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# taz.de -- Faktenlage nach Maaßens Behauptung: „Den schnappen wir uns“
> Hat es in Chemnitz eine Hetzjagd gegeben? Die Recherchen sind eindeutig.
Bild: Mob? Hetzjagden? Hat keiner gesehen – oder vielleicht doch?
Am Freitagvormittag sitzt Regierungssprecher Steffen Seibert vor der blauen
Wand der Bundespressekonferenz und schaut stoisch geradeaus. In der
Pressekonferenz der Bundesregierung interessiert die Hauptstadtpresse heute
nur ein Thema: [1][die Äußerungen von Verfassungsschutzchef Hans-Georg
Maaßen in der Bild-Zeitung]. Doch egal wie findig die Journalisten fragen,
Seibert antwortet fast immer mit demselben Satz: „Dazu ist von dieser
Stelle bereits alles gesagt worden.“
Der Auftritt des Geheimdienstchefs in der Bild hat das Kanzleramt kalt
erwischt. [2][„Es hat kein Gespräch der Bundeskanzlerin mit Herrn Maaßen in
den letzten Tagen dazu gegeben“], sagt Seibert. Merkel und ihrem Sprecher
hatte der Präsident des Verfassungsschutzes offenbar nicht angekündigt,
dass er vorhat, sich mit voller Wucht in die Chemnitz-Debatte
einzuschalten.
Drei Aussagen hat Maaßen der Bild für ihre Freitagausgabe diktiert.
Statement 1: „Die Skepsis gegenüber den Medienberichten zu
rechtsextremistischen Hetzjagden in Chemnitz werden von mir geteilt. Es
liegen dem Verfassungsschutz keine belastbaren Informationen darüber vor,
dass solche Hetzjagden stattgefunden haben.“ Ein indirekter Angriff auf
Merkel und Seibert, die im Zusammenhang mit den Chemnitzer Ausschreitungen
früh von Hetzjagden gesprochen hatten.
Statement 2: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet
kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Welches
Video und welchen Vorfall er damit meint, sagt Maaßen nicht.
Maximale Verunsicherung
Und Statement 3: „Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe
dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um
möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken.“
Welche Falschinformation er meint, wer verantwortlich ist und welche Belege
er hat, sagt Maaßen ebenfalls nicht. Warum er von Mord spricht, obwohl die
Staatsanwaltschaft wegen Totschlag ermittelt, auch nicht. Nachfragen
beantwortet die Pressestelle seines Amtes am Freitag nicht.
Eine Kommunikationsstrategie, mit der Maaßen eines gelungen ist: maximale
Verunsicherung zu verbreiten. Wurden in Chemnitz Menschen gehetzt? Oder
doch nur gejagt? Oder ist am Ende gar nichts passiert?
Die Ermittler vor Ort in Sachsen machen im Moment noch das, was ihre
Aufgabe ist: ermitteln. Alle Fälle rund um das Tötungsdelikt und die darauf
folgenden „Ausschreitungen“, so nennt sie der Sprecher des LKA, untersuchen
LKA und Polizeidirektion in einer eigens eingerichteten Ermittlergruppe.
Stand Freitagmittag: 128 Delikte. Darunter: Verstöße gegen das
Versammlungsgesetz, Sachbeschädigung, Beleidigung, Volksverhetzung.
In 27 Fällen ermittelt das LKA wegen des Verwendens von Kennzeichen
verfassungswidriger Organisationen – darunter fällt auch der Hitlergruß.
Auf Platz zwei der Delikte: Körperverletzung oder schwere Körperverletzung.
Mit 24 Fällen befassen sich die Ermittler in diesem Zusammenhang. Haben
sich Opfer gemeldet, die von Jagd, Verfolgung berichten? „Hetzjagden sind
strafrechtlich nicht definiert“, sagt ein LKA-Sprecher, „deshalb halten wir
uns da raus.“ Er sagt auch: „Wir brauchen jetzt Zeit, die Beweise zu
sichern.“
„Hase, du bleibst hier!“
Unter den untersuchten Delikten ist auch die Szene, die sich auf Twitter am
häufigsten verbreitet hat. In der sächsischen Justiz spricht man
mittlerweile vom „Hasi-Video“. Ein anonymer User mit dem Namen „Antifa
Zeckenbiss“ [3][lud es am Sonntag vor zwei Wochen hoch] – am ersten Tag der
Ausschreitungen. Was zu sehen ist: Männer mit Glatze gehen auf der
Chemnitzer Bahnhofstraße zwei Jugendlichen hinterher. Einer aus der Gruppe
rennt plötzlich in ihre Richtung, woraufhin die beiden über die
Gegenfahrbahn flüchten. „Was ist denn, ihr Kanaken?!“, ruft ein Mann.
„Hase, du bleibst hier!“, sagt eine Frau aus dem Off zu ihrem Begleiter.
