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# taz.de -- Instrumentalisierung von Todesfällen: Rechter Haken ohne Sturm
> Vor einem Jahr starb in Wittenberg ein Deutscher bei einem Streit mit
> einem Syrer. Bundesweite Aufmerksamkeit fehlte – wieso?
Bild: Noch hängt am Tatort keine Gedenktafel, die Stadt will die Ermittlungen …
Wittenberg taz | Das Bild der Überwachungskamera am Eingang des
Einkaufszentrums Arsenal in Wittenberg ist scharf und in Farbe. Am
Nachmittag des 29. September 2017, ein Freitag, ist viel Betrieb im
Arsenal, die Leute gehen vor dem langen Wochenende einkaufen, andere ein
Eis essen.
Um 14.54 Uhr läuft Marcus Hempel mit einer Freundin ins Bild der
Überwachungskamera. Sie wollen sich im Einkaufszentrum das Videospiel
„Fifa 18“ kaufen. Die beiden schieben ihre Fahrräder auf den gepflasterten
Vorplatz und schließen ab. Am Eingang treffen sie auf eine Gruppe von vier
jungen Männern.
Es ist ein Video, das einen nicht mehr loslässt. Das zeigt, wie schnell es
vorbei sein kann. Drei Schläge, ein Sturz. Der Kopf von Marcus Hempel
schlägt auf dem Boden auf, die Glasflasche in seiner Hand zerbricht. Mit
dem Rettungswagen wird er ins Paul-Gerhardt-Stift gebracht, dann mit dem
Hubschrauber ins Klinikum Dessau. Um 23.40 Uhr ist er tot, gestorben an den
Blutungen in seinem Gehirn.
Immer, wenn in den vergangenen Monaten Flüchtlinge am Tod von Deutschen
direkt oder indirekt beteiligt waren, gab es einen bundesweiten Aufschrei:
Die Todesfälle [1][in Kandel], [2][Freiburg] und zuletzt [3][in Chemnitz]
[4][und Köthen] wurden über Nacht zu medialen Großereignissen. Der Tod von
Marcus Hempel in Wittenberg nicht.
## Die Umstände für einen Aufschrei sind gegeben
Dabei sind die Umstände dafür gegeben: Das Opfer ein Deutscher, und Sabri
H., der zugeschlagen hat, ein Syrer, der 2015 als unbegleiteter
minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen war. Zudem war Sabri H.
schon mal durch eine Schlägerei aufgefallen. Trotzdem berichten fast
ausschließlich lokale Medien über den Fall.
Drei Tage nach der Tat, am Montag, den 2. Oktober, verschickt die
Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau eine Pressemitteilung. Es ist ein
Brückentag, deswegen ist nur eine Staatsanwältin im Dienst. Die
Pressemitteilung schließt mit einem nüchternen Satz: „Aufgrund der
bisherigen Ermittlungen dürfte derzeit von einer Notwehrhandlung (mit
tragischen Folgen) auszugehen sein.“
Die taz hat die Ermittlungsakte und das Überwachungsvideo einsehen können,
das die Tat zeigt. Die Recherche weckt Zweifel an der Darstellung der
Staatsanwaltschaft.
Im Frühjahr 2018, sieben Monate nach der Tat, sitzt Karsten Hempel in
seiner Tiefbaufirma in einem grauen Gewerbegebiet außerhalb Wittenbergs.
Draußen stehen die Bagger und Radlader, drinnen ist Hempel allein am großen
Konferenztisch, er setzt sich eine Lesebrille auf und hebt den Kopf. „Ich
habe immer an den Rechtsstaat geglaubt“, sagt er. Jetzt hat er den Glauben
verloren.
## Ein Kampf für eine Anklage
Der Rucksack, mit dem Hempel seit Monaten schon herumläuft, ist so voll,
dass sich der Reißverschluss nicht mehr schließen lässt. Darin Aktenordner
mit der Ermittlungsakte und seine eigenen Aufzeichnungen, akribisch
abgeheftet. Er hat bunte Post-its zwischen die Seiten geklebt.
