# taz.de -- Vor dem Konzert gegen Rassismus: Ein Graben geht durch Chemnitz | |
> Der Soundcheck für das Open-Air-Konzert schallt schon durch die | |
> Chemnitzer Innenstadt. Die Reaktionen der Chemnitzer sind sehr | |
> unterschiedlich. | |
Bild: Aufbauarbeit in Chemnitz: Eine Videowand für das Konzert wird installiert | |
CHEMNITZ taz | Heute ist Markt im Chemnitzer Stadtzentrum, so wie jeden | |
ersten Montag im Monat. Rund um den großen Komplex aus altem und neuem | |
Rathaus erstrecken sich die Stände. Um die Auslagen mit Böhmischer | |
Rauchwurst, Seifen aus Riesa und Filzpantoffeln “Echt Erzgebirge“ drängen | |
sich überwiegend ältere Menschen, trotz Nieselregens ist es voll. | |
Auf den ersten Blick wirkt die Szene wie ein ganz normaler Montagvormittag | |
in Chemnitz. Aber ganz normal ist hier heute nichts. Immer wieder legen | |
sich laute Musikfetzen über den Platz, sie wehen vom Parkplatz an der | |
Johanniskirche herüber, wo bereits der Soundcheck für das große Konzert | |
stattfindet, das dort um 17 Uhr beginnen soll. Die Toten Hosen, Feine Sahne | |
Fischfilet, Kraftklub und weitere Bands kommen in die Stadt, und wer sich | |
umhört auf dem Chemnitzer Markt merkt schnell, dass das heute | |
Gesprächsthema Nummer Eins in der Stadt ist. | |
Die Meinungen gehen dabei auseinander: “Ist doch gut, dass mal was los | |
ist“, sagt ein Mann mit Schiebermütze in der Schlange beim Langos-Stand. | |
Seine Begleiterin schüttelt energisch den Kopf: “Was wir hier brauchen ist, | |
dass mal Ruhe einkehrt, endlich mal Ruhe“, sagt sie, und schaut böse in die | |
Richtung, aus der die Musik herüber wummert. | |
In einem Café am Rand des Markts sitzen Michela Gluvak, Niko Fenske und Max | |
Clarke und schauen müde in ihren Kaffee. Sie sind heute morgen um sieben | |
Uhr in Berlin losgefahren, mit einer Mitfahrgelegenheit, denn Bus oder Bahn | |
war ihnen zu teuer und alle späteren Fahrten schon ausgebucht. “Als ich | |
letzte Woche von dem Konzert gehört habe, habe ich sofort entschieden, hier | |
hin zu fahren“, sagt Gluvak, die in Berlin gerade ihr Freiwilliges Soziales | |
Jahr beendet hat. | |
Wie die drei heute Abend zurückkommen, wissen sie noch nicht: Der letzte | |
Flixbus ist schon ausgebucht, der erste fährt am Dienstag um 5 Uhr morgens. | |
Sie hoffen, noch eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern: “Nachts in Chemnitz | |
rumhängen stellen wir uns jetzt nicht so toll vor“, sagt Fenske. | |
## Hauptbühne verlegt | |
Mehr als 150.000 Menschen haben bei Facebook angegeben, sich für das | |
Konzert zu interessieren oder teilnehmen zu wollen. So viele Besucher | |
werden es sicher nicht, aber mit einer fünfstelligen Zahl rechnen die | |
Veranstalter sehr wohl. Die ursprünglich vorgesehene Fläche rund um das | |
Karl-Marx-Monument ist dafür zu klein, deswegen wurde die Hauptbühne auf | |
den Parkplatz verlegt, wo am Samstag bereits die Gegenkundgebung zur | |
rechtsextremen Demonstration stattfand. Auf Facebook gibt es eine | |
Bettenbörse, bei der Chemnitzer kostenlose Schlafplätze für Besucher von | |
außerhalb anbieten, auf der Isomatte im Wohnzimmer oder in ihrem | |
Gartenhäuschen. | |
Unterdessen hat die Stadt zwei Kundgebungen gegen das Konzert untersagt. | |
Die rechte Bewegung Thügida wollte sich in unmittelbarer Nähe zum | |
Veranstaltungsgelände unter dem Motto „Gegen antideutsche Kommerzhetze“ | |
versammeln. Wie die Stadtverwaltung am Montag mitteilte, wurde die | |
Kundgebung nicht genehmigt. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass | |
die Veranstaltungsfläche bereits belegt sei. Mit dem gleichen Argument | |
wurde auch eine Kundgebung der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz | |
untersagt. | |
Dort, wo an diesem Montag die Marktstände aufgebaut sind, veranstaltete die | |
Evangelische Kirche am Sonntagnachmittag eine Kundgebung unter dem Motto | |
“Aufeinander hören, miteinander handeln“. Gut 1.000 Menschen nahmen teil, | |
weit überwiegend Chemnitzer, viele ältere Menschen und Familien mit | |
Kindern, viele kannten sich. Hier wurde die Chemnitzer Mitte beschworen, zu | |
Gewaltlosigkeit und Verständigung aufgerufen. Die Oberbürgermeisterin | |
Barbara Ludwig sprach von einem Graben, der sich in den letzten Tagen in | |
der Stadt aufgetan habe und in dem vieles verschwinde, “was wir in den | |
letzten Jahren geschafft haben“. | |
Von einem solchen Graben spricht auch Holger Siegel, Maschinenbauingenieur | |
aus Chemnitz, der am Montag seinen freien Tag in der Chemnitzer Innenstadt | |
verbringt. Er sagt, was die Rechten hier in den letzten Tagen in der Stadt | |
angerichtet hätten, das mache ihn fassungslos. “In Chemnitz hat sich so | |
viel entwickelt in den letzten Jahren, gerade auch durch die Zuwanderung, | |
