# taz.de -- Instrumentalisierung von Todesfällen: Rechter Haken ohne Sturm | |
> Vor einem Jahr starb in Wittenberg ein Deutscher bei einem Streit mit | |
> einem Syrer. Bundesweite Aufmerksamkeit fehlte – wieso? | |
Bild: Noch hängt am Tatort keine Gedenktafel, die Stadt will die Ermittlungen … | |
Wittenberg taz | Das Bild der Überwachungskamera am Eingang des | |
Einkaufszentrums Arsenal in Wittenberg ist scharf und in Farbe. Am | |
Nachmittag des 29. September 2017, ein Freitag, ist viel Betrieb im | |
Arsenal, die Leute gehen vor dem langen Wochenende einkaufen, andere ein | |
Eis essen. | |
Um 14.54 Uhr läuft Marcus Hempel mit einer Freundin ins Bild der | |
Überwachungskamera. Sie wollen sich im Einkaufszentrum das Videospiel | |
„Fifa 18“ kaufen. Die beiden schieben ihre Fahrräder auf den gepflasterten | |
Vorplatz und schließen ab. Am Eingang treffen sie auf eine Gruppe von vier | |
jungen Männern. | |
Es ist ein Video, das einen nicht mehr loslässt. Das zeigt, wie schnell es | |
vorbei sein kann. Drei Schläge, ein Sturz. Der Kopf von Marcus Hempel | |
schlägt auf dem Boden auf, die Glasflasche in seiner Hand zerbricht. Mit | |
dem Rettungswagen wird er ins Paul-Gerhardt-Stift gebracht, dann mit dem | |
Hubschrauber ins Klinikum Dessau. Um 23.40 Uhr ist er tot, gestorben an den | |
Blutungen in seinem Gehirn. | |
Immer, wenn in den vergangenen Monaten Flüchtlinge am Tod von Deutschen | |
direkt oder indirekt beteiligt waren, gab es einen bundesweiten Aufschrei: | |
Die Todesfälle [1][in Kandel], [2][Freiburg] und zuletzt [3][in Chemnitz] | |
[4][und Köthen] wurden über Nacht zu medialen Großereignissen. Der Tod von | |
Marcus Hempel in Wittenberg nicht. | |
## Die Umstände für einen Aufschrei sind gegeben | |
Dabei sind die Umstände dafür gegeben: Das Opfer ein Deutscher, und Sabri | |
H., der zugeschlagen hat, ein Syrer, der 2015 als unbegleiteter | |
minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen war. Zudem war Sabri H. | |
schon mal durch eine Schlägerei aufgefallen. Trotzdem berichten fast | |
ausschließlich lokale Medien über den Fall. | |
Drei Tage nach der Tat, am Montag, den 2. Oktober, verschickt die | |
Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau eine Pressemitteilung. Es ist ein | |
Brückentag, deswegen ist nur eine Staatsanwältin im Dienst. Die | |
Pressemitteilung schließt mit einem nüchternen Satz: „Aufgrund der | |
bisherigen Ermittlungen dürfte derzeit von einer Notwehrhandlung (mit | |
tragischen Folgen) auszugehen sein.“ | |
Die taz hat die Ermittlungsakte und das Überwachungsvideo einsehen können, | |
das die Tat zeigt. Die Recherche weckt Zweifel an der Darstellung der | |
Staatsanwaltschaft. | |
Im Frühjahr 2018, sieben Monate nach der Tat, sitzt Karsten Hempel in | |
seiner Tiefbaufirma in einem grauen Gewerbegebiet außerhalb Wittenbergs. | |
Draußen stehen die Bagger und Radlader, drinnen ist Hempel allein am großen | |
Konferenztisch, er setzt sich eine Lesebrille auf und hebt den Kopf. „Ich | |
habe immer an den Rechtsstaat geglaubt“, sagt er. Jetzt hat er den Glauben | |
verloren. | |
## Ein Kampf für eine Anklage | |
Der Rucksack, mit dem Hempel seit Monaten schon herumläuft, ist so voll, | |