Hempel kämpft dafür, dass gegen Sabri H. Anklage erhoben wird. Nach dem Tod
von Marcus Hempel wird Sabri H. vernommen, aber keine Untersuchungshaft
beantragt. Die erste Einschätzung der Staatsanwaltschaft ist, dass Sabri H.
in Notwehr handelte. In diesem Fall muss sie keine Anklage erheben.
Hempel hat sich das Video, in dem sein Sohn tödlich verletzt wird, über
hundert Mal angeschaut. Er hat eine Mission. Das hilft ihm, das Unfassbare
zu bearbeiten.
Der Zeitstempel des Videos zeigt 14.54 Uhr. Sabri H. steht mit drei
Freunden vor dem Eingang des Einkaufszentrums und wartet. Marcus Hempel
läuft mit einer Freundin ins Bild. Sabri H. geht an den beiden vorbei und
zeigt ihnen den Mittelfinger. Das Video hat keinen Ton, aber zu diesem
Zeitpunkt reagieren weder Hempel noch seine Freundin auf ihn. Sabri H.
dreht wieder um und wartet in einigen Metern Entfernung.
## Drei Schläge, dann hält er inne
Nachdem sie ihre Fahrräder angeschlossen haben, gehen Hempel und seine
Freundin zum Eingang des Einkaufszentrums. Plötzlich drehen sie um und
gehen zur Gruppe der Syrer. Sie streiten, Hempels Freundin steht zwischen
den Männern und gestikuliert. Sabri H. schubst, Hempel schubst zurück.
Wieder stellt sich Hempels Freundin dazwischen. Dann schlägt Hempel als
Erster zu, über die Schulter seiner Begleiterin, und trifft Sabri H. im
Gesicht. Es sieht nicht nach einem platzierten Schlag aus.
Sabri H. reagiert schnell. Er schlägt zurück, Hempel taumelt nach hinten.
Sabri H. schlägt noch mal zu, Hempel wehrt sich nicht, er taumelt weiter,
etwa drei Meter über den Vorplatz. Dann schlägt Sabri H. ein drittes Mal
zu. Hempel schlägt mit dem Kopf auf und bleibt liegen. Sabri H. geht auf
den am Boden Liegenden zu, setzt zu einem weiteren Schlag an, hält dann
aber inne. Er lässt von ihm ab, hebt seine Kappe auf, die auf den Boden
gefallen ist, und verlässt den Tatort.
In der Pressemitteilung schildert die Staatsanwältin den Vorgang anders.
Demnach sei die Aggression von Marcus Hempel ausgegangen: „Im weiteren
Verlauf versetzte der 30-Jährige dem Syrer erneut einen Faustschlag,
woraufhin Letzterer unmittelbar reagierte und den 30-Jährigen seinerseits
mit einem Faustschlag am Kopf traf.“
Laut Staatsanwaltschaft soll Hempel zweimal zugeschlagen haben, Sabri H.
einmal. Im Video sieht man aber nur einen Schlag von Hempel und drei
Schläge von Sabri H. Dass dieser als Erster schubst, erwähnt die
Staatsanwaltschaft nicht, genauso wenig, dass Sabri H. Hempel vorher
möglicherweise erkennt und den Mittelfinger zeigt.
## Polizist schrieb richtigen Bericht
Schon am Samstag, einen Tag nach der Tat und zwei Tage vor der
Pressemitteilung, wertet ein Polizist das Überwachungsvideo aus. Das geht
aus der Ermittlungsakte hervor. Der Polizist schreibt einen Bericht, er
zählt die Schläge richtig, er schreibt auch, dass zuerst Sabri H. schubste,
dass Hempel nur einmal zuschlug und Sabri H. dreimal. Warum die
Staatsanwältin die Tat nach dem Polizeibericht anders darstellt, ist
unklar.
In der Wittenberger Polizei wundert man sich über das Verhalten der
Staatsanwaltschaft. „Skurril“ sei die Pressemitteilung gewesen. Öffentlich
sprechen will aber niemand. Aus Kreisen der Polizei heißt es, man sei „sehr
sauer“. Immer wieder würden Bürger die Beamten auf den Todesfall
ansprechen.
