| # taz.de -- Instrumentalisierung von Todesfällen: Rechter Haken ohne Sturm | |
| > Vor einem Jahr starb in Wittenberg ein Deutscher bei einem Streit mit | |
| > einem Syrer. Bundesweite Aufmerksamkeit fehlte – wieso? | |
| Bild: Noch hängt am Tatort keine Gedenktafel, die Stadt will die Ermittlungen … | |
| Wittenberg taz | Das Bild der Überwachungskamera am Eingang des | |
| Einkaufszentrums Arsenal in Wittenberg ist scharf und in Farbe. Am | |
| Nachmittag des 29. September 2017, ein Freitag, ist viel Betrieb im | |
| Arsenal, die Leute gehen vor dem langen Wochenende einkaufen, andere ein | |
| Eis essen. | |
| Um 14.54 Uhr läuft Marcus Hempel mit einer Freundin ins Bild der | |
| Überwachungskamera. Sie wollen sich im Einkaufszentrum das Videospiel | |
| „Fifa 18“ kaufen. Die beiden schieben ihre Fahrräder auf den gepflasterten | |
| Vorplatz und schließen ab. Am Eingang treffen sie auf eine Gruppe von vier | |
| jungen Männern. | |
| Es ist ein Video, das einen nicht mehr loslässt. Das zeigt, wie schnell es | |
| vorbei sein kann. Drei Schläge, ein Sturz. Der Kopf von Marcus Hempel | |
| schlägt auf dem Boden auf, die Glasflasche in seiner Hand zerbricht. Mit | |
| dem Rettungswagen wird er ins Paul-Gerhardt-Stift gebracht, dann mit dem | |
| Hubschrauber ins Klinikum Dessau. Um 23.40 Uhr ist er tot, gestorben an den | |
| Blutungen in seinem Gehirn. | |
| Immer, wenn in den vergangenen Monaten Flüchtlinge am Tod von Deutschen | |
| direkt oder indirekt beteiligt waren, gab es einen bundesweiten Aufschrei: | |
| Die Todesfälle [1][in Kandel], [2][Freiburg] und zuletzt [3][in Chemnitz] | |
| [4][und Köthen] wurden über Nacht zu medialen Großereignissen. Der Tod von | |
| Marcus Hempel in Wittenberg nicht. | |
| ## Die Umstände für einen Aufschrei sind gegeben | |
| Dabei sind die Umstände dafür gegeben: Das Opfer ein Deutscher, und Sabri | |
| H., der zugeschlagen hat, ein Syrer, der 2015 als unbegleiteter | |
| minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen war. Zudem war Sabri H. | |
| schon mal durch eine Schlägerei aufgefallen. Trotzdem berichten fast | |
| ausschließlich lokale Medien über den Fall. | |
| Drei Tage nach der Tat, am Montag, den 2. Oktober, verschickt die | |
| Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau eine Pressemitteilung. Es ist ein | |
| Brückentag, deswegen ist nur eine Staatsanwältin im Dienst. Die | |
| Pressemitteilung schließt mit einem nüchternen Satz: „Aufgrund der | |
| bisherigen Ermittlungen dürfte derzeit von einer Notwehrhandlung (mit | |
| tragischen Folgen) auszugehen sein.“ | |
| Die taz hat die Ermittlungsakte und das Überwachungsvideo einsehen können, | |
| das die Tat zeigt. Die Recherche weckt Zweifel an der Darstellung der | |
| Staatsanwaltschaft. | |
| Im Frühjahr 2018, sieben Monate nach der Tat, sitzt Karsten Hempel in | |
| seiner Tiefbaufirma in einem grauen Gewerbegebiet außerhalb Wittenbergs. | |
| Draußen stehen die Bagger und Radlader, drinnen ist Hempel allein am großen | |
| Konferenztisch, er setzt sich eine Lesebrille auf und hebt den Kopf. „Ich | |
| habe immer an den Rechtsstaat geglaubt“, sagt er. Jetzt hat er den Glauben | |
| verloren. | |
| ## Ein Kampf für eine Anklage | |
| Der Rucksack, mit dem Hempel seit Monaten schon herumläuft, ist so voll, | |
| dass sich der Reißverschluss nicht mehr schließen lässt. Darin Aktenordner | |
| mit der Ermittlungsakte und seine eigenen Aufzeichnungen, akribisch | |
| abgeheftet. Er hat bunte Post-its zwischen die Seiten geklebt. | |