dass sich der Reißverschluss nicht mehr schließen lässt. Darin Aktenordner | |
mit der Ermittlungsakte und seine eigenen Aufzeichnungen, akribisch | |
abgeheftet. Er hat bunte Post-its zwischen die Seiten geklebt. | |
Hempel kämpft dafür, dass gegen Sabri H. Anklage erhoben wird. Nach dem Tod | |
von Marcus Hempel wird Sabri H. vernommen, aber keine Untersuchungshaft | |
beantragt. Die erste Einschätzung der Staatsanwaltschaft ist, dass Sabri H. | |
in Notwehr handelte. In diesem Fall muss sie keine Anklage erheben. | |
Hempel hat sich das Video, in dem sein Sohn tödlich verletzt wird, über | |
hundert Mal angeschaut. Er hat eine Mission. Das hilft ihm, das Unfassbare | |
zu bearbeiten. | |
Der Zeitstempel des Videos zeigt 14.54 Uhr. Sabri H. steht mit drei | |
Freunden vor dem Eingang des Einkaufszentrums und wartet. Marcus Hempel | |
läuft mit einer Freundin ins Bild. Sabri H. geht an den beiden vorbei und | |
zeigt ihnen den Mittelfinger. Das Video hat keinen Ton, aber zu diesem | |
Zeitpunkt reagieren weder Hempel noch seine Freundin auf ihn. Sabri H. | |
dreht wieder um und wartet in einigen Metern Entfernung. | |
## Drei Schläge, dann hält er inne | |
Nachdem sie ihre Fahrräder angeschlossen haben, gehen Hempel und seine | |
Freundin zum Eingang des Einkaufszentrums. Plötzlich drehen sie um und | |
gehen zur Gruppe der Syrer. Sie streiten, Hempels Freundin steht zwischen | |
den Männern und gestikuliert. Sabri H. schubst, Hempel schubst zurück. | |
Wieder stellt sich Hempels Freundin dazwischen. Dann schlägt Hempel als | |
Erster zu, über die Schulter seiner Begleiterin, und trifft Sabri H. im | |
Gesicht. Es sieht nicht nach einem platzierten Schlag aus. | |
Sabri H. reagiert schnell. Er schlägt zurück, Hempel taumelt nach hinten. | |
Sabri H. schlägt noch mal zu, Hempel wehrt sich nicht, er taumelt weiter, | |
etwa drei Meter über den Vorplatz. Dann schlägt Sabri H. ein drittes Mal | |
zu. Hempel schlägt mit dem Kopf auf und bleibt liegen. Sabri H. geht auf | |
den am Boden Liegenden zu, setzt zu einem weiteren Schlag an, hält dann | |
aber inne. Er lässt von ihm ab, hebt seine Kappe auf, die auf den Boden | |
gefallen ist, und verlässt den Tatort. | |
In der Pressemitteilung schildert die Staatsanwältin den Vorgang anders. | |
Demnach sei die Aggression von Marcus Hempel ausgegangen: „Im weiteren | |
Verlauf versetzte der 30-Jährige dem Syrer erneut einen Faustschlag, | |
woraufhin Letzterer unmittelbar reagierte und den 30-Jährigen seinerseits | |
mit einem Faustschlag am Kopf traf.“ | |
Laut Staatsanwaltschaft soll Hempel zweimal zugeschlagen haben, Sabri H. | |
einmal. Im Video sieht man aber nur einen Schlag von Hempel und drei | |
Schläge von Sabri H. Dass dieser als Erster schubst, erwähnt die | |
Staatsanwaltschaft nicht, genauso wenig, dass Sabri H. Hempel vorher | |
möglicherweise erkennt und den Mittelfinger zeigt. | |
## Polizist schrieb richtigen Bericht | |
Schon am Samstag, einen Tag nach der Tat und zwei Tage vor der | |
Pressemitteilung, wertet ein Polizist das Überwachungsvideo aus. Das geht | |
aus der Ermittlungsakte hervor. Der Polizist schreibt einen Bericht, er | |
zählt die Schläge richtig, er schreibt auch, dass zuerst Sabri H. schubste, | |
dass Hempel nur einmal zuschlug und Sabri H. dreimal. Warum die | |
