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# taz.de -- Frühere Sandinistin über Ortega: „Nie wieder solche Führungsty…
> Die ehemalige sandinistische Comandante Mónica Baltodano über Nicaraguas
> Präsidenten Daniel Ortega und die Perspektiven der Opposition sowie der
> Linken.
Bild: Nicaraguas Regierung von Daniel Ortega geht hart gegen Demonstranten vor
taz: Frau Baltodano, seit Monaten [1][erlebt Nicaragua einen heftigen
Konflikt]. Rund 500 Menschen sind ums Leben gekommen. Wer steht sich da
eigentlich genau gegenüber?
Mónica Baltodano: Auf der einen Seite eine Regierung, deren Macht sich nur
noch auf die Waffen stützt, auf die Polizei und die paramilitärischen
Einheiten, die Präsident Daniel Ortega vor Jahren schon aufgebaut und
bewaffnet hat. Auf der anderen Seite eine große Masse, die mehr
Organisation, Einheit und Führung braucht. Die Opposition ist durch die
Repression sehr durcheinander gebracht. Ein Teil der AnführerInenn wurde
ermordet, andere sitzen im Gefängnis. Es gab selektive Verhaftungen von
AnführerInnen der studentischen Bewegung, der Bauernbewegung, der
Frauenbewegung, der lokalen Bewegungen. Und sehr viele mussten ins Exil.
Wie geht es jetzt weiter?
Wir befinden uns in einem Prozess der Reorganisation der sozialen
Bewegungen und der Organisationen der Zivilgesellschaft, und zwar aus allen
Bereichen: MenschenrechtsverteidigerInnen, Feministinnen, Widerstand gegen
den Bergbau, UmweltschützerInnen usw. Es geht darum, eine gemeinsame
Schlagkraft zu entwickeln, um mit neuen Widerstandsformen wieder
attackieren zu können.
Wenn die Hauptforderung nach vorgezogenen Neuwahlen erfüllt würde: Wäre das
nicht für diese Opposition derzeit ein Desaster?
Wir können unmöglich Wahlen akzeptieren, wenn es zuvor nicht eine völlige
Neuordnung des Wahlsystems gibt. Alle Wahlbehörden sind mit Ortegas Leuten
besetzt. Mit so einer Struktur an Wahlen teilzunehmen, wäre Selbstmord.
Wenn wir also von vorgezogenen Neuwahlen sprechen, dann braucht es dazu
eine Neuordnung der Institutionen und des Wahlsystems, aber auch
internationale Beobachtung. Das geht nicht von heute auf morgen, aber in
drei bis vier Monaten wäre das machbar.
Nicht nur von Seiten Daniel Ortegas, auch von Linken aus dem Ausland kommt
die Kritik, es handele sich bei dieser Opposition um eine rechte
Putschistenbewegung.
Das ist Unsinn. Ein Aufstand, in dem ein Volk sagt, dass es von einem
Präsidenten die Nase voll hat, ist vollkommen legitim. Und wenn ein
Unterdrücker fast 500 Menschen umbringen lässt, dann hat das Volk ja wohl
das Recht zu sagen: Es reicht!
Daniel Ortega ist ja ein Produkt [2][der Sandinistischen Befreiungsfront
FSLN], der Sie selbst viele Jahre angehört haben. Eine damals auch schon
sehr hierarchisch organisierte Kaderpartei. Was denken Sie heute darüber?
Es nimmt mich ganz schön mit, was da passiert ist. Wir müssen kritisch und
selbstkritisch analysieren, wie das geschehen konnte. Daraus müssen wir
Lehren ziehen, damit so etwas nie wieder passieren kann, weder in Nicaragua
noch sonst irgendwo.
Und an welchem Punkt sind Sie derzeit bei der Analyse?
Ich glaube schon, dass die politische Geschichte Nicaraguas insgesamt eine
wichtige Rolle spielt. Seit der Unabhängigkeit 1821 ist das eine Geschichte
von Caudillos, von Kriegen, von nordamerikanischer Intervention und von
Herrschern, die sich, wenn sie einmal an der Macht sind, wie von Gott
berufen fühlen. So ist es bei den Konservativen mit Emiliano Chamorro
gewesen, bei den Liberalen mit den Somozas und beim Sandinismus mit Daniel
Ortega. Das hat sein Fundament in der politischen Kultur Nicaraguas, und
die Leute haben das tief verinnerlicht. Sie wollen Caudillos! Deshalb
fragen sie derzeit auch andauernd, wer der Anführer der Opposition ist. Und
wir sagen dann: Es darf nie wieder solche Führungstypen geben!
