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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Mumidiktatur
> Tagebuch einer Abgeschotteten: Ein experimentelles Großkunstprojekt in
> der eigenen Wohnung? Warum nicht! Wenn es genug Erlöse gibt.
Bild: Derzeit hat niemand mehr die Absicht, eine Mauer zu errichten: Die Bestan…
In meiner Straße toben Bauarbeiten, Parkverbotsschilder vermehren sich wie
gefährliche Keime, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die
Ordnungsmacht mein Auto abschleppte. Ich hatte die Außenwelt einfach
vergessen, denn wegen der Sanierung meiner Hausfassade lebe ich seit einer
gefühlten Ewigkeit hinter einem undurchsichtigen Vorhang, fest geschlossene
Fenster halten Staub, Geräusche und frische Luft draußen, ich mumifiziere
langsam in erzwungener Abschottung.
So war ich nicht wenig überrascht, als die Nachricht durchsickerte, die
Berliner Festspiele und der Senat möchten demnächst Berliner und Touristen
mit dem mehrwöchigen DAU-Projekt beglücken. Der Eventbesucher erhält nach
Erteilung eines kostenpflichtigen Visums und Abgabe seines Handys Zutritt
zu einem von einer Berliner Mauernachbildung umschlossenen Areal, in dem
unter hochgeheimen Bedingungen gedrehte Filme und wichtige Erkenntnisse
über Kunst, Totalitarismus und Immersion auf ihn warten.
Ein Trailer auf der Festspiele-Website zeigt eine Collage aus Filmfotos in
Schwarz-Weiß-Grau, einer bewährten Farbästhetik, wenn’s ums Totalitäre
geht. Gebäude und Landschaften tragen darin ein trauriges Anthrazit, und
die Menschen farbentsättigte Gesichter. Unterlegt ist im Trailer das Ganze
mit Geraune à la „Sie entscheiden, wie weit Sie gehen wollen“.
Und das tat ich. Sollte DAU, was noch möglich ist, an bockigen Behörden
scheitern, stehe ich bereit, den Veranstaltern großmütig aus der Patsche zu
helfen: Solange meine Fassade eingerüstet ist – nach derzeitigen
Schätzungen kann das noch Jahre dauern – dürfen täglich 100 Besucher in
Gruppen Zeit bei mir verbringen. Beim Eintritt müssen sie ihre Handys
abgeben – ich versichere meine Vertrauenswürdigkeit! –, danach werden sie
im Wohnzimmer eingeschlossen, aus dem ich vorsichtshalber meine
diktaturuntypische farbenfrohe Kunst entfernt habe.
Die Restwohnung ist tabu, an die Wände projiziert, laufen bleigraue Filme
mit teilweise sehr versauten Inhalten, die ich mit Gleichgesinnten in einer
Art Gulag an einem geheimen Ort in Brandenburg gedreht habe. Die Erlöse für
den Eintritt teile ich mir mit dem Senat und verspreche, als Erstes die
Abschleppgebühren für mein Auto zu bezahlen. Was ja immerhin dem
Wirtschaftskreislauf zugutekommt und einen Teil der entgangenen
Tourismuseinnahmen wettmachen würde.
Bis es vor meinen Fenstern wieder Licht wird, treibe ich mich mithilfe
stetig fließender Einnahmen in Ausstellungen, Konzerten, Kinos und
Pollesch-Inszenierungen herum, lese in Cafés Bücher und kluge
Zeitungsartikel, gehe auf Partys, feiere mit Freunden und genieße meine
Freiheit. Meinen Besuchern wünsche ich dass sie unterdessen – solidarisch
mit mir und sehr immersiv – in meiner hermetischen Wohnwelt wertvolle
Erkenntnisse über Kunst, Freiheit oder das Fehlen derselben gewinnen.
13 Sep 2018
## AUTOREN
Pia Frankenberg
## TAGS
GAU
Kunstprojekt
Berlin
Handy
Krankheit
Florian Henckel von Donnersmarck
Bezirk Mitte
Frankfurt/Main
Einsamkeit
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