Staatsanwältin die Tat nach dem Polizeibericht anders darstellt, ist | |
unklar. | |
In der Wittenberger Polizei wundert man sich über das Verhalten der | |
Staatsanwaltschaft. „Skurril“ sei die Pressemitteilung gewesen. Öffentlich | |
sprechen will aber niemand. Aus Kreisen der Polizei heißt es, man sei „sehr | |
sauer“. Immer wieder würden Bürger die Beamten auf den Todesfall | |
ansprechen. | |
Zudem sei es seit Jahren üblich, dass Polizei und Staatsanwaltschaft eine | |
gemeinsame Pressemitteilung veröffentlichen. Die Staatsanwaltschaft | |
Dessau-Roßlau bestätigt dies auf Anfrage der taz. Warum es in diesem Fall | |
anders gehandhabt wurde, wollte die Staatsanwaltschaft nicht herausfinden. | |
Das sei „zu zeitaufwendig“. Dass der Tatverlauf anders als im Video | |
dargestellt wird, begründet die Staatsanwaltschaft damit, dass eine | |
Pressemitteilung nur Wesentliches mitteile. | |
Was ist Notwehr? Das ist juristisch nicht eindeutig. Dass Sabri H. häufiger | |
und heftiger zuschlug als Marcus Hempel, beweist nicht, dass er nicht aus | |
Notwehr handelte. Auch ein Gegenangriff kann juristisch unter Notwehr | |
fallen. Aber Sabri H. wurde von mehreren Freunden begleitet, deshalb ist | |
zweifelhaft, ob er sich so heftig wehren musste. Zudem könnte sein Motiv | |
eine Rolle spielen: Wenn Sabri H. aus Hass oder Rachsucht gehandelt haben | |
sollte, wäre Notwehr unwahrscheinlich. Klären kann das nur ein Gericht. | |
Aber dafür bräuchte es eine Anklage. | |
## Streit wegen eines Hundes | |
Später agiert die Staatsanwaltschaft defensiver. Die Ermittlungen seien | |
nicht abgeschlossen, man ermittle wegen des Verdachts auf Körperverletzung | |
mit Todesfolge. Dabei wurde nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit die | |
Notwehrthese vertreten, sondern auch in der Ermittlungsakte. Dort heißt es | |
unter anderem, eine Altersfeststellung bei Sabri H. sei nicht nötig, da von | |
Notwehr ausgegangen werde. | |
Karsten Hempel weist die Staatsanwaltschaft immer wieder darauf hin, dass | |
sich sein Sohn und Sabri H. gekannt hätten. In Pratau am Rande Wittenbergs | |
wohnten beide nur wenige Häuser voneinander entfernt. Die Freundin von | |
Marcus Hempel sagte der Polizei, dass Marcus auf einem Spielplatz in der | |
Nähe der Häuser Streit mit einem Syrer gehabt hätte, wegen eines Hundes. | |
Falls es sich bei dem Syrer um Sabri H. gehandelt hat, könnte das erklären, | |
warum er vor dem Einkaufszentrum Marcus Hempel den Mittelfinger zeigt. Dann | |
hätte Sabri H. ein Motiv. | |
Im Februar bekommt Karsten Hempel einen Termin beim Wittenberger | |
Oberbürgermeister, dem parteilosen Torsten Zugehör. Er bittet darum, an dem | |
Ort, an dem sein Sohn starb, eine Plakette anbringen zu dürfen, nichts | |
Großes, zehn mal zehn Zentimeter. Zugehör habe ihm versprochen, dass sich | |
der Ältestenrat kümmern werde, sagt Hempel, im März oder April gebe es eine | |
Entscheidung. Hempel wartet bis heute. | |
Der Pressesprecher des Bürgermeisters sagt dazu auf Nachfrage der taz, dass | |
der Eigentümer einem Gedenkstein zustimmen müsse. Die Managerin des | |
Einkaufszentrums dagegen sagt, dass der Tatort städtisches Gebiet sei. | |