| Hempel kämpft dafür, dass gegen Sabri H. Anklage erhoben wird. Nach dem Tod | |
| von Marcus Hempel wird Sabri H. vernommen, aber keine Untersuchungshaft | |
| beantragt. Die erste Einschätzung der Staatsanwaltschaft ist, dass Sabri H. | |
| in Notwehr handelte. In diesem Fall muss sie keine Anklage erheben. | |
| Hempel hat sich das Video, in dem sein Sohn tödlich verletzt wird, über | |
| hundert Mal angeschaut. Er hat eine Mission. Das hilft ihm, das Unfassbare | |
| zu bearbeiten. | |
| Der Zeitstempel des Videos zeigt 14.54 Uhr. Sabri H. steht mit drei | |
| Freunden vor dem Eingang des Einkaufszentrums und wartet. Marcus Hempel | |
| läuft mit einer Freundin ins Bild. Sabri H. geht an den beiden vorbei und | |
| zeigt ihnen den Mittelfinger. Das Video hat keinen Ton, aber zu diesem | |
| Zeitpunkt reagieren weder Hempel noch seine Freundin auf ihn. Sabri H. | |
| dreht wieder um und wartet in einigen Metern Entfernung. | |
| ## Drei Schläge, dann hält er inne | |
| Nachdem sie ihre Fahrräder angeschlossen haben, gehen Hempel und seine | |
| Freundin zum Eingang des Einkaufszentrums. Plötzlich drehen sie um und | |
| gehen zur Gruppe der Syrer. Sie streiten, Hempels Freundin steht zwischen | |
| den Männern und gestikuliert. Sabri H. schubst, Hempel schubst zurück. | |
| Wieder stellt sich Hempels Freundin dazwischen. Dann schlägt Hempel als | |
| Erster zu, über die Schulter seiner Begleiterin, und trifft Sabri H. im | |
| Gesicht. Es sieht nicht nach einem platzierten Schlag aus. | |
| Sabri H. reagiert schnell. Er schlägt zurück, Hempel taumelt nach hinten. | |
| Sabri H. schlägt noch mal zu, Hempel wehrt sich nicht, er taumelt weiter, | |
| etwa drei Meter über den Vorplatz. Dann schlägt Sabri H. ein drittes Mal | |
| zu. Hempel schlägt mit dem Kopf auf und bleibt liegen. Sabri H. geht auf | |
| den am Boden Liegenden zu, setzt zu einem weiteren Schlag an, hält dann | |
| aber inne. Er lässt von ihm ab, hebt seine Kappe auf, die auf den Boden | |
| gefallen ist, und verlässt den Tatort. | |
| In der Pressemitteilung schildert die Staatsanwältin den Vorgang anders. | |
| Demnach sei die Aggression von Marcus Hempel ausgegangen: „Im weiteren | |
| Verlauf versetzte der 30-Jährige dem Syrer erneut einen Faustschlag, | |
| woraufhin Letzterer unmittelbar reagierte und den 30-Jährigen seinerseits | |
| mit einem Faustschlag am Kopf traf.“ | |
| Laut Staatsanwaltschaft soll Hempel zweimal zugeschlagen haben, Sabri H. | |
| einmal. Im Video sieht man aber nur einen Schlag von Hempel und drei | |
| Schläge von Sabri H. Dass dieser als Erster schubst, erwähnt die | |
| Staatsanwaltschaft nicht, genauso wenig, dass Sabri H. Hempel vorher | |
| möglicherweise erkennt und den Mittelfinger zeigt. | |
| ## Polizist schrieb richtigen Bericht | |
| Schon am Samstag, einen Tag nach der Tat und zwei Tage vor der | |
| Pressemitteilung, wertet ein Polizist das Überwachungsvideo aus. Das geht | |
| aus der Ermittlungsakte hervor. Der Polizist schreibt einen Bericht, er | |
| zählt die Schläge richtig, er schreibt auch, dass zuerst Sabri H. schubste, | |
| dass Hempel nur einmal zuschlug und Sabri H. dreimal. Warum die | |
| Staatsanwältin die Tat nach dem Polizeibericht anders darstellt, ist | |
| unklar. | |
| In der Wittenberger Polizei wundert man sich über das Verhalten der | |
| Staatsanwaltschaft. „Skurril“ sei die Pressemitteilung gewesen. Öffentlich | |
| sprechen will aber niemand. Aus Kreisen der Polizei heißt es, man sei „sehr | |
| sauer“. Immer wieder würden Bürger die Beamten auf den Todesfall | |
