# taz.de -- Debatte Chancen von #Aufstehen: SPD und Linkspartei entgrünen | |
> Wer das AfD-Problem lösen will, muss soziale Leerstellen besetzen. | |
> Wagenknechts Bewegung „Aufstehen“ könnte das schaffen – braucht aber | |
> Verbündete. | |
Bild: Guten Morgen! Sahra Wagenknecht (vorne) ist bereits aufgestanden | |
Montag, 7. September 2015: Seit dem Wochenende kommen Flüchtlinge aus | |
Ungarn nach Deutschland. Am Berliner Wannsee trifft sich eine illustre | |
Schar linksliberaler Journalisten zu einem Seminar, ein Kollege reist | |
direkt aus Budapest an. Der Jubel ist groß: Endlich setzt Deutschland eine | |
liberale Flüchtlingspolitik um – und das unter einer CDU-Kanzlerin, freuen | |
sich die Kollegen. Es gibt nur wenige warnende Stimmen: Wenn das ein halbes | |
Jahr weiterginge, läge die AfD bei 15 Prozent. Die sei nach der Abspaltung | |
des Lucke-Flügels ein erledigter Fall, glauben die meisten. | |
So kann man sich irren. 15 Jahre soziale Kürzungspolitik, vor allem durch | |
SPD und Grüne, die stets mit dem Verweis auf leere Kassen begründet wurden, | |
haben ihre Spuren in der deutschen Gesellschaft hinterlassen. Wie es | |
ankommen musste, dass ab 2015 ausreichend Geld für Flüchtlinge vorhanden | |
war, während weder Renten noch Hartz IV ausreichend aufgestockt wurden, | |
konnten sich alle ausrechnen, die Menschen außerhalb der linksliberalen | |
Blase kannten. | |
Seitdem haben Linke und Linksliberale viel unternommen, der AfD Wähler in | |
die Arme zu treiben. Seit 2015 wurden von Sahra Wagenknecht bis Horst | |
Seehofer alle umstandslos als rechtspopulistisch bezeichnet, die den | |
damaligen Kurs der Kanzlerin zu kritisieren wagten – bis es außer der | |
wirtschaftsliberalen FDP nur noch die wirklichen Rechtspopulisten der AfD | |
gab, die für einen anderen Kurs in der Flüchtlingspolitik standen. | |
Dann erhielt die AfD bei der Bundestagswahl 12,6 Prozent. Seitdem geht | |
unter Linksliberalen die Erzählung um, es habe schon immer ein | |
rechtsradikales Potenzial von 10 bis 15 Prozent in Deutschland gegeben. | |
Dieses sei jetzt in der AfD organisiert. Warum aber ist es 60 Jahre | |
gelungen, Rechtsradikale aus dem Bundestag zu herauszuhalten? | |
## Die Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte | |
In der Vor-Merkel-Bundesrepublik hatten Union und SPD in der | |
Migrationspolitik klare Zuschreibungen. Die Union war für die zuständig, | |
die Deutschland so bewahren wollten, wie es war – was auch hieß: ohne allzu | |
große Zuwanderung. Die SPD trat eher aus ökonomischen Gründen für eine | |
Begrenzung des Zuzugs ein, weil ein Überangebot an Arbeitskräften die Löhne | |
drückt und die Finanzierung des Sozialstaats erschwert. In beiden Parteien | |
gab es – natürlich – auch verbale Ausfälle ins Rechtspopulistische. Aber | |
zugleich erfüllten sie auch eine demokratische Funktion, nämlich gegenüber | |
Grünen und Linken die Interessen ihrer Wähler zu vertreten und im | |
demokratischen Diskurs auszuhandeln. | |
Die Bundesrepublik war eine große Erfolgsgeschichte, auch weil Linke und | |
Konservative eine Kultur der mühsamen Kompromissfindung und des | |
Interessenausgleichs gelernt hatten. Fortschritte wurden meist | |
ausverhandelt und langsam errungen, nicht brachial durchgesetzt. So gelang | |
es, auch Konservative mit der multikulturellen Gesellschaft auszusöhnen, | |