## Neonazis werden aufmerksam | |
Karsten Hempel fühlt sich allein gelassen, von der Justiz und der | |
Wittenberger Politik. Dafür werden in Wittenberg lokale Neonazis auf den | |
Tod seines Sohns aufmerksam. Ein Bericht des MDR zeigt, wie drei Wochen | |
nach der Tat einige Dutzend Rechte durch die Innenstadt ziehen, am | |
Einkaufszentrum vorbei, vor dem Marcus Hempel starb. „Gerechtigkeit“ | |
fordern sie und rufen: „Überfremdung stoppen!“ | |
Die lokale Mitteldeutsche Zeitung wird mit Nachrichten überschüttet, warum | |
sie die Tat verschweigen würde. Als die Zeitung doch berichtet, muss der | |
Online-Kommentarbereich unter dem Text zwischenzeitlich abgeschaltet | |
werden. | |
Nach der ersten Aufregung aber wird es in Wittenberg wieder ruhig, der Fall | |
bekommt überregional keine Aufmerksamkeit. Wittenberg wird kein Hashtag. | |
Warum? | |
Wittenberg, das ist so etwas wie das Potsdam von Sachsen-Anhalt. Hier | |
arbeitet ein liberales und privilegiertes Bürgertum, rund um die | |
evangelische Akademie gibt es zahlreiche christliche Einrichtungen. Es gibt | |
eine aktive Zivilgesellschaft, Zehntausende amerikanische Touristen kommen | |
im Jahr, das prägt das Klima der Stadt. | |
## Fälle werden instrumentalisiert | |
Ein Anruf bei David Begrich, Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Verein | |
Miteinander e.V. Sucht man nach einem Experten für Neonazis in | |
Sachsen-Anhalt, dann sagen alle: Frag Begrich. | |
Begrich hat mit seinen Kollegen analysiert, wann aus einem Einzelfall ein | |
Erfolg der rechten Szene wird, „Mobilizing Resources“ nennt er das. Begrich | |
ist überzeugt, dass die AfD und die außerparlamentarische Rechte gezielt | |
nach Fällen wie in Chemnitz und in Wittenberg suchen, um diese zu | |
instrumentalisieren, spricht von „Eventscouts“ und sagt: „Die Rechte ist | |
gerade in einem Rauschzustand.“ | |
Nötig seien drei Bedingungen: Erstens brauche es einen Anlass, der | |
skandalisiert werden könne. Zweitens eine handlungsfähige rechte Struktur. | |
In Chemnitz waren das die organisierten Hooligans des Chemnitzer FC, die am | |
ersten Tag den Mob anführten. „Es reicht aber nicht, die eigene Crowd auf | |
die Straße zu bringen“, sagt Begrich. Deshalb brauche es drittens Personen, | |
die ein bürgerliches Publikum ansprechen. Das rechte Bürgerbündnis Pro | |
Chemnitz legitimierte die Demonstration für Chemnitzer, die sich selbst | |
nicht als politisch rechts verstehen. | |
Zweitens und drittens fehlten in Wittenberg. 86 Teilnehmer zählten | |
Beobachter bei der rechten Demonstration nach dem Tod von Marcus Hempel, | |
sie erkannten Neonazikader von der NPD und Thügida auf der Straße, von der | |
Volksbewegung Sachsen-Anhalt und der sogenannten GHC Crew. Es sind die | |
gleichen Gruppen, die ein knappes Jahr später erfolgreich nach Köthen | |
mobilisieren sollten. In Wittenberg blieben sie unter sich. | |
## Einst eine Hochburg | |
Seit den neunziger Jahren beobachtet Begrich die Neonazi-Szene in | |
Ostdeutschland. Damals war Wittenberg eine Hochburg, die Kameradschaft | |
Elbe-Ost hatte das Sagen. Seitdem sei die Szene kleiner geworden. Für viele | |
organisierte Neonazis in Sachsen-Anhalt, etwa in Magdeburg, ist Wittenberg | |
weit weg, fast in Brandenburg. Nur selten beteiligen sie sich an | |
