# taz.de -- Die Wahrheit: Schlüsselerlebnisse | |
> Tagebuch einer Suchenden: Zu den Hundstagen kommt die Berlinerin am | |
> Badesee ganz zu sich. Der Berliner ganz naturfreundegemäß natürlich auch. | |
Dog Days in Berlin. Das Hirn ist weich und muss dringend gekühlt werden, | |
also ab an den Schlachtensee, wo Teenager johlend ins algengrüne Nass | |
plumpsen und die Blässhühner vor schwankenden Stehpaddlern fliehen. | |
Migrantische Jungmänner auf dem Weg zum sommerlichen Chillen bremsen | |
staunend beim Anblick der altachtundsechziger Badefreunde, die sich wie in | |
besten „Kommune 1“-Zeiten direkt neben dem Uferweg nackig machen. Ihr | |
ortskundiger Begleiter klärt über die Gebräuche des Gastlandes auf: „Hier | |
kannste nackt rumlaufen. Würd ich euch aber im Moment nicht raten.“ Da | |
kritisiere noch jemand die mangelnde Vermittlung deutscher Werte! Die | |
Testosteronstrotzenden wirken ihrerseits nicht so, als ob sie sich gleich | |
die Kleider vom Leib reißen oder sich von im Klassenkampf gewelkten Körpern | |
in Ekstase versetzen lassen. Allet juti, wie der Berliner sagen würde. | |
Leider schließt das nicht mein Kurzzeitgedächtnis ein, das im Alter ja | |
nachlässt und das, wie ich nach vollbrachter Abkühlung feststellen muss, | |
zusammen mit meinem Autoschlüssel sorgfältig versteckt unter irgendeinem | |
Strauch vergraben liegt. Nach erfolgreicher Suche unter Beteiligung | |
mitfühlender Nackt- und Bekleidetschwimmer widerstehe ich verschwitzt und | |
zerschunden dem erneuten Kreislauf aus Bad, Schlüsselfahndung et cetera – | |
zugunsten von Teil zwei des Sommerrituals: Besuch auf der nahen | |
Spinnerbrücke. | |
## Glotzen auf den Avus | |
Deren Namensgeber waren Männer, die auf Autos starrten, die Spinner | |
nämlich, die in längst vergangenen Zeiten von der Brücke die Autorennen auf | |
der Avus beglotzten. Wer diese Pilgerstätte Berliner Freizeitkultur nicht | |
kennt, dem ist bisher ein Buffet für Augen und Magen entgangen, das keine | |
Wünsche offen lässt. Biker mit Halbglatzen und meterlangen, graufieseligen | |
Pferdeschwänzen, Sportwagenprotzer und deren Bräute, osteuropäische | |
Trucker, Geschäftsmänner und -frauen, und Schwimmer ohne Kurzzeitgedächtnis | |
wie ich finden hier alles von Schweinebraten bis Latte macchiato | |
lactosefrei. | |
Während ich Spiegeleier mit sehr viel Bratkartoffeln vertilge, brüllt am | |
Nebentisch ein Mann gegen Harleygedröhne an. „Mich hamse ja damals E zwo | |
jemustert, weil ick so jroß war. Dann hamse nen Jeburtstfehler jefunden, | |
mir fehlt ne Rippe. Da bin ick von Arzt zu Arzt, und nach zwee Jahre, da | |
hat eener jesacht, wat ham se? und hat mir’n Stempel jejeben. Danach war | |
ick trotzdem Kriegsdienstverweigerer. Da war so’n NVA-Typ, da wollt ick | |
dann nich mehr zum Bund. Hab ick jesacht, ick muss immer kiffen. Hat aber | |
nischt jenützt. Ick bin denn bei ner Einheit mit nem super Zusammenhalt | |
jelandet, und denn hab ick von Kriegsdienstverweigerer zu zwölf Jahre | |
verlängert.“ | |
Lieber Horst Seehofer, liebe Ursula von der Leyen, Grüße vom Schlachtensee | |
und der Spinnerbrücke, wo die drei großen W’s – Werte, Wehrhaftigkeit, | |
Wampe füllen – perfekt harmonieren. Sie dürfen sich jetzt in die Ferien | |
abmelden. | |
19 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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