| ansprechen. | |
| Zudem sei es seit Jahren üblich, dass Polizei und Staatsanwaltschaft eine | |
| gemeinsame Pressemitteilung veröffentlichen. Die Staatsanwaltschaft | |
| Dessau-Roßlau bestätigt dies auf Anfrage der taz. Warum es in diesem Fall | |
| anders gehandhabt wurde, wollte die Staatsanwaltschaft nicht herausfinden. | |
| Das sei „zu zeitaufwendig“. Dass der Tatverlauf anders als im Video | |
| dargestellt wird, begründet die Staatsanwaltschaft damit, dass eine | |
| Pressemitteilung nur Wesentliches mitteile. | |
| Was ist Notwehr? Das ist juristisch nicht eindeutig. Dass Sabri H. häufiger | |
| und heftiger zuschlug als Marcus Hempel, beweist nicht, dass er nicht aus | |
| Notwehr handelte. Auch ein Gegenangriff kann juristisch unter Notwehr | |
| fallen. Aber Sabri H. wurde von mehreren Freunden begleitet, deshalb ist | |
| zweifelhaft, ob er sich so heftig wehren musste. Zudem könnte sein Motiv | |
| eine Rolle spielen: Wenn Sabri H. aus Hass oder Rachsucht gehandelt haben | |
| sollte, wäre Notwehr unwahrscheinlich. Klären kann das nur ein Gericht. | |
| Aber dafür bräuchte es eine Anklage. | |
| ## Streit wegen eines Hundes | |
| Später agiert die Staatsanwaltschaft defensiver. Die Ermittlungen seien | |
| nicht abgeschlossen, man ermittle wegen des Verdachts auf Körperverletzung | |
| mit Todesfolge. Dabei wurde nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit die | |
| Notwehrthese vertreten, sondern auch in der Ermittlungsakte. Dort heißt es | |
| unter anderem, eine Altersfeststellung bei Sabri H. sei nicht nötig, da von | |
| Notwehr ausgegangen werde. | |
| Karsten Hempel weist die Staatsanwaltschaft immer wieder darauf hin, dass | |
| sich sein Sohn und Sabri H. gekannt hätten. In Pratau am Rande Wittenbergs | |
| wohnten beide nur wenige Häuser voneinander entfernt. Die Freundin von | |
| Marcus Hempel sagte der Polizei, dass Marcus auf einem Spielplatz in der | |
| Nähe der Häuser Streit mit einem Syrer gehabt hätte, wegen eines Hundes. | |
| Falls es sich bei dem Syrer um Sabri H. gehandelt hat, könnte das erklären, | |
| warum er vor dem Einkaufszentrum Marcus Hempel den Mittelfinger zeigt. Dann | |
| hätte Sabri H. ein Motiv. | |
| Im Februar bekommt Karsten Hempel einen Termin beim Wittenberger | |
| Oberbürgermeister, dem parteilosen Torsten Zugehör. Er bittet darum, an dem | |
| Ort, an dem sein Sohn starb, eine Plakette anbringen zu dürfen, nichts | |
| Großes, zehn mal zehn Zentimeter. Zugehör habe ihm versprochen, dass sich | |
| der Ältestenrat kümmern werde, sagt Hempel, im März oder April gebe es eine | |
| Entscheidung. Hempel wartet bis heute. | |
| Der Pressesprecher des Bürgermeisters sagt dazu auf Nachfrage der taz, dass | |
| der Eigentümer einem Gedenkstein zustimmen müsse. Die Managerin des | |
| Einkaufszentrums dagegen sagt, dass der Tatort städtisches Gebiet sei. | |
| ## Neonazis werden aufmerksam | |
| Karsten Hempel fühlt sich allein gelassen, von der Justiz und der | |
| Wittenberger Politik. Dafür werden in Wittenberg lokale Neonazis auf den | |
| Tod seines Sohns aufmerksam. Ein Bericht des MDR zeigt, wie drei Wochen | |
| nach der Tat einige Dutzend Rechte durch die Innenstadt ziehen, am | |
| Einkaufszentrum vorbei, vor dem Marcus Hempel starb. „Gerechtigkeit“ | |
| fordern sie und rufen: „Überfremdung stoppen!“ | |
| Die lokale Mitteldeutsche Zeitung wird mit Nachrichten überschüttet, warum | |
| sie die Tat verschweigen würde. Als die Zeitung doch berichtet, muss der | |
| Online-Kommentarbereich unter dem Text zwischenzeitlich abgeschaltet | |