Kundgebungen. Bei Köthen war das anders: Die Stadt liegt in der Nähe von | |
Magdeburg, an der Grenze zu Sachsen und Thüringen. Auch die AfD ist hier | |
aktiver als in Wittenberg. | |
Begrich sieht noch einen Unterschied, es ist ein Unterschied in der | |
politischen Kultur: In Sachsen-Anhalt sei die AfD zwar mit fast 25 Prozent | |
sehr stark im Parlament, aber schwach auf der Straße. In Sachsen dagegen | |
sei die Rechte auf der Straße erfolgreich und habe sogar einige | |
Unterstützer in der Polizei und anderen Staatsorganen. Das könnte erklären, | |
warum sich die Polizei in Chemnitz lange zurückhielt und die Proteste | |
größer wurden. In Köthen dagegen war die Polizei präsent und dämmte die | |
Proteste ein. | |
In Wittenberg bleibt es aber auch deshalb ruhig, weil früh der Verdacht im | |
Raum steht, dass der Getötete Neonazi gewesen sei. Dazu passt, dass die | |
Begleiter von Sabri H. bei der Polizei angaben, Marcus Hempel habe sie | |
rassistisch beleidigt. Dann wird die Facebookseite von Hempel öffentlich, | |
sie existiert nach seinem Tod weiter. Ihm gefallen die rechtsextremen Bands | |
Landser und Nordfront, außerdem die Seite „Jugend wählt NPD“. Polizeilich | |
ist er nicht als rechtsextrem bekannt. Auch antifaschistischen Beobachtern | |
der Szene ist er kein Begriff. | |
Dass sein Sohn Neonazi war, streitet Karsten Hempel ab. Hempels Freundin, | |
die bei der Tat dabei war, eine Deutsch-Griechin, beschimpfte die | |
Teilnehmer bei der Nazidemo in Wittenberg. Eine Kamera des MDR hält fest, | |
wie sie auf einen Mann einredet: „Das ist doch der letzte Scheiß, den ihr | |
hier macht. Kannte einer von euch den?“ | |
## Altparteien spielen mit ihren Handys | |
Während die demokratische Öffentlichkeit sich mit dem Schicksal von Hempel | |
und seiner Familie schwertut, versucht die AfD, den Fall für ihre Zwecke zu | |
nutzen. Sie beantragt im Mai eine Aussprache im Magdeburger Landtag, der | |
Titel: „Gerechtigkeit für Marcus H.“ Der Abgeordnete Mario Lehmann | |
behauptet dort, der Tod sei „gedeckelt“ worden. Die Tat störe die | |
„Zuwanderungslobby“ beim „Geldverdienen“. Der Tod von Marcus Hempel zei… | |
dass die Bundesrepublik „ideologisch verseucht“ sei. | |
Karsten Hempel sitzt auf der Tribüne und hört zu. Eingeladen wurde er von | |
der AfD-Fraktion. „Das war die größte Demütigung in meinem Leben“, sagt … | |
danach. Die Abgeordneten der „Altparteien“ hätten geflachst und mit ihren | |
Handys gespielt, der Staatssekretär habe in seinem Stuhl gehangen, als er | |
die Fragen beantwortete. Im Protokoll der Sitzung liest sich das so: | |
„Heiterkeit bei der Linken“ – „Lachen bei der SPD und bei den Grünen�… | |
Über die Ausfälle der AfD spricht Karsten Hempel nicht. Er sagt, er stehe | |
keiner Partei nahe. Aber er gibt dem rechten Netzwerk Politically Incorrect | |
ein Interview, in dem er sagt, dass er bei einer Demonstration der rechten | |
Bewegung „Kandel ist überall“ über den Tod seines Sohnes gesprochen habe. | |
Erst vor Kurzem veröffentlicht das rechte Netzwerk einprozent.de ein Video | |
mit der Botschaft „Chemnitz war kein Einzelfall“ über den Tod von Marcus | |
Hempel, es wird hundertfach in sozialen Netzwerken geteilt. Auch Hempels | |
