa
4.000 Personen in Deutschland –, würde vermutlich höchstens der
Chefredakteur dabei sein. Aber sonst niemand. Und auch nur, weil die taz
trotz geringer Auflage im Meinungsspektrum der Bundesrepublik eine wichtige
Rolle spielt.
Erzählen Sie von diesen 4.000 Personen, [1][der deutschen Elite]. Wer ist
das eigentlich?
Das sind Personen, die die Fähigkeit haben, Entwicklungen in der
Gesellschaft maßgeblich zu bestimmen. Sei es durch ihr Amt – wie zum
Beispiel ein Chefredakteur – oder durch ihr Eigentum. Es sind reiche
Industriellenfamilien wie die Quandts, die Piëchs oder Porsches. Es sind
Richter am Bundesgerichtshof oder Kabinettsmitglieder. Es sind Vorstände
von Großunternehmen wie Thyssenkrupp, die die Entscheidung treffen können,
so ein riesiges Unternehmen einfach aufzuspalten.
Wo kommt diese Elite her? Wird der Status einfach vererbt?
In der Wirtschaft spielt das tatsächlich eine große Rolle, weil in
Deutschland die großen Unternehmen zur Hälfte noch in Familienbesitz sind.
Bei den Vorstandschefs finden Sie aber kaum jemanden, der über Vererbung in
seine Position gekommen ist – zumindest nicht direkt. Da funktioniert
vieles aufgrund von Wiedererkennung. Man sucht Leute, die einem ähnlich
sind. In einer Biografie über den Manager Thomas Middelhoff steht eine
Anekdote, die das veranschaulicht. Middelhoff hat sich zu Beginn seiner
Karriere einmal bei Bertelsmann für eine höhere Position beworben. Der
Vorstandschef hatte eigentlich Vorbehalte. Aber Middelhoff „sei
aufgetreten, als sei das Vorstandsbüro sein natürliches Biotop“. Er bekam
den Job.
Es geht also um Habitus
Ja. Middelhoff überzeugte, weil er sich ganz selbstverständlich in diesem
Milieu bewegte. Und an dieser Selbstverständlichkeit erkennt sich die
Elite. Wie man sich bewegt, wie man redet, wie man auf bestimmte
Situationen reagiert. Das ist der großbürgerliche Habitus. Und dazu kommt
ein bestimmter männlicher Habitus. Frauen kommen deshalb kaum rein, und
auch kleine Männer nicht. Suchen Sie mal nach einem Vorstandschef, der 1,74
Meter ist.
Kann man sich als Arbeiterkind diesen Habitus antrainieren oder bleibt man
immer Außenseiter?
Ich würde nicht ausschließen, dass es möglich ist, sich das über lange
Jahre anzutrainieren – aber es ist außerordentlich schwer. Vor allem in
unvorhergesehenen Situationen greifen Automatismen, die man in seiner
Kindheit erlernt hat. Wer die nicht hat, gerät ins Schleudern. Der reagiert
falsch und zeigt, dass er der Situation nicht gewachsen ist.
Umgemünzt auf die Medienbranche. Als Arbeiterkind schafft man es vielleicht
zum Redakteur, aber nicht zum Chefredakteur?
Nun ja. Ich zitiere in meinem Buch anonym einen der bekanntesten
Journalisten der Republik, dem am Anfang seiner Karriere beim Treffen in
der Chefredakteursrunde auffiel: „Die kommen alle aus demselben Milieu“ und
er selbst ist sozialer Aufsteiger. Das hat ihn schon stark verunsichert.
Wie kommen Sie für ihre Forschung eigentlich an die Eliten ran? Schicken
Sie BMW-Erbin Susanne Klatten einen Fragebogen und die faxt ihn dann
ausgefüllt zurück?
Nein das läuft über persönliche Kontakte. Und da kommt mir meine eigene
Herkunft zugute. Mein Vater war Finanzchef, mein Großvater Verlagsleiter.
In der Verwandtschaft waren leitende Angestellte und Unternehmer. Deshalb
weiß ich, wie die ticken. Ich habe gar nicht erst den konventionellen Weg
mit langen Anschreiben gewählt. So etwas geht sofort in den Papierkorb. Das
wusste ich von meinem Onkel, der lange im Vorstand eines großen
Industrieunternehmens war. Man muss die Leute ans Telefon kriegen.
Sie können also nur so gut zur Elite forschen, weil sie ihr selbst
angehören?