| werden. | |
| Nach der ersten Aufregung aber wird es in Wittenberg wieder ruhig, der Fall | |
| bekommt überregional keine Aufmerksamkeit. Wittenberg wird kein Hashtag. | |
| Warum? | |
| Wittenberg, das ist so etwas wie das Potsdam von Sachsen-Anhalt. Hier | |
| arbeitet ein liberales und privilegiertes Bürgertum, rund um die | |
| evangelische Akademie gibt es zahlreiche christliche Einrichtungen. Es gibt | |
| eine aktive Zivilgesellschaft, Zehntausende amerikanische Touristen kommen | |
| im Jahr, das prägt das Klima der Stadt. | |
| ## Fälle werden instrumentalisiert | |
| Ein Anruf bei David Begrich, Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Verein | |
| Miteinander e.V. Sucht man nach einem Experten für Neonazis in | |
| Sachsen-Anhalt, dann sagen alle: Frag Begrich. | |
| Begrich hat mit seinen Kollegen analysiert, wann aus einem Einzelfall ein | |
| Erfolg der rechten Szene wird, „Mobilizing Resources“ nennt er das. Begrich | |
| ist überzeugt, dass die AfD und die außerparlamentarische Rechte gezielt | |
| nach Fällen wie in Chemnitz und in Wittenberg suchen, um diese zu | |
| instrumentalisieren, spricht von „Eventscouts“ und sagt: „Die Rechte ist | |
| gerade in einem Rauschzustand.“ | |
| Nötig seien drei Bedingungen: Erstens brauche es einen Anlass, der | |
| skandalisiert werden könne. Zweitens eine handlungsfähige rechte Struktur. | |
| In Chemnitz waren das die organisierten Hooligans des Chemnitzer FC, die am | |
| ersten Tag den Mob anführten. „Es reicht aber nicht, die eigene Crowd auf | |
| die Straße zu bringen“, sagt Begrich. Deshalb brauche es drittens Personen, | |
| die ein bürgerliches Publikum ansprechen. Das rechte Bürgerbündnis Pro | |
| Chemnitz legitimierte die Demonstration für Chemnitzer, die sich selbst | |
| nicht als politisch rechts verstehen. | |
| Zweitens und drittens fehlten in Wittenberg. 86 Teilnehmer zählten | |
| Beobachter bei der rechten Demonstration nach dem Tod von Marcus Hempel, | |
| sie erkannten Neonazikader von der NPD und Thügida auf der Straße, von der | |
| Volksbewegung Sachsen-Anhalt und der sogenannten GHC Crew. Es sind die | |
| gleichen Gruppen, die ein knappes Jahr später erfolgreich nach Köthen | |
| mobilisieren sollten. In Wittenberg blieben sie unter sich. | |
| ## Einst eine Hochburg | |
| Seit den neunziger Jahren beobachtet Begrich die Neonazi-Szene in | |
| Ostdeutschland. Damals war Wittenberg eine Hochburg, die Kameradschaft | |
| Elbe-Ost hatte das Sagen. Seitdem sei die Szene kleiner geworden. Für viele | |
| organisierte Neonazis in Sachsen-Anhalt, etwa in Magdeburg, ist Wittenberg | |
| weit weg, fast in Brandenburg. Nur selten beteiligen sie sich an | |
| Kundgebungen. Bei Köthen war das anders: Die Stadt liegt in der Nähe von | |
| Magdeburg, an der Grenze zu Sachsen und Thüringen. Auch die AfD ist hier | |
| aktiver als in Wittenberg. | |
| Begrich sieht noch einen Unterschied, es ist ein Unterschied in der | |
| politischen Kultur: In Sachsen-Anhalt sei die AfD zwar mit fast 25 Prozent | |
| sehr stark im Parlament, aber schwach auf der Straße. In Sachsen dagegen | |
| sei die Rechte auf der Straße erfolgreich und habe sogar einige | |
| Unterstützer in der Polizei und anderen Staatsorganen. Das könnte erklären, | |
| warum sich die Polizei in Chemnitz lange zurückhielt und die Proteste | |
| größer wurden. In Köthen dagegen war die Polizei präsent und dämmte die | |
| Proteste ein. | |
| In Wittenberg bleibt es aber auch deshalb ruhig, weil früh der Verdacht im | |
