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# taz.de -- Die Wahrheit: Besoffene Lehrer
> Tagebuch einer Verleserin: Die gegenwärtigen Verwirbelungen in Politik
> und Gesellschaft wirken sich auch auf die persönliche Leseleistung aus.
Kinder von Einwanderern haben in den USA zurzeit schlechte Karten. Während
ihre Eltern gleich in den Knast wandern, lässt die Regierung jetzt in
abgerockten Walmart-Märkten Kindercamps einrichten. Was erwartet die
kleinen Josés und Corazóns dort? Müssen sie täglich hundertmal „Ich darf
nicht illegal die Grenze der USA überschreiten“ schreiben? Oder dürfen sie
vielleicht sogar WM gucken und dabei ihr tristes Heimatland Mexiko gegen
das tolle Deutschland siegen sehen?
Aber auch hier werden sich Migranten bald in der hiesigen Lagervariante,
sogenannten Ankerzentren, wiederfinden, wo den Kleinen dann sogleich
deutscher Rechtskundeunterricht erteilt wird, und zwar von Besoffenen. So
las ich es vor ein paar Wochen in der Zeitung und wunderte mich kein
bisschen, denn seit unser Heimatminister ganz besoffen ist von seiner
Aufräummission, sucht man auch hierzulande nach ramponierten Supermärkten
für die kindgerechte Verankerung.
Der „besoffene“ Rechtskundelehrer entpuppte sich allerdings nach erneutem
Lesen als „Bouffier“, Ministerpräsident von Hessen, der den kleinen
Einwanderern beibringen will, wie die Großen hier so ticken. Von denen
könnten so einige, darunter eine ganze Parlamentsfraktion, ein bisschen
Rechtskunde auch ganz gut vertragen.
Mein Vorschlag wäre, sie zu diesem Zweck in Ankerzentren einzuschließen und
ihnen dort auf die sehr effektive Art Rechtskundeunterricht zu erteilen,
die schon bei Malcolm McDowell in „Clockwork Orange“ gewirkt hat. Man
braucht dazu nur reichlich Aufnahmen aus Krisengebieten und ein paar
Augenklammern.
Inzwischen stoße ich allenthalben auf seltsames Gedrucktes, wie
beispielsweise ein Banner an einer S-Bahn-Brücke, das für einen „Baby- und
Kinderflohmarkt“ wirbt. Vor meinen Augen entsteht ein Bild, auf dem die
kleinen Achmed- und Djamila-Flöhe mit Kennerblick abgeschätzt werden, hier
und da wird ein Gebiss geprüft, es wird gefeilscht … Was soll man auch
machen mit dem ganzen Kinderüberschuss?
Am Abend spüle ich meine Horrorvisionen beim Italiener runter, da lese ich
auf der Karte „Kindercarpaccio“. So weit ist es gekommen. Mein Gehirn
tauscht und ersetzt inzwischen Buchstaben, wie es ihm plausibel erscheint,
das ist wohl der Gewöhnungseffekt.
In Berliner Kinderankerzentren für den zeitweiligen Bedarf, genannt Kitas,
wird derweil, so las ich ganz korrekt im Tagesspiegel, ein Kind abgewiesen,
wenn es in der Gruppe bereits eines gleichen Namens gibt. Sonst weiß das
Kleine nämlich gar nicht mehr, wer gemeint ist. Für die kindliche
Entwicklung ist das sicher eine wichtige Maßnahme, denn wie man heute weiß,
konnten sich die vielen Michaels und Sabines in den sechziger Jahren
unmöglich so individuell entwickeln wie die heutigen Emilias und Leons.
Folgerichtig wurden sie alle Sozialpädagogen, die versuchen, Kinder davor
zu retten, von besoffenen Politikern zu Carpaccio gemacht zu werden.
21 Jun 2018
## AUTOREN
Pia Frankenberg
## TAGS
Tagebuch
Einsamkeit
Berlin
Telekom
Rentner
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