Mir ist klar, was funktioniert und was nicht. Ich bin auch nie im Anzug zu
Interviews gegangen, sondern in Jeans, Boots und Lederjacke. Ich wusste,
für meine Gesprächspartner ist Kleidung nicht relevant – weil ich ja keine
Stelle bei denen haben wollte. Heute bringe ich viel über Einladungen in
Erfahrung. Ich gehe zum Beispiel zu den Baden-Badener
Unternehmergesprächen. Da halte ich dann einen Vortrag und danach kommt man
ins Gespräch. Man erfährt so interessante Details, wenn man gut zuhört und
die richtigen Fragen stellt. Natürlich nur anonym. Es spricht sich ganz
schnell rum, wenn jemand das nicht einhält.
Sie machen die Zusammensetzung der Elite für die „neoliberale Wende“ der
letzten Jahrzehnte verantwortlich, also zum Beispiel für die Entlastung
großer Einkommen und armenfeindliche Sozialpolitik. Dabei waren es doch
Arbeiterkinder, die diese Politik maßgeblich durchgesetzt haben, Gerhard
Schröder und Frank-Walter Steinmeier.
Die Elite in der Politik war immer am durchlässigsten nach unten. Denn es
geht darum, gewählt zu werden. Das funktioniert nicht, wenn man Großbürger
antreten lässt.
Aber Schröder und Steinmeier zeigen doch zumindest, dass man nicht
automatisch Politik macht, die dem eigenen Herkunftsmilieu zugute kommt?
Es gibt da keinen Automatismus, aber ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit.
2012 habe ich mit dem Wissenschaftszentrum Berlin Elitenangehörige
befragt, wie sie soziale Ungleichheit, Steuererhöhungen und Staatsschulden
bewerten. Das Ergebnis war eindeutig. Die Herkunft prägte die Einstellung
zu all diesen Fragen. Die Arbeiterkinder in der Elite fanden niedrige
Steuern für hohe Einkommen und Vermögen und soziale Ungleichheit deutlich
ungerechter. Selbst in der Wirtschaft wollten die Arbeiterkinder in
Spitzenpositionen höhere Steuern. Je reicher jemand groß geworden war, umso
entschiedener war er gegen höhere Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen.
Schröder offenkundig nicht…
Er ist da eine Ausnahme. Ich kenne SPD-Mitglieder, die ihn an verschiedenen
Positionen erlebt haben und alle waren sich einig. Ihn hat immer nur er
selbst und seine Karriere interessiert. Politische Positionen hat er
beliebig gewechselt, wenn es für ihn von Vorteil war. Einzelne Beispiele
können immer das Gegenteil zeigen, aber in der Summe gibt es einen
Zusammenhang zwischen der sozialen Rekrutierung von Eliten und der
neoliberalen Wende.
Durch Frauenquoten oder die Rekrutierung von Menschen mit
Migrationshintergrund wollen Politik, Wirtschaft und Medien Eliten diverser
machen. Kann man mit solchen Maßnahmen, die Elite „aufsprengen“?
Ohne Quoten geht es nicht. Das sieht man am Beispiel von Frauen in
Unternehmensvorständen. Da gibt’s nur homöopathische Steigerungen jedes
Jahr. In den Aufsichtsräten ist die Quote zwar relativ schnell durchgesetzt
worden. Aber die Vorstände sind viel entscheidender. Dort werden die
Entscheidungen getroffen. Die bisherigen Quoten sind aber nur bezogen auf
Geschlecht, Migrationshintergrund oder regionale Herkunft. Man bräuchte
eine Arbeiter- oder eine soziale Quote, dann würde sich was ändern.
Sie schreiben in Ihrem neuen Buch: „Der Aufstieg der Frauen in die
Vorstandsetagen wird mit dem Rückgang sozialer Aufsteiger unter den Männern
bezahlt.“ Können Sie das erläutern?
Ich beschreibe da eine Reihe von Einzeleindrücken. Aber eine meiner
Doktorandinnen hat das Phänomen am Beispiel von Professuren in
Nordrhein-Westfalen analysiert. Bei Männern ist das Verhältnis von Herkunft
aus dem obersten Milieu gegenüber Herkunft aus dem untersten Milieu knapp 3
zu 1, bei Frauen mehr als 5 zu 1. Meine Erklärung dafür ist: Wo man
jemanden reinnimmt, der nicht den üblichen Kriterien entspricht – also kein
Mann ist –, da muss der Rest halt umso mehr stimmen. Wenn eine Frau also
noch einen Arbeiterhintergrund hat, dann wird es in der Regel nicht
funktionieren. Sondern eher da, wo man etwas wiedererkennt. Wenn es schon
nicht das Geschlecht ist, dann zumindest die soziale Herkunft.