Zudem sei es seit Jahren üblich, dass Polizei und Staatsanwaltschaft eine
gemeinsame Pressemitteilung veröffentlichen. Die Staatsanwaltschaft
Dessau-Roßlau bestätigt dies auf Anfrage der taz. Warum es in diesem Fall
anders gehandhabt wurde, wollte die Staatsanwaltschaft nicht herausfinden.
Das sei „zu zeitaufwendig“. Dass der Tatverlauf anders als im Video
dargestellt wird, begründet die Staatsanwaltschaft damit, dass eine
Pressemitteilung nur Wesentliches mitteile.
Was ist Notwehr? Das ist juristisch nicht eindeutig. Dass Sabri H. häufiger
und heftiger zuschlug als Marcus Hempel, beweist nicht, dass er nicht aus
Notwehr handelte. Auch ein Gegenangriff kann juristisch unter Notwehr
fallen. Aber Sabri H. wurde von mehreren Freunden begleitet, deshalb ist
zweifelhaft, ob er sich so heftig wehren musste. Zudem könnte sein Motiv
eine Rolle spielen: Wenn Sabri H. aus Hass oder Rachsucht gehandelt haben
sollte, wäre Notwehr unwahrscheinlich. Klären kann das nur ein Gericht.
Aber dafür bräuchte es eine Anklage.
## Streit wegen eines Hundes
Später agiert die Staatsanwaltschaft defensiver. Die Ermittlungen seien
nicht abgeschlossen, man ermittle wegen des Verdachts auf Körperverletzung
mit Todesfolge. Dabei wurde nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit die
Notwehrthese vertreten, sondern auch in der Ermittlungsakte. Dort heißt es
unter anderem, eine Altersfeststellung bei Sabri H. sei nicht nötig, da von
Notwehr ausgegangen werde.
Karsten Hempel weist die Staatsanwaltschaft immer wieder darauf hin, dass
sich sein Sohn und Sabri H. gekannt hätten. In Pratau am Rande Wittenbergs
wohnten beide nur wenige Häuser voneinander entfernt. Die Freundin von
Marcus Hempel sagte der Polizei, dass Marcus auf einem Spielplatz in der
Nähe der Häuser Streit mit einem Syrer gehabt hätte, wegen eines Hundes.
Falls es sich bei dem Syrer um Sabri H. gehandelt hat, könnte das erklären,
warum er vor dem Einkaufszentrum Marcus Hempel den Mittelfinger zeigt. Dann
hätte Sabri H. ein Motiv.
Im Februar bekommt Karsten Hempel einen Termin beim Wittenberger
Oberbürgermeister, dem parteilosen Torsten Zugehör. Er bittet darum, an dem
Ort, an dem sein Sohn starb, eine Plakette anbringen zu dürfen, nichts
Großes, zehn mal zehn Zentimeter. Zugehör habe ihm versprochen, dass sich
der Ältestenrat kümmern werde, sagt Hempel, im März oder April gebe es eine
Entscheidung. Hempel wartet bis heute.
Der Pressesprecher des Bürgermeisters sagt dazu auf Nachfrage der taz, dass
der Eigentümer einem Gedenkstein zustimmen müsse. Die Managerin des
Einkaufszentrums dagegen sagt, dass der Tatort städtisches Gebiet sei.
## Neonazis werden aufmerksam
Karsten Hempel fühlt sich allein gelassen, von der Justiz und der
Wittenberger Politik. Dafür werden in Wittenberg lokale Neonazis auf den
Tod seines Sohns aufmerksam. Ein Bericht des MDR zeigt, wie drei Wochen
nach der Tat einige Dutzend Rechte durch die Innenstadt ziehen, am
Einkaufszentrum vorbei, vor dem Marcus Hempel starb. „Gerechtigkeit“
fordern sie und rufen: „Überfremdung stoppen!“
Die lokale Mitteldeutsche Zeitung wird mit Nachrichten überschüttet, warum
sie die Tat verschweigen würde. Als die Zeitung doch berichtet, muss der
Online-Kommentarbereich unter dem Text zwischenzeitlich abgeschaltet
werden.