die sie selbst mit dem Holen der sogenannten Gastarbeiter hergestellt | |
hatten. | |
2015 markiert den Bruch mit dieser deutschen Tradition – zunächst durch CDU | |
und SPD. Eine Folge der Vergrünung ihrer Parteieliten: Wo es im Herbst 2015 | |
mit Ausnahme der CSU im Bundestag nur noch eine Einheitsmeinung zur | |
Flüchtlingspolitik gab, war auch nichts mehr auszuhandeln. Eine | |
Kompromisslösung in bundesdeutscher Tradition – unter großem Einfluss | |
grüner Positionen – hätte etwa beinhaltet, eine große Zahl syrischer | |
Kontingentflüchtlinge aufzunehmen und zugleich die Sozialleistungen | |
aufzustocken. Parallel hätten Union und SPD die Abschiebungen abgelehnter | |
Asylbewerber deutlich verstärkt. Und klargemacht, dass Deutschland das | |
weltweite Flüchtlingsproblem nicht lösen kann, indem es allen den Weg zu | |
uns öffnet, sondern dass den meisten vor Ort geholfen werden muss. | |
Stattdessen erklärte Merkel 2015, dass Grenzen nicht geschlossen werden | |
könnten, Sozialprogramme gab es nicht. | |
## Leerstellen im Parteiensystem | |
Seit 2015 gibt es zwei Leerstellen im deutschen Parteiensystem: die einer | |
konservativen und die einer traditionssozialdemokratischen Partei. Wer das | |
AfD-Problem lösen will, muss beide Leerstellen wieder besetzen. Mit einer | |
Jens-Spahn-CDU und einer Art Oskar-Lafontaine-SPD stünden die Chancen gut, | |
die AfD wieder auf oder unter 5 Prozent zu reduzieren. Zugleich bekämen wir | |
ein reales Abbild der politischen Stärke derjenigen, die den | |
Flüchtlingsherbst 2015 zum Dauerzustand machen wollen. Ob explizit wie die | |
Kipping-Linke oder implizit wie die Grünen. Vermutlich wären es nicht | |
einmal 15 Prozent. Eine Minderheit. | |
Was hat das alles mit Wagenknechts Sammlungsbewegung „Aufstehen“ zu tun? | |
Sie macht Sinn, wenn sie die sozialdemokratische Leerstelle im | |
Parteiensystem füllt, also SPD oder Linkspartei zu entgrünen hilft oder | |
eine neue Partei dafür bildet. Dafür hätte Wagenknecht aber Verbündete in | |
dem Teil der SPD finden müssen, der eine harte Linie in der Innenpolitik | |
und zugleich eine eher linke in der Sozialpolitik verfolgt. | |
Mit Wagenknecht verbünden wollen sich aber nur [1][Marco Bülow] und | |
[2][Simone Lange vom linken SPD-Flügel]. Die Flensburger | |
Oberbürgermeisterin unterstützt die Seebrücke-Demonstrationen. Dabei geht | |
es – richtigerweise – darum, Migranten aus Seenot zu retten. Die Aufrufer | |
fordern aber auch, sie in unbegrenzter Zahl nach Europa einreisen zu | |
lassen. Solange relevante Teile von „Aufstehen“ dies unterstützen, fehlt | |
der Bewegung die Eindeutigkeit in der derzeit alles bestimmenden Frage in | |
Deutschland. | |
Dennoch könnte es „Aufstehen“ vielleicht gelingen, den öffentlichen Disku… | |
zu „entgiften“, wie es der [3][Mitgründer Wolfgang Engler] genannt hat. | |
2015 hat auch Linksliberale intolerant werden lassen. Vielen von ihnen gilt | |
seitdem jeder, der an (nahezu) unbegrenzter Zuwanderung zweifelt, als | |
Rechtspopulist. Wenn es „Aufstehen“ schafft, die illiberalen Linksliberalen | |
wieder in eine demokratische Debatte über die Grenzen des Sozialstaats zu | |
zwingen, wäre schon viel gewonnen. | |
Lesen Sie zum Thema auch [4][die Debatte „Der neue Echoraum“ von Stefan | |
Reinecke]. | |
12 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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