| # taz.de -- Buch eines sächsischen Bürgermeisters: Abschied von der res publi… | |
| > „Wir sollten uns empören“: Dirk Neubauer ist SPD-Bürgermeister in | |
| > Sachsen. Ein Job, der Stoff für ein Buch bietet. | |
| Bild: Aktiv im „politischen Kleinstraum“: Dirk Neubauer | |
| Der Buchtitel fasziniert sofort. „Das Problem sind WIR“ stellt klar, dass | |
| keine Schuldzuweisungen an selektierte Gruppen zu erwarten sind und | |
| ausnahmslos alle zur Mitgestaltung und Problemlösung in dieser Gesellschaft | |
| aufgefordert werden. Besonders jene, die durch destruktives „Ningeln“, wie | |
| die Sachsen sagen, sich selbst außerhalb dieser Gesellschaft stellen. | |
| Aber der Titel impliziert zugleich das Dilemma, dass es dieses beinahe im | |
| Sinn einer Volksgemeinschaft beschworene „WIR“ gar nicht gibt, schon gar | |
| nicht in Großbuchstaben. Und tatsächlich beschreibt das Buch in aufrüttelnd | |
| gemeinter, aber ebenso deprimierender Weise den Abschied von der res | |
| publica, von verbindenden Idealen, auf die sich eine breit tragende | |
| Mehrheit noch verständigen könnte. | |
| Die Perspektive des Autors ist dabei die kommunale, der „politische | |
| Kleinstraum“, wie er seine Viereinhalbtausendseelengemeinde fast liebevoll | |
| nennt. Seit sechs Jahren ist der 48-jährige Dirk Neubauer hier in | |
| Mittelsachsen Bürgermeister. Ins Amt kam er eher zufällig, weil der Ausfall | |
| eines Kandidaten plötzlich seinen Ehrgeiz anstachelte, sich verantwortlich | |
| einzumischen. Also das vorzuleben, woran er auf 234 Buchseiten appelliert. | |
| Neubauers Perspektive ist neben der des Praktikers auch die analytische | |
| eines Journalisten und Medienkenners. Er war Reporter bei der | |
| Mitteldeutschen Zeitung, Geschäftsführer eines lokalen Fernsehsenders und | |
| Redakteur bei MDR-Jugendprogrammen. Schließlich beriet er zahlreiche | |
| Verlagshäuser bei der Einführung digitaler Formate. In fast schon | |
| messianischer Weise setzt er diese [1][Digitalisierung von Medien und | |
| Verwaltung] mit dem Fortschritt gleich, sieht in ihr jedenfalls eine | |
| unvermeidliche Entwicklung, der man in Deutschland und Sachsen nur | |
| hinterherlaufe. | |
| Das hindert ihn nicht, auch deren Kehrseiten treffend zu beschreiben, die | |
| Verlagerung der Informationsbeschaffung aus meist unüberprüfbaren Quellen | |
| und der Meinungsbildung ins Internet nämlich. Dort sitzen die Verführer, | |
| Lügner und Trolle, dort findet Lagerbildung und Spaltung statt. Neubauer | |
| nennt das die „digitale Bombe“. Die klassischen Medien hinkten dem | |
| aussichtslos hinterher. | |
| ## Hanebüchene Beispiele aus der Praxis | |
| Solche Ambivalenzen, ja Widersprüche sind in seinem hoch ambitionierten, ja | |
| leidenschaftlichen Buch wiederholt anzutreffen. Wem Neubauer die | |
| Hauptverantwortung für die schleichende Erosion der Demokratie hin zu einer | |
| passiven Zuschauerdemokratie zuschreibt, wird nicht deutlich. Wiederholt | |
| beschreibt er seine Erfahrungen, wie wenig Mitwirkungsangebote angenommen | |
| werden. Die wenigen Aktiven sind meist älter, die Abstinenten halten sich | |
| raus, und die Wutbürger, die treiben zumindest die Politik vor sich her, | |
| wie Neubauer mit einer gewissen Genugtuung registriert. | |
| Bilden nicht all diese Gruppen das Wir, an das der Autor appelliert? Sie | |
| sind zuerst zur Selbstüberprüfung aufgefordert. Der Bürgermeister entlastet | |
| sie aber zugleich durch breite Empathie für ihre Nachwendebeschädigungen | |
| und vor allem durch massive Kritik an der Ausbremsung durch | |
| Top-down-Prinzipien, Bürokratie und Regelungswut. | |
| Zu fundamentaler Systemkritik rafft er sich nicht auf. Es wird auch nicht | |
| recht deutlich, ob er die Ursachen für diese Blockaden jeden | |
| Initiativgeistes vor allem im „subjektiven Faktor“, wie wir in der DDR | |
| sagten, also in den Apparatschiks sieht. Das könnte man meinen, wenn er | |
| andererseits das Bemühen der Regierung Kretschmer seit Ende 2017 anerkennt, | |
| Verkrustungen aufzubrechen. | |
| Verantwortlich für Demokratiefrust und Demotivation der Ostdeutschen aber | |
| werden in diesem Buch vor allem die westdeutschen Kolonisatoren gemacht. | |
| Nicht auch ein bisschen die Ossis, die 1989 in geradezu infantiler Weise | |
| die Totalübernahme des westdeutschen Systems herbeidemonstriert haben? | |
| Neubauer schreibt von der „großartigen Wiedervereinigung“ und ätzt zuglei… | |
| gegen deren Folgen. Das Misstrauen aller gegen alle zum Beispiel, dass sich | |
| in einem Dickicht von Richtlinien und Vorschriften ausdrückt. Oder die | |
| „German Angst“, die er am Schluss treffend beschreibt. | |
| Hanebüchene Beispiele aus der Praxis eines Rathauses, die Dirk Neubauer | |
| journalistisch gekonnt schildert, sind allein schon die Lektüre dieser | |
| Streitschrift wert. „Von der Unmöglichkeit, einen Sportplatz zu bauen“ | |
| liest man mit grimmigem Genuss, mit Empörung die unendlichen Hürden, zwei | |
| Bewerbern tatsächlich eine dringend benötigte Landarztpraxis einzurichten. | |
| Pointierte Formulierungen wie die vom „demokratiefernen Zufallsgenerator“ | |
| würzen die aufrüttelnde Schrift. | |
| Der Bürgermeister, selbst erst 2017 der SPD beigetreten, hält | |
| Parteiengagement für wichtig, will aber keine „Kümmerer“. In Augustusburg | |
| hat er gezeigt, dass durch intensiven persönlichen Kontakt und durch | |
| Onlineangebote Mitwirkungspotenzial zu wecken ist. Ein Mitmachdruck von | |
| unten ist nicht da. Daher sein Aufruf „Wir sollten uns empören“. | |
| 11 Sep 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Bartsch | |
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