Nach der ersten Aufregung aber wird es in Wittenberg wieder ruhig, der Fall
bekommt überregional keine Aufmerksamkeit. Wittenberg wird kein Hashtag.
Warum?
Wittenberg, das ist so etwas wie das Potsdam von Sachsen-Anhalt. Hier
arbeitet ein liberales und privilegiertes Bürgertum, rund um die
evangelische Akademie gibt es zahlreiche christliche Einrichtungen. Es gibt
eine aktive Zivilgesellschaft, Zehntausende amerikanische Touristen kommen
im Jahr, das prägt das Klima der Stadt.
## Fälle werden instrumentalisiert
Ein Anruf bei David Begrich, Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Verein
Miteinander e.V. Sucht man nach einem Experten für Neonazis in
Sachsen-Anhalt, dann sagen alle: Frag Begrich.
Begrich hat mit seinen Kollegen analysiert, wann aus einem Einzelfall ein
Erfolg der rechten Szene wird, „Mobilizing Resources“ nennt er das. Begrich
ist überzeugt, dass die AfD und die außerparlamentarische Rechte gezielt
nach Fällen wie in Chemnitz und in Wittenberg suchen, um diese zu
instrumentalisieren, spricht von „Eventscouts“ und sagt: „Die Rechte ist
gerade in einem Rauschzustand.“
Nötig seien drei Bedingungen: Erstens brauche es einen Anlass, der
skandalisiert werden könne. Zweitens eine handlungsfähige rechte Struktur.
In Chemnitz waren das die organisierten Hooligans des Chemnitzer FC, die am
ersten Tag den Mob anführten. „Es reicht aber nicht, die eigene Crowd auf
die Straße zu bringen“, sagt Begrich. Deshalb brauche es drittens Personen,
die ein bürgerliches Publikum ansprechen. Das rechte Bürgerbündnis Pro
Chemnitz legitimierte die Demonstration für Chemnitzer, die sich selbst
nicht als politisch rechts verstehen.
Zweitens und drittens fehlten in Wittenberg. 86 Teilnehmer zählten
Beobachter bei der rechten Demonstration nach dem Tod von Marcus Hempel,
sie erkannten Neonazikader von der NPD und Thügida auf der Straße, von der
Volksbewegung Sachsen-Anhalt und der sogenannten GHC Crew. Es sind die
gleichen Gruppen, die ein knappes Jahr später erfolgreich nach Köthen
mobilisieren sollten. In Wittenberg blieben sie unter sich.
## Einst eine Hochburg
Seit den neunziger Jahren beobachtet Begrich die Neonazi-Szene in
Ostdeutschland. Damals war Wittenberg eine Hochburg, die Kameradschaft
Elbe-Ost hatte das Sagen. Seitdem sei die Szene kleiner geworden. Für viele
organisierte Neonazis in Sachsen-Anhalt, etwa in Magdeburg, ist Wittenberg
weit weg, fast in Brandenburg. Nur selten beteiligen sie sich an
Kundgebungen. Bei Köthen war das anders: Die Stadt liegt in der Nähe von
Magdeburg, an der Grenze zu Sachsen und Thüringen. Auch die AfD ist hier
aktiver als in Wittenberg.
Begrich sieht noch einen Unterschied, es ist ein Unterschied in der
politischen Kultur: In Sachsen-Anhalt sei die AfD zwar mit fast 25 Prozent
sehr stark im Parlament, aber schwach auf der Straße. In Sachsen dagegen
sei die Rechte auf der Straße erfolgreich und habe sogar einige
Unterstützer in der Polizei und anderen Staatsorganen. Das könnte erklären,
warum sich die Polizei in Chemnitz lange zurückhielt und die Proteste
größer wurden. In Köthen dagegen war die Polizei präsent und dämmte die
Proteste ein.