| Raum steht, dass der Getötete Neonazi gewesen sei. Dazu passt, dass die | |
| Begleiter von Sabri H. bei der Polizei angaben, Marcus Hempel habe sie | |
| rassistisch beleidigt. Dann wird die Facebookseite von Hempel öffentlich, | |
| sie existiert nach seinem Tod weiter. Ihm gefallen die rechtsextremen Bands | |
| Landser und Nordfront, außerdem die Seite „Jugend wählt NPD“. Polizeilich | |
| ist er nicht als rechtsextrem bekannt. Auch antifaschistischen Beobachtern | |
| der Szene ist er kein Begriff. | |
| Dass sein Sohn Neonazi war, streitet Karsten Hempel ab. Hempels Freundin, | |
| die bei der Tat dabei war, eine Deutsch-Griechin, beschimpfte die | |
| Teilnehmer bei der Nazidemo in Wittenberg. Eine Kamera des MDR hält fest, | |
| wie sie auf einen Mann einredet: „Das ist doch der letzte Scheiß, den ihr | |
| hier macht. Kannte einer von euch den?“ | |
| ## Altparteien spielen mit ihren Handys | |
| Während die demokratische Öffentlichkeit sich mit dem Schicksal von Hempel | |
| und seiner Familie schwertut, versucht die AfD, den Fall für ihre Zwecke zu | |
| nutzen. Sie beantragt im Mai eine Aussprache im Magdeburger Landtag, der | |
| Titel: „Gerechtigkeit für Marcus H.“ Der Abgeordnete Mario Lehmann | |
| behauptet dort, der Tod sei „gedeckelt“ worden. Die Tat störe die | |
| „Zuwanderungslobby“ beim „Geldverdienen“. Der Tod von Marcus Hempel zei… | |
| dass die Bundesrepublik „ideologisch verseucht“ sei. | |
| Karsten Hempel sitzt auf der Tribüne und hört zu. Eingeladen wurde er von | |
| der AfD-Fraktion. „Das war die größte Demütigung in meinem Leben“, sagt … | |
| danach. Die Abgeordneten der „Altparteien“ hätten geflachst und mit ihren | |
| Handys gespielt, der Staatssekretär habe in seinem Stuhl gehangen, als er | |
| die Fragen beantwortete. Im Protokoll der Sitzung liest sich das so: | |
| „Heiterkeit bei der Linken“ – „Lachen bei der SPD und bei den Grünen�… | |
| Über die Ausfälle der AfD spricht Karsten Hempel nicht. Er sagt, er stehe | |
| keiner Partei nahe. Aber er gibt dem rechten Netzwerk Politically Incorrect | |
| ein Interview, in dem er sagt, dass er bei einer Demonstration der rechten | |
| Bewegung „Kandel ist überall“ über den Tod seines Sohnes gesprochen habe. | |
| Erst vor Kurzem veröffentlicht das rechte Netzwerk einprozent.de ein Video | |
| mit der Botschaft „Chemnitz war kein Einzelfall“ über den Tod von Marcus | |
| Hempel, es wird hundertfach in sozialen Netzwerken geteilt. Auch Hempels | |
| Vater kommt zu Wort, im Video sagt er: „Es geht einfach um die Art und | |
| Weise, wie dieser Staat damit umgegangen ist, nicht dass es ein | |
| Asylsuchender war.“ | |
| ## Der Fall wird der Staatsanwaltschaft entzogen | |
| Karsten Hempel bestreitet, dass er politisch rechts steht. Vielleicht hätte | |
| er sich nicht die falschen Unterstützer gesucht, hätte er sich nicht | |
| alleingelassen gefühlt. Aber spielt das überhaupt eine Rolle für die Fehler | |
| der Staatsanwaltschaft und das Desinteresse der Öffentlichkeit? | |
| Im April passiert etwas Ungewöhnliches. Der Fall wird der | |
| Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau entzogen und von der Staatsanwaltschaft | |
| Magdeburg übernommen. Offiziell wird das mit dem Umzug des Tatverdächtigen | |
| begründet. Dabei gilt in Deutschland eigentlich das Tatortprinzip. Doch | |
| weil Sabri H. bei der Tat noch minderjährig war, kann die zuständige | |
| Staatsanwaltschaft wechseln – zwingend notwendig ist das nicht. | |
| Wurde der Fall entzogen, weil die Pressemitteilung fehlerhaft war? Die | |