Vater kommt zu Wort, im Video sagt er: „Es geht einfach um die Art und | |
Weise, wie dieser Staat damit umgegangen ist, nicht dass es ein | |
Asylsuchender war.“ | |
## Der Fall wird der Staatsanwaltschaft entzogen | |
Karsten Hempel bestreitet, dass er politisch rechts steht. Vielleicht hätte | |
er sich nicht die falschen Unterstützer gesucht, hätte er sich nicht | |
alleingelassen gefühlt. Aber spielt das überhaupt eine Rolle für die Fehler | |
der Staatsanwaltschaft und das Desinteresse der Öffentlichkeit? | |
Im April passiert etwas Ungewöhnliches. Der Fall wird der | |
Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau entzogen und von der Staatsanwaltschaft | |
Magdeburg übernommen. Offiziell wird das mit dem Umzug des Tatverdächtigen | |
begründet. Dabei gilt in Deutschland eigentlich das Tatortprinzip. Doch | |
weil Sabri H. bei der Tat noch minderjährig war, kann die zuständige | |
Staatsanwaltschaft wechseln – zwingend notwendig ist das nicht. | |
Wurde der Fall entzogen, weil die Pressemitteilung fehlerhaft war? Die | |
Staatsanwaltschaft Magdeburg bestreitet das. Unbestritten ist aber, dass | |
der Fall für die Justizministerin Anne-Marie Keding von der CDU seit dem | |
Auftritt vor dem Landtag eine politische Dimension hat. | |
Im September gibt die Staatsanwaltschaft Magdeburg an, dass weiterermittelt | |
werde. Ob das Verfahren eingestellt oder Anklage erhoben werde, sei noch | |
nicht entschieden. Dabei schrieb die Polizei schon im März in einem | |
internen Vermerk, dass es keine weiteren Anhaltspunkte für Ermittlungen | |
gebe. | |
## An den Namen des Opfers erinnert er sich kaum | |
Es ist Mitte September, und Hempel ist gerade auf dem Weg zum Friedhof, als | |
er ans Telefon geht. Ob es etwas Neues gebe? Hempel verneint. Dann erzählt | |
er, dass sein Sohn heute 31 Jahre alt geworden wäre. Seine Stimme stockt, | |
er fängt an zu weinen. | |
Sabri H. lebt heute in Magdeburg, mit seinen Eltern und Geschwistern, die | |
er wenige Monate vor der Tat im Rahmen des Familiennachzugs nach | |
Deutschland holen durfte. Er macht eine Ausbildung zum Autolackierer und | |
ist im Fußballverein. | |
Am Telefon bestreitet er, dass er Marcus Hempel vor der Tat gekannt habe. | |
Und der „Stinkefinger“ hätte nicht Hempel, sondern seinen Freunden | |
gegolten. Er sei nach dem Freitagsgebet zum Einkaufszentrum gekommen, um | |
sich mit Freunden zu treffen. Es tue ihm leid, was passiert sei. „Aber wenn | |
man geschlagen wird, muss man sich wehren.“ Besonders zu belasten scheint | |
ihn die Tat nicht. „Das ist passiert, das ist das Leben.“ An den Namen des | |
Opfers kann er sich nicht mehr genau erinnern. | |
Nach Deutschland gekommen war Sabri H. im Sommer 2015. Er lebte lange in | |
einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Pratau. | |
Seine ehemaligen Betreuer erkannten keine Anzeichen für eine zunehmende | |
Gewaltbereitschaft bei ihm. Ausreichend Plätze für psychologische Betreuung | |
gebe es aber nicht. | |
## Es fängt an zu brodeln | |
Die Bewohner von Pratau seien den Flüchtlingen oft feindlich begegnet, | |
hätten immer wieder die Luft aus ihren Fahrrädern gelassen. Sabri H. | |
erzählt von einem betrunkenen Nachbarn, der ihn geschlagen habe. Er habe | |
sich gewehrt, deshalb die Anzeige wegen Körperverletzung. | |