In Wittenberg bleibt es aber auch deshalb ruhig, weil früh der Verdacht im
Raum steht, dass der Getötete Neonazi gewesen sei. Dazu passt, dass die
Begleiter von Sabri H. bei der Polizei angaben, Marcus Hempel habe sie
rassistisch beleidigt. Dann wird die Facebookseite von Hempel öffentlich,
sie existiert nach seinem Tod weiter. Ihm gefallen die rechtsextremen Bands
Landser und Nordfront, außerdem die Seite „Jugend wählt NPD“. Polizeilich
ist er nicht als rechtsextrem bekannt. Auch antifaschistischen Beobachtern
der Szene ist er kein Begriff.
Dass sein Sohn Neonazi war, streitet Karsten Hempel ab. Hempels Freundin,
die bei der Tat dabei war, eine Deutsch-Griechin, beschimpfte die
Teilnehmer bei der Nazidemo in Wittenberg. Eine Kamera des MDR hält fest,
wie sie auf einen Mann einredet: „Das ist doch der letzte Scheiß, den ihr
hier macht. Kannte einer von euch den?“
## Altparteien spielen mit ihren Handys
Während die demokratische Öffentlichkeit sich mit dem Schicksal von Hempel
und seiner Familie schwertut, versucht die AfD, den Fall für ihre Zwecke zu
nutzen. Sie beantragt im Mai eine Aussprache im Magdeburger Landtag, der
Titel: „Gerechtigkeit für Marcus H.“ Der Abgeordnete Mario Lehmann
behauptet dort, der Tod sei „gedeckelt“ worden. Die Tat störe die
„Zuwanderungslobby“ beim „Geldverdienen“. Der Tod von Marcus Hempel zei…
dass die Bundesrepublik „ideologisch verseucht“ sei.
Karsten Hempel sitzt auf der Tribüne und hört zu. Eingeladen wurde er von
der AfD-Fraktion. „Das war die größte Demütigung in meinem Leben“, sagt …
danach. Die Abgeordneten der „Altparteien“ hätten geflachst und mit ihren
Handys gespielt, der Staatssekretär habe in seinem Stuhl gehangen, als er
die Fragen beantwortete. Im Protokoll der Sitzung liest sich das so:
„Heiterkeit bei der Linken“ – „Lachen bei der SPD und bei den Grünen�…
Über die Ausfälle der AfD spricht Karsten Hempel nicht. Er sagt, er stehe
keiner Partei nahe. Aber er gibt dem rechten Netzwerk Politically Incorrect
ein Interview, in dem er sagt, dass er bei einer Demonstration der rechten
Bewegung „Kandel ist überall“ über den Tod seines Sohnes gesprochen habe.
Erst vor Kurzem veröffentlicht das rechte Netzwerk einprozent.de ein Video
mit der Botschaft „Chemnitz war kein Einzelfall“ über den Tod von Marcus
Hempel, es wird hundertfach in sozialen Netzwerken geteilt. Auch Hempels
Vater kommt zu Wort, im Video sagt er: „Es geht einfach um die Art und
Weise, wie dieser Staat damit umgegangen ist, nicht dass es ein
Asylsuchender war.“
## Der Fall wird der Staatsanwaltschaft entzogen
Karsten Hempel bestreitet, dass er politisch rechts steht. Vielleicht hätte
er sich nicht die falschen Unterstützer gesucht, hätte er sich nicht
alleingelassen gefühlt. Aber spielt das überhaupt eine Rolle für die Fehler
der Staatsanwaltschaft und das Desinteresse der Öffentlichkeit?
Im April passiert etwas Ungewöhnliches. Der Fall wird der
Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau entzogen und von der Staatsanwaltschaft
Magdeburg übernommen. Offiziell wird das mit dem Umzug des Tatverdächtigen
begründet. Dabei gilt in Deutschland eigentlich das Tatortprinzip. Doch
weil Sabri H. bei der Tat noch minderjährig war, kann die zuständige
Staatsanwaltschaft wechseln – zwingend notwendig ist das nicht.