| Staatsanwaltschaft Magdeburg bestreitet das. Unbestritten ist aber, dass | |
| der Fall für die Justizministerin Anne-Marie Keding von der CDU seit dem | |
| Auftritt vor dem Landtag eine politische Dimension hat. | |
| Im September gibt die Staatsanwaltschaft Magdeburg an, dass weiterermittelt | |
| werde. Ob das Verfahren eingestellt oder Anklage erhoben werde, sei noch | |
| nicht entschieden. Dabei schrieb die Polizei schon im März in einem | |
| internen Vermerk, dass es keine weiteren Anhaltspunkte für Ermittlungen | |
| gebe. | |
| ## An den Namen des Opfers erinnert er sich kaum | |
| Es ist Mitte September, und Hempel ist gerade auf dem Weg zum Friedhof, als | |
| er ans Telefon geht. Ob es etwas Neues gebe? Hempel verneint. Dann erzählt | |
| er, dass sein Sohn heute 31 Jahre alt geworden wäre. Seine Stimme stockt, | |
| er fängt an zu weinen. | |
| Sabri H. lebt heute in Magdeburg, mit seinen Eltern und Geschwistern, die | |
| er wenige Monate vor der Tat im Rahmen des Familiennachzugs nach | |
| Deutschland holen durfte. Er macht eine Ausbildung zum Autolackierer und | |
| ist im Fußballverein. | |
| Am Telefon bestreitet er, dass er Marcus Hempel vor der Tat gekannt habe. | |
| Und der „Stinkefinger“ hätte nicht Hempel, sondern seinen Freunden | |
| gegolten. Er sei nach dem Freitagsgebet zum Einkaufszentrum gekommen, um | |
| sich mit Freunden zu treffen. Es tue ihm leid, was passiert sei. „Aber wenn | |
| man geschlagen wird, muss man sich wehren.“ Besonders zu belasten scheint | |
| ihn die Tat nicht. „Das ist passiert, das ist das Leben.“ An den Namen des | |
| Opfers kann er sich nicht mehr genau erinnern. | |
| Nach Deutschland gekommen war Sabri H. im Sommer 2015. Er lebte lange in | |
| einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Pratau. | |
| Seine ehemaligen Betreuer erkannten keine Anzeichen für eine zunehmende | |
| Gewaltbereitschaft bei ihm. Ausreichend Plätze für psychologische Betreuung | |
| gebe es aber nicht. | |
| ## Es fängt an zu brodeln | |
| Die Bewohner von Pratau seien den Flüchtlingen oft feindlich begegnet, | |
| hätten immer wieder die Luft aus ihren Fahrrädern gelassen. Sabri H. | |
| erzählt von einem betrunkenen Nachbarn, der ihn geschlagen habe. Er habe | |
| sich gewehrt, deshalb die Anzeige wegen Körperverletzung. | |
| Für den ersten Todestag an diesem Samstag hat die AfD-Fraktion | |
| Sachsen-Anhalt zu einer Kundgebung aufgerufen, zu der mehrere Abgeordnete | |
| und auch der Fraktionsvorsitzende aus Magdeburg anreisen. In der | |
| Geschäftsstelle der Partei in Wittenberg stapeln sich die Flyer. „Eiskalte | |
| Hinrichtung“ nennt die AfD die Tat und fordert die Justizministerin zum | |
| Rücktritt auf. Auf dem Flyer sieht man ein Foto, es zeigt eine Blutlache | |
| auf dem Boden. Es ist kein Foto vom Tatort, sondern willkürlich ausgewählt. | |
| In der AfD ist man sicher: „Wäre dieser Fall heute passiert, gäbe es hier | |
| so etwas wie in Köthen.“ | |
| Schon Anfang September, eine Woche nach dem Mob in Chemnitz, waren 300 | |
| Demonstranten in Wittenberg auf der Straße. „Warum dauern die Ermittlungen | |
| so lange? Soll hier etwas unter den Teppich gekehrt werden?“, fragte ein | |
| AfD-Redner und sagte, dass überhaupt noch ermittelt werde, sei seiner | |
| Partei zu verdanken. In einer Nebenstraße protestierten 60 Menschen gegen | |
| die Kundgebung. Der Reporter der Lokalzeitung sagt dazu später: „Hier fängt | |
| es an zu brodeln.“ | |
| 29 Sep 2018 | |
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