die Stadt schrumpft jetzt endlich nicht mehr, sondern wächst“, sagt er. Er | |
erzählt von jungen Leuten, die keine Lust mehr hätten, für kulturelles | |
Leben immer nach Leipzig fahren zu müssen, und deswegen in der Stadt eigene | |
Initiativen auf die Beine stellen. Von Läden, die jahrelang leerstehend | |
verfallen seien und erst wiederbelebt wurden, wo jetzt arabische Geschäfte | |
dort eröffnet hätten. | |
## Hilfe von außen | |
Er sei ein stiller Mensch, sagt Siegel, einer, der sich nicht durch | |
politische Positionierung hervor tue. “Aber es schmerzt mich, das jetzt zu | |
sehen, wie diese ganzen positiven Entwicklungen einen solchen Rückschlag | |
erleiden.“ | |
Hilft es, dass heute dieses Konzert stattfinden wird, zu dem ein großer | |
Teil der Besucher wohl von außerhalb kommen wird? “Unbedingt“, sagt der | |
50-Jährige. “Wir brauchen die Hilfe von außen, es wäre vermessen zu sagen, | |
wir schaffen das alleine.“ Sachsen habe ein “braunes Problem“, das dürfe | |
man nicht kleinreden, sagt er. Und auch wenn er gerne hätte, dass es anders | |
wäre, müsse er sagen, “dass die Landesregierung und auch die Polizei auf | |
dem rechten Auge, na ja, vielleicht nicht blind sind, aber doch deutlich | |
schlechter sehen.“ | |
Siegel hofft, dass Chemnitz sich von diesen Tagen erholen wird. “Im Moment | |
ist die Stimmung sehr, sehr polarisiert, auch im Freundeskreis geht es | |
jetzt sehr viel darum, wer sich welchem Lager zuordnet, als gebe es nur | |
Schwarz und Weiß“, sagt er. Chemnitz sei in den letzten Jahren zu einer | |
lebenswerten Stadt geworden. “Ich wünsche mir, dass die Kräfte, die wollen | |
dass das so bleibt, in den nächsten Monaten stärker sein werden als die | |
anderen“ sagt er. | |
## Der Livestream von #wirsindmehr aus Chemnitz, ab 17 Uhr | |
Mit Informationen von dpa | |
3 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Flucht | |
Konzert | |
Rechtstextreme | |
Chemnitz | |
Schwerpunkt Ausländerfeindlichkeit | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Chemnitz | |
Sachsen | |
Marteria | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Marteria | |
Chemnitz | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
Gentrifizierung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumne Ich meld mich: Liebeserklärung zur Stunde | |
Wer die Vielfalt Sachsens kennt, wundert sich, wo der Aufschrei der | |
Touristiker gegen den grassierenden Fremdenhass bleibt. | |
Konstantin Wecker über Soli-Konzerte: „Das Patriarchat hat ausgeschissen!“ | |
Der linke Liedermacher Konstantin Wecker glaubt, dass Poesie als Widerstand | |
funktioniert und dass Musik helfen kann, das Patriarchat zu Fall zu | |
bringen. | |
„Fensterdemo“-Reaktion auf Chemnitz: „Demokratie zurück auf die Straße�… | |
Nach den Vorfällen in Chemnitz soll der demokratische Protest nachhaltig | |
sein. Aktivist Bastian Buchs Idee: Deutschlandweite Transparente in den | |
Fenstern. | |
Umgang mit Rechtsextremismus: Es brennt überall in Sachsen | |
Rechter Hass und Hetze sind nirgendwo so fest verankert wie in Sachsen. | |
Schuld sind vor allem die Regierenden der vergangenen Jahrzehnte. | |
Die Bands bei #wirsindmehr in Chemnitz: Hier ist keiner allein | |
Die Musiker in Chemnitz wissen genau, worum es geht. In ihrer Jugend haben | |
sie sich mit Neonazis geprügelt – und jetzt mit Zehntausenden ein Zeichen | |
gesetzt. | |
#wirsindmehr-Konzert gegen Rassismus: Alles anders in Chemnitz | |
Mehr als 50.000 Menschen sind am Montagabend für das Konzert von Kraftklub | |
& Co in Chemnitz. Gegenüber rechten Hetzern sind sie definitiv in der | |
Mehrheit. | |
#wirsindmehr-Konzert in Chemnitz: 50.000 gegen Rassismus in Chemnitz | |
Zu dem Konzert gegen Rassismus in Chemnitz sind am Montagabend 50.000 | |
Menschen gekommen. Teilnehmer reisten aus verschiedenen Teilen Deutschlands | |
an. | |
Witwe von Daniel H. über Nazi-Demos: Nach dem Tod ein Opfer der Rechten | |
Daniel H. war ein weltoffener und friedlicher Mensch. Die politische | |
Instrumentalisierung seines Todes „hätte er nicht gewollt“, so seine Witwe. | |
Kolumne Minority Report: Samstagabend in Sachsen | |
Wer als Person of Colour dieser Tage in Sachsen weilt, braucht starke | |
Nerven, Verbündete – und im besten Fall ein Zugticket raus aus dem | |
Bundesland. | |
Kommentar Rechtes Bündnis in Chemnitz: Die Entlarvung der AfD bringt wenig | |
Die AfD läuft in Sachsen mit Rechtsextremen – schaden wird es ihr wieder | |
nicht. Der Widerstand der Liberalen muss sich deshalb verändern. | |
Protest gegen Google-Campus: Kein Silicon Valley am Görli | |
Mehrere hundert Menschen protestierten am Samstag gegen den geplanten | |
Google-Campus in Kreuzberg. Sie fürchten die Verdrängung aus dem Kiez. |