Wurde der Fall entzogen, weil die Pressemitteilung fehlerhaft war? Die
Staatsanwaltschaft Magdeburg bestreitet das. Unbestritten ist aber, dass
der Fall für die Justizministerin Anne-Marie Keding von der CDU seit dem
Auftritt vor dem Landtag eine politische Dimension hat.
Im September gibt die Staatsanwaltschaft Magdeburg an, dass weiterermittelt
werde. Ob das Verfahren eingestellt oder Anklage erhoben werde, sei noch
nicht entschieden. Dabei schrieb die Polizei schon im März in einem
internen Vermerk, dass es keine weiteren Anhaltspunkte für Ermittlungen
gebe.
## An den Namen des Opfers erinnert er sich kaum
Es ist Mitte September, und Hempel ist gerade auf dem Weg zum Friedhof, als
er ans Telefon geht. Ob es etwas Neues gebe? Hempel verneint. Dann erzählt
er, dass sein Sohn heute 31 Jahre alt geworden wäre. Seine Stimme stockt,
er fängt an zu weinen.
Sabri H. lebt heute in Magdeburg, mit seinen Eltern und Geschwistern, die
er wenige Monate vor der Tat im Rahmen des Familiennachzugs nach
Deutschland holen durfte. Er macht eine Ausbildung zum Autolackierer und
ist im Fußballverein.
Am Telefon bestreitet er, dass er Marcus Hempel vor der Tat gekannt habe.
Und der „Stinkefinger“ hätte nicht Hempel, sondern seinen Freunden
gegolten. Er sei nach dem Freitagsgebet zum Einkaufszentrum gekommen, um
sich mit Freunden zu treffen. Es tue ihm leid, was passiert sei. „Aber wenn
man geschlagen wird, muss man sich wehren.“ Besonders zu belasten scheint
ihn die Tat nicht. „Das ist passiert, das ist das Leben.“ An den Namen des
Opfers kann er sich nicht mehr genau erinnern.
Nach Deutschland gekommen war Sabri H. im Sommer 2015. Er lebte lange in
einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Pratau.
Seine ehemaligen Betreuer erkannten keine Anzeichen für eine zunehmende
Gewaltbereitschaft bei ihm. Ausreichend Plätze für psychologische Betreuung
gebe es aber nicht.
## Es fängt an zu brodeln
Die Bewohner von Pratau seien den Flüchtlingen oft feindlich begegnet,
hätten immer wieder die Luft aus ihren Fahrrädern gelassen. Sabri H.
erzählt von einem betrunkenen Nachbarn, der ihn geschlagen habe. Er habe
sich gewehrt, deshalb die Anzeige wegen Körperverletzung.
Für den ersten Todestag an diesem Samstag hat die AfD-Fraktion
Sachsen-Anhalt zu einer Kundgebung aufgerufen, zu der mehrere Abgeordnete
und auch der Fraktionsvorsitzende aus Magdeburg anreisen. In der
Geschäftsstelle der Partei in Wittenberg stapeln sich die Flyer. „Eiskalte
Hinrichtung“ nennt die AfD die Tat und fordert die Justizministerin zum
Rücktritt auf. Auf dem Flyer sieht man ein Foto, es zeigt eine Blutlache
auf dem Boden. Es ist kein Foto vom Tatort, sondern willkürlich ausgewählt.
In der AfD ist man sicher: „Wäre dieser Fall heute passiert, gäbe es hier
so etwas wie in Köthen.“
Schon Anfang September, eine Woche nach dem Mob in Chemnitz, waren 300
Demonstranten in Wittenberg auf der Straße. „Warum dauern die Ermittlungen
so lange? Soll hier etwas unter den Teppich gekehrt werden?“, fragte ein
AfD-Redner und sagte, dass überhaupt noch ermittelt werde, sei seiner
Partei zu verdanken. In einer Nebenstraße protestierten 60 Menschen gegen
die Kundgebung. Der Reporter der Lokalzeitung sagt dazu später: „Hier fängt
es an zu brodeln.“
29 Sep 2018
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## AUTOREN
Kersten Augustin
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