Einer der Männer, den die Gruppe über die Straße trieb, hat Anzeige
erstattet, wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung. Wolfgang Klein,
Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Sachsen, bestätigt das: „Das Video
liegt uns vor, wir werden es abschließend bewerten.“ Ob er an der
Authentizität des Videos zweifelt? „Im Moment gibt es keine Anhaltspunkte,
dass es falsch sein könnte.“
Vom selben Tag [4][existiert noch ein anderes Video.] Eine rechte
Bürgerinitiative aus Heidenau streamte via Facebook live aus einer Demo in
Chemnitz – laut den Daten des Netzwerks am 26. August ab 16.54 Uhr. Nach 13
Minuten bricht ein Teil der Demo nach rechts aus und sprintet los. Es ist
nicht zu erkennen, wohin. Ein Mann ruft aber: „Ran an die Zecken!“
An diesem Tag war auch Aziz Mohammad Rafi aus Afghanistan in der Chemnitzer
Innenstadt unterwegs. „Am Sonntag war es am schlimmsten“, sagt Rafi, der
seit drei Jahren in Chemnitz lebt, der taz. Er und seine Freunde hätten
sich an diesem Tag im Chemnitzer Stadthallenpark getroffen, so wie sie es
fast jeden Tag tun. „Wir wussten nicht, was los ist, wir dachten, es ist
noch normal Stadtfest“, sagt er. Dann sei eine Gruppe Menschen
vorbeigekommen, die angefangen hätten zu schreien, als sie die Flüchtlinge
sahen: „Das ist unser Land! Verpisst euch!“ Aus der Gruppe heraus hätten
mehrere Menschen Bierflaschen auf ihn und seine Freunde geworfen, sagt er.
„Wir sind dann weggerannt, eine Flasche hat einen von uns am Fuß
getroffen“, sagt er.
Zahmer Verfassungsschützer
Andere Augenzeugen berichten von Angriffen in den Tagen darauf. Irena
Rudolph-Kokot zum Beispiel, Aktivistin aus dem Bündnis „Leipzig nimmt
Platz“. Am zweiten Tag der Ausschreitungen war sie zu einer Gegenkundgebung
angereist, hinterher machte sie sich mit Hunderten anderen auf den Weg
zurück zum Bahnhof. Ein schwerer Gang: Von allen Seiten, sagt
Rudolph-Kokot, griffen rechte Kleingruppen an. „Das waren einzelne
sportliche Gruppen. Mal kamen sie von links, mal von rechts, die haben
Gegenstände geworfen und sind auch richtig reingerannt.“ Immer wieder
hätten die Gegendemonstranten umdrehen und rennen müssen, um den Angreifern
zu entkommen.
Ähnliches erlebte nach einer Demo am folgenden Samstag eine SPD-Gruppe aus
Marburg. Mit dabei war Georg Simonsky, Mitarbeiter eines
Bundestagsabgeordneten. Auf dem Weg zurück zum Bus seien 15 bis 20 Männer
auf die Gruppe zugelaufen. Die Angreifer hätten sich hinter parkenden Autos
versteckt, sie hätten Stöcke dabeigehabt, einer einen Baseballschläger.
Leute seien ins Gesicht geschlagen worden, andere auf den Hinterkopf. Die
Angreifer hätten Fahnen weggerissen und zerstört. Die Angreifer, sagt
Simonsky, hätten Mitglieder der Gruppe als „Deutschlandverräter“
beschimpft, auf einen Mann mit Migrationshintergrund gezeigt und gerufen:
„Den schnappen wir uns!“
Es gibt noch mehr solcher Berichte und Videos, auf denen rechte Angriffe zu
sehen sind. Wie die taz in mehreren Gesprächen vor Ort erfuhr, geht in
Chemnitz aber seit Tagen die Behauptung herum, es seien allesamt
Fälschungen. „Das haben sich die Medien ausgedacht, das hat es nicht
gegeben“, sagte etwa ein Chemnitzer um die 50 Jahre, der seinen Namen nicht
nennen wollte, am vergangenen Sonntag. Bei Menschen wie ihm kommt
Verfassungsschutzpräsident Maaßen mit seinen Aussagen sicherlich gut an.
Seit sechs Jahren ist Maaßen Chef der Behörde. Der Jurist, der sich als
politischer Beamter versteht, sollte das Amt nach seinem Versagen im
NSU-Skandal aus der Krise führen. Inzwischen aber steht er selbst unter
Druck – und hat mit seinem Verhalten die Frage aufgeworfen, ob er mit der
AfD sympathisiert.
Kritiker aus den Landesämtern für Verfassungsschutz haben ihm vorgeworfen,
dass er zu zahm mit den Rechtspopulisten umgeht, die sich immer weiter
radikalisieren und zuletzt in Chemnitz [5][öffentlich den Schulterschluss
mit extrem Rechten vollzogen.] Bekannt ist, dass Maaßen sich mehrfach mit
der damaligen AfD-Chefin Frauke Petry traf. Laut Franziska Schreiber, einer
AfD-Insiderin, die inzwischen aus der Partei ausgetreten ist, hat er ihr
dabei auch Ratschläge gegeben, wie eine Beobachtung durch den
Verfassungsschutz zu vermeiden sei.
7 Sep 2018
## LINKS
[1] /Diskussion-ueber-Hetzjagden-in-Chemnitz/!5533957
[2] /Diskussion-um-Hetzjagd-in-Chemnitz/!5533999
[3] https://twitter.com/AZeckenbiss/status/1033790392037199873
[4] https://www.facebook.com/heidenauer/videos/1844613968965055/
[5] /Monitor-zu-Demos-in-Chemnitz/!5533956
## AUTOREN
Christina Schmidt
Malene Gürgen
Tobias Schulze
Sabine am Orde
Ulrich Schulte
## TAGS
Hans-Georg Maaßen
Chemnitz
Rechtsextremismus
Schwerpunkt AfD
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Hans-Georg Maaßen
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