# taz.de -- Die Wahrheit: Event-Geisel | |
> Tagebuch einer Umzingelten: Das ganze Jahr über findet Berlin immer neue | |
> Gelegenheiten, die Stadt mit irgendwelchen Veranstaltungen einzugrenzen. | |
Nun ward der Winter unseres Missvergnügens endlich glorreicher Sommer, und | |
kaum dass die von Mangelerscheinungen gezeichneten Berliner dem Buhlen der | |
Brandenburgischen Tourismusbeauftragten nachgeben und ihren leeren | |
Vitamin-D-Speicher von der Sonne im Umland auffüllen lassen wollen, sehen | |
sie sich mit unüberwindbaren Hindernissen konfrontiert. Wer nämlich einfach | |
so durchs Leben dümpelt und froh ist, wenn er mitkriegt, welcher Tag gerade | |
ist, wacht eines Sonntags im Mai auf und findet sich bis September gefangen | |
hinter den Absperrgittern einer Endlosveranstaltung. | |
Es gibt nichts, was erfindungsreiche Event-Organisatoren nicht zu ersinnen | |
wüssten, um die Berliner am Verlassen ihrer Stadt zu hindern. An den | |
Wochenenden werden die sich noch den Schlaf aus den Augen reibenden | |
Einheimischen von Helferbrigaden umstellt, die ihren Kiez vollständig | |
abriegeln und jede Flucht unmöglich machen, während Freizeitaktivisten in | |
Scharen einfallen, als gelte es Eroberungsschlachten zu gewinnen. | |
Umkreist von Marathonfanatikern, Velothon-Kampfradlern, | |
Kulturkarnevalisten, Formel-E-Rennfahrern, DFB-Pokal-Wildpinklern und | |
Sternfahrern vegetieren die Bewohner fortan ohnmächtig hinter Barrikaden, | |
bis auch der letzte lahme Greis über irgendeine Ziellinie gestolpert oder | |
geradelt ist. Blöderweise geschieht das erst gegen Abend, wenn im | |
Brandenburger Umland die Sonne schon untergeht. Am Ende einer Sommersaison | |
soll es unter Berliner Event-Geiseln schon Fälle von Hospitalismus gegeben | |
haben. | |
Am Vorabend der letzten Belagerung parkten wir das Auto außerhalb der von | |
offizieller Seite bekanntgegebenen Grenzen und marschierten morgens | |
siegessicher mit Badezeug und Proviant bewaffnet los. Wir wähnten uns schon | |
an einem glitzernden See, aber die Auslegung der Absperrgrenzen war | |
offenbar zwanzig Meter weiter um unser Auto gezogen worden. So fanden wir | |
uns statt in lieblichen Landschaften beim Frustkaffee in der Wilmersdorfer | |
Einkaufszone, zusammen mit einer erstaunlichen Menge Leute, deren | |
Freizeitvergnügen darin bestand, ein „All you can eat“-Frühstücksbüffet… | |
plündern. | |
Schon an normalen Tagen ist mir rätselhaft, warum jemand in Fußgängerzonen | |
abhängt, statt nach getanem Einkauf schleunigst das Weite zu suchen, einen | |
Sommersonntagmorgen umgeben von Ladenketten, Luftballons und Waffelbuden zu | |
verbringen und diese Konsumödnis für den Gipfel der Erholung zu halten, | |
macht mich ratlos. | |
Wir wünschten die Invasoren, die unsere Geiselhaft verschuldeten, zur | |
Hölle, aber dann fiel uns ein weitaus idealerer Ort ein. Ein Vorschlag an | |
die Event-Manager: Das Flughafengelände des BER bietet alles, was das | |
Freizeitaktivistenherz begehrt, reichlich Gebäude, wenig Landschaft, | |
feinsten Rollbahnasphalt und endlose Weite für alles, was rennt, radelt und | |
rumgrölt. Und Ladenketten und Werbeluftballons gibt’s irgendwann dazu. | |
24 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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