Also ist das kein spezifisches Problem der FSLN oder der Linken?
Doch, auch. Die politische Kultur der Linken ist sehr autoritär und
vertikal und gibt wenig darauf, ob etwas moralisch in Ordnung ist oder
nicht. Was die Partei entscheidet, wird gemacht, ohne je nachzufragen, ob
das jetzt richtig ist. So ist es in der FSLN gelaufen. Daniel Ortega hat
sich zum alleinigen Anführer gemacht, der alle Formen der Mitbestimmung
innerhalb der Partei zerstört hat. Die Sandinistische Versammlung, ein
Parteiorgan der Debatte und Diskussion, wurde abgeschafft. Es gibt keine
Parteitage mehr, die über Programme entscheiden würden – alles ist auf
Ortega konzentriert.
Warum hat die Partei, haben die Mitglieder das mit sich machen lassen?
Weil wir alle, die wir dagegen waren, etwa Sergio Ramírez, Ernesto
Cardenal, Dora María Tellez und viele andere, ab 1994 aus der Partei
ausgetreten sind oder rausgeworfen wurden, so wie ich 1999. Die, die übrig
blieben, waren die Diszipliniertesten, die Unterwürfigsten oder auch die,
die am meisten Eigeninteressen verfolgen konnten.
Was meinen Sie damit?
Es sind ja sogar einige wieder in die FSLN eingetreten, nachdem Daniel
Ortega 2007 ins Präsidentenamt zurückkehrte. Er hat eine neue
sandinistische Bourgeoisie geschaffen, die mit den ohne jede Transparenz
eintreffenden Geldern aus Venezuela gefüttert wurde. 500 Millionen Dollar
pro Jahr! Für eine Ökonomie wie die nicaraguanische ist das sehr viel Geld!
Ortega konnte darüber unkontrolliert frei verfügen. Einen Teil hat er in
soziale Programme gesteckt, und mit dem anderen Teil hat er neue
sandinistische Kapitalisten geschaffen.
Es gibt auch in Deutschland Teile der alten Solidaritätsbewegung, die
Ortega verteidigen. Verstehen Sie das?
Es ist schrecklich, dass es immer noch Gruppierungen der Linken gibt, die
zwischen einem diktatorischen Verbrecher und einer linken Regierung nicht
unterscheiden können.
Was glauben Sie, bewirken die Ergebnisse der Linksregierungen in
Lateinamerika im letzten Jahrzehnt, insbesondere die Krisen in Venezuela
und Nicaragua, für die Zukunft linker Politik?
Tatsächlich sind in Lateinamerika in den letzten zwei Jahrzehnten einige
linke Regierungen an die Macht gekommen. Aber was haben sie wirklich anders
gemacht? Ja, sie haben eine die Armut reduzierende Sozialpolitik
propagiert. Aber sie haben nicht wirklich strukturelle Veränderungen in
Angriff genommen, sondern eher Verteilungsprogramme eingeführt, die keinen
tiefgreifenden Wandel bewirken und die Menschen, wenn die Programme einmal
auslaufen, wieder in die Armut zurückstoßen. Ich sehe bei diesen Linken
kein Projekt, das ernsthafte Transformationen angeht und ein anderes Modell
vorschlägt. Die meisten haben genauso auf die Ausbeutung der Rohstoffe
gesetzt, auf den Verkauf von Mineralien oder Gold, oder auf riesige
Agrarmonokulturen.
Auch in Nicaragua?
Es war für transnationale Unternehmen noch nie so einfach wie unter Daniel
Ortega, sich unsere Reichtümer anzueignen. Der klarste Fall ist der des
interozeanischen Kanals, wo Nicaragua die Rechte an ein transnationales
chinesisches Unternehmen abgibt, das damit nicht nur Wälder und Biosphäre
zerstören würde, sondern auch noch eine der wichtigsten Wasserreserven
Lateinamerikas, den Nicaragua-See. Dazu kommt das Thema der Korruption: In
Nicaragua sind die Worte „Links“, „Antiimperialismus“, „Sandinismus�…
„Sozialismus“ direkt mit Verbrechen assoziiert! Das wieder zu verändern,
ist eine Riesenaufgabe. Und ich glaube, das geht der Linken in ganz
Lateinamerika so.
16 Oct 2018
## LINKS
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## AUTOREN
Bernd Pickert
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