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# taz.de -- Die Wahrheit: Unter Plaudertaschen
> Tagebuch einer Eremitin: Sich abgeschottet von äußeren Reizen auf die
> inneren Erzählströme konzentrieren – kann man das auf dem Land?
Anfang März beschloss ich, mich im August zum Schreiben im Paradies der
Ungestörtheit einzumieten, in Schleswig-Holstein zwischen Schlei und
Ostseeküste, einer reizarmen Gegend mit wortkargen Menschen und zuverlässig
kühlen Sommern.
Bei meiner Ankunft drängeln sich in der Weite der Steppe Kuhherden unter
einem einzigen Baum, Traktoren pflügen Reste magerer Ähren unter, Schafe
blöken vorwurfsvoll auf abgegrasten Weiden. Die Suche in meinem Innern nach
literarisch verwertbarem Material kommt wegen Hitze zum Erliegen,
stattdessen studiere ich vom klimatisierten Auto aus Land und Leute.
Bei einer meiner Exkursionen lande ich im Supermarkt an einem Kreisverkehr,
der es mühelos ins „Best of Öde Orte“ schaffen würde. Mit Filterkaffee,
einem schlauchbootgroßen Franzbrötchen und der Süddeutschen von vorgestern
schleppe ich mich an einen Stehtisch.
Auftritt zweiter Kunde, ein Mann um die siebzig. Er wird von der
Bäckereifachverkäuferin namentlich begrüßt und trägt seine Beute – ein
enormes Stück Bienenstich flankiert von zwei Schaumküssen – an den
Nachbartisch. Beeindruckt wünsche ich „Guten Appetit“ in Erwartung stummen
Nickens.
„Sind Sie aus dem Süden?“ Er zeigt auf die Zeitung. „Ach so, nein.“ �…
das Ihr Wagen?“ Er deutet auf mein Auto, das auf dem Parkplatz schmort.
„Hmhm.“ – „Sind Sie Berlinerin?“ – „Aus dem Rheinland.“ – „…
meine Nichte. Die ist schon da geboren. In Bonn.“ Höre ich leichte
Missbiligung? „Bonn!“, jubelt die Backwarenfrau. „Da komm ich her!“
Anscheinend funktioniert die Migration in beide Richtungen. „Wo wohnen Sie
denn hier?“, lässt meine holsteinische Plaudertasche nicht locker. Ich
berichte. Er strahlt. „Da haben wir ja damals den neuen Stall gebaut!“
Das ist der Dammbruch. Nach einer halben Stunde kenne ich jede Baustelle
der vergangenen fünfzig Jahre und die komplette Krankengeschichte eines
inzwischen verstorbenen Kollegen. „Aber Ihnen geht es ja noch gut“, sage
ich erschöpft und zeige auf die Bienenstichreste. „Nee, ganz schlecht!“ –
„Diabetes?“, frage ich vorsichtig. Falsch. Rheuma, Stent und drei
Gallenstein-OPs. „Aber das Schlimmste sind die Verdauungsprobleme!“, ruft
er mir nach, während ich im Rückwärtsgang in mein Backofenauto flüchte.
Mein nächster Anlaufpunkt, die Apotheke im Nachbarort, hat Mittagspause.
Der Kaffee meldet sich, vielleicht hat Lidl nebenan ein Klo. „Ich hab hier
eine Kundin, die müsste mal auf die Toilette“, informiert die Kassiererin
über Mikro die Öffentlichkeit. Ich freue mich, dass sie den bestimmten
Artikel vorm Aussterben bewahrt und nicht „auf Toilette“ sagt.
Vor der Apotheke wartet rauchend ein Paar. Man kommt, wie könnte es anders
sein, ins Gespräch, sie hat eine neue Herzklappe, er zwei Stents. „Aber
solange es schmeckt, ne?“ Sie nimmt einen tiefen Zug, dann schweigen wir
doch noch ein bisschen.
16 Aug 2018
## AUTOREN
Pia Frankenberg
## TAGS
Einsamkeit
Schleswig-Holstein
Florian Henckel von Donnersmarck
GAU
Tagebuch
Berlin
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