Die Eliten werden also nur geöffnet auf der Ebene des Geschlechts?
Ja, auf der Ebene der sozialen Herkunft werden sie dagegen noch
geschlossener. Der Vater von Ann-Kristin Achleitner – der einflussreichsten
Aufsichtsrätin in Deutschland – war Professor an der Zahnklinik der Uni
Aachen. Das ist ein typischer Fall.
Hat die Öffnung der Eliten durch Diversity dafür gesorgt, dass die Politik
etwas weniger „neoliberal“ ist?
Nur wenn Diversity auch sozial gedacht würde, gäbe es eine Veränderung.
Geschlechtsspezifische Ungleichheiten werden zwar stärker thematisiert,
seit Frauen in der Politik eine größere Rolle spielen. Aber auch dort merkt
man wieder die soziale Schieflage. Wenn Ungleichheiten thematisiert werden,
hat das immer einen Einschlag nach dem Motto: „Wir brauchen mehr Frauen in
wichtigen Positionen und dafür müssen wir was tun.“ Die Kassiererinnen bei
Aldi fallen da meistens hinten rüber. Bei denen ist nämlich die soziale
Frage vorrangig und nicht das Geschlecht. Diversity muss man in der ganzen
Breite denken. Wenn man das Konzept auf einen Aspekt verengt, wird man zwar
in einem Bereich vorankommen, aber häufig um den Preis, dass sich die
Situation in anderen Bereichen verschlechtert.
Ihr Buch trägt einen provokanten Untertitel: „Wie Eliten die Demokratie
gefährden“. Wo verläuft die Grenze zwischen fundierter Kritik an
Elitenrekrutierung und Elitenbashing, wie Rechtspopulisten es betreiben?
Für Populisten gibt es nur „die Eliten“ und „das Volk“. Sie üben paus…
Kritik. Wenn ich aber schreibe, „wie“ die Eliten die Demokratie gefährden,
dann geht es um konkrete politische Inhalte und zwar um die neoliberale
Politik der letzten Jahrzehnte. Wenn es die nicht gäbe, müsste man nicht so
intensiv über die Elitenzusammensetzung diskutieren – und wie diese zu
Politikverdruss und zum Aufstieg des Rechtspopulismus führt.
Allerdings kommen mehrere Studien zu dem Schluss, dass der besagte Aufstieg
des Rechtspopulismus wenig mit den sozialen Verwerfungen im Land zu tun
hat.
Ich kenne diese Studien. Die beziehen sich zum Teil auf eine Zeit, als die
AfD noch unter Bernd Lucke eine Professoren-Partei war, also vor dem
starken Rechtsruck in der Partei. Das kann man mit der heutigen
AfD-Wählerschaft kaum vergleichen. Es gibt in der Tat einen harten Kern
von Menschen mit einem stabilen rechten Weltbild in diesem Land. An die
kommt man gar nicht ran. Aber der Rechtspopulismus hat seinen Erfolg der
Tatsache zu verdanken, dass er über dieses Milieu hinausgewachsen ist und
Protestwähler erreicht, die von der Politik, vor allem der SPD, enttäuscht
sind.
Wie kann man diese Protestwähler denn zurückholen?
Es ist ja kein Geheimnis, wo meine politischen Sympathien liegen. Auf
europäischer Ebene ist das Jeremy Corbyn, trotz allem, was man an ihm
kritisieren kann. Im Kern macht er das, was eine Wende herbeiführen kann.
Er hat eine klare Gegenposition zu der neoliberalen Politik der letzten
Jahrzehnte. Durch ihn wird in Großbritannien zum ersten Mal seit
Jahrzehnten ernsthaft die Wiederverstaatlichung der Eisenbahn und der
Wasserversorgung diskutiert. Er will den Wohlfahrtsstaat wieder aufbauen.
Und diese Politik schlägt sich auch in der sozialen Zusammensetzung seiner
Mitstreiter nieder. In Corbyns Schattenkabinett sind 50 Prozent
Arbeiterkinder und nur ein Privatschüler. Dieses Modell könnte sich in
Großbritannien durchsetzen, zumindest deuten die Umfragen darauf hin. Und
ich hoffe, dass das dann auch auf andere Länder ausstrahlt.
23 Oct 2018
## LINKS
[1] /Kolumne-Schlagloch/!5540645
## AUTOREN
Jörg Wimalasena
## TAGS
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