Für den ersten Todestag an diesem Samstag hat die AfD-Fraktion | |
Sachsen-Anhalt zu einer Kundgebung aufgerufen, zu der mehrere Abgeordnete | |
und auch der Fraktionsvorsitzende aus Magdeburg anreisen. In der | |
Geschäftsstelle der Partei in Wittenberg stapeln sich die Flyer. „Eiskalte | |
Hinrichtung“ nennt die AfD die Tat und fordert die Justizministerin zum | |
Rücktritt auf. Auf dem Flyer sieht man ein Foto, es zeigt eine Blutlache | |
auf dem Boden. Es ist kein Foto vom Tatort, sondern willkürlich ausgewählt. | |
In der AfD ist man sicher: „Wäre dieser Fall heute passiert, gäbe es hier | |
so etwas wie in Köthen.“ | |
Schon Anfang September, eine Woche nach dem Mob in Chemnitz, waren 300 | |
Demonstranten in Wittenberg auf der Straße. „Warum dauern die Ermittlungen | |
so lange? Soll hier etwas unter den Teppich gekehrt werden?“, fragte ein | |
AfD-Redner und sagte, dass überhaupt noch ermittelt werde, sei seiner | |
Partei zu verdanken. In einer Nebenstraße protestierten 60 Menschen gegen | |
die Kundgebung. Der Reporter der Lokalzeitung sagt dazu später: „Hier fängt | |
es an zu brodeln.“ | |
29 Sep 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Urteil-nach-Mord-in-Kandel/!5532807 | |
[2] /Freiburger-Mord-Prozess-gegen-Hussein-K/!5453135 | |
[3] /Todesfall-bei-Stadtfest-in-Chemnitz/!5530703 | |
[4] /Analyse-zur-Neonazi-Demo-in-Koethen/!5535963 | |
## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
## TAGS | |
Chemnitz | |
Köthen | |
Kandel | |
Rechtsextremismus | |
Minderjährige Geflüchtete | |
Schwerpunkt Landtagswahlen | |
Pro Chemnitz | |
Chemnitz | |
Anti-Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Anti-Rassismus | |
Demonstrationen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Buch eines sächsischen Bürgermeisters: Abschied von der res publica | |
„Wir sollten uns empören“: Dirk Neubauer ist SPD-Bürgermeister in Sachsen. | |
Ein Job, der Stoff für ein Buch bietet. | |
Terrorrazzia in Chemnitz: Rechte Hools und ein Bekannter | |
Bei der Terrorrazzia in Chemnitz stoßen die Ermittler auf einschlägig | |
Bekannte, nicht aber auf rechte Szenegrößen. Bis auf einen. | |
Rechtsextreme Szene in Chemnitz: Mehrere Männer festgenommen | |
Die Bundesanwaltschaft nimmt sechs Neonazis nach den Chemnitz-Randalen | |
fest. Sie sollen eine rechte Terror-Gruppe gebildet haben. | |
Antirassistische Demo in Hamburg: Tennis gegen rechts | |
20.000 Menschen demonstrierten am Samstag gegen Rassismus. Mehr als 450 | |
linke Gruppen aus ganz Deutschland kamen zusammen. | |
Organisatoren zu „Welcome United“-Demo: „Das Nationale unterlaufen“ | |
Tausende Menschen wollen zur antirassistischen Demo in Hamburg kommen. Ein | |
Gespräch über die Bewegung gegen Rechts und ihre Veränderung seit den 90er | |
Jahren. | |
Rapperin über „We'll come united“-Parade: „Wir sagen, es reicht!“ | |
Zur „We’ll come united“-Parade gegen Rassismus werden am Samstag in Hambu… | |
25.000 Leute erwartet. Asmara Marap über Motivation und Mobilisierung. | |
Demonstration #Unteilbar in Berlin: Streit um die deutsche Flagge | |
Am 13. Oktober wollen Tausende für Solidarität statt Ausgrenzung | |
demonstrieren – einige allerdings mit Deutschlandfahne. Das stößt auf | |
Kritik. |