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# taz.de -- Chemnitzer Konzert der Solidarität: Die Rechten ausgetanzt
> Wir sind mehr: Die Losung hat sich bewahrheitet. 65.000 Menschen feiern
> am Montagabend in Chemnitz gegen Dumpfdeutsche.
Bild: Nicht nur wegen der Musik hier: Besucher des Konzerts in Chemnitz
Chemnitz taz | Aziz Mohammad Rafi ist aufgekratzt. Der schmächtige
19-Jährige hüpft von der Straße auf den Bürgersteig und wieder zurück,
umtänzelt seine Freunde, knufft ihnen in die Seite. Seine Augen leuchten.
„Es war so cool“, sagt er immer wieder. „So – cool“, mit Betonung auf…
einzelnen Wort.
Rafi und seine Freunde stehen im Stadtzentrum von Chemnitz am Rand des
kleinen Parks, der zur etwas höher gelegenen Stadthalle ansteigt. Vor einer
Stunde haben die [1][Toten Hosen] drüben auf der großen Bühne an der
Johanniskirche den letzten Ton gespielt.
Aber viele der mehr als 65.000 Besucher des Konzerts wollen noch lange
nicht nach Hause gehen: Auf dem Rasen im Park und den Treppenstufen vor der
Stadthalle, auf den Bürgersteigen und auf den zum Teil immer noch
gesperrten Straßen sitzen Hunderte überwiegend junge Menschen in kleinen
Gruppen zusammen. Sie trinken warmes Bier aus der Dose vom Döner-Imbiss an
der Ecke, dem einzigen, der noch welches hat, und erzählen sich
gegenseitig, was sie erlebt haben. Man wird mit Fug und Recht behaupten
können: So viel los war in Chemnitz an einem Montagabend schon sehr, sehr
lange nicht mehr.
Rafi zeigt ein Video, das er vorhin beim Konzert mit seinem Handy gemacht
hat, als er ganz vorne war. Er weiß nicht genau, wie der Rapper heißt, der
dort zu sehen ist, aber er findet ihn: „So – cool.“ Trettmann sei das,
erklärt ihm einer aus der Gruppe aus Berlin, die sie gerade kennengelernt
haben, und klopft ihm auf die Schulter: „Wenn du Trettmann feierst, bist du
korrekt“, sagt er und fängt an, von dem Chemnitzer Musiker zu erzählen,
leuchtende Augen haben jetzt beide.
## Wie Stadt sich in wenigen Stunden verändert
Am Nachmittag, als die ersten Flixbusse ankommen und um halb fünf dann fast
gleichzeitig drei Züge aus Leipzig, Zwickau und Dresden, ändert sich das
Chemnitzer Stadtbild auf einmal: Die Stadt ist plötzlich deutlich jünger.
Scharenweise ziehen Menschen die Straße entlang, auch ältere, auch Familien
mit Kindern, aber vor allem sehr, sehr viele junge Leute, viele eher unter
20 als unter 30. Sie decken sich bei Rewe in der Fußgängerzone mit Proviant
ein und schließen sich zu spontanen Picknickgruppen zusammen, bevor es dann
auf den Parkplatz an der Johanniskirche geht, auf den das [2][ursprünglich
für das Karl-Marx-Monument geplante Konzert] verlegt wurde.
Der Platz ist voll, noch bevor die Veranstaltung mit einer Schweigeminute
für den [3][am Wochenende zuvor in Chemnitz erstochenen Daniel H.] beginnt.
Aber nicht nur der Platz: Über die gesamte Innenstadt ergießen sich die
Besucherströme. Die Stimmung ist fröhlich, aber es gibt auch eine klare
Note Ernsthaftigkeit darin. „Wir sind keine Partytouristen“, das ist ein
Satz, den gerade die jungen Besucher betonen.
Viele sind angereist, manche sehr früh aufgestanden, um hierherzukommen.
Aber längst nicht alle kommen von weither. Clara Weber und Willi Tretter
kommen aus Reichenbrandt und Limbach-Oberfrohna, zwölf Kilometer von
Chemnitz entfernt. Sie ist 20, er 19, und von den Auseinandersetzungen mit
Rechtsextremen in ihren Schulklassen erzählen sie im Plauderton. Nicht weil
es schön wäre, aber weil es normal ist. Auch ihnen ist wichtig zu sagen,
dass sie aus politischen Gründen hier sind, auch wenn sie sich freuen,
gleich [4][Feine Sahne Fischfilet] hören zu können
Für die Punkband aus Mecklenburg-Vorpommern gehört Antifaschismus sozusagen
zum Markenkern, manche der anderen Musiker, die heute Abend hier auftreten,
zeigen sich normalerweise weniger politisch. Aber auf Einladung der
Chemnitzer Band [5][Kraftklub] sind sie alle gekommen, um das Motto der
innerhalb der letzten Woche organisierten Veranstaltung wahr werden zu
lassen: Wir sind mehr.
## Wie die Punkszene in Chemnitz Gräben überspringt
„Wir sind nicht naiv. Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass man ein
Konzert macht, und dann ist die Welt gerettet“, hatte der Kraftklub-Sänger
Felix Brummer vor der Veranstaltung gesagt. Das ist richtig, natürlich. Zu
unterschätzen ist die Wirkung dieses Konzerts aber auch nicht.
Am Ende kommt die Überraschung. Campino, der gerade mit den Toten Hosen
noch seine alten linken Songs wie „Das ist auch mein Land“ gespielt hat,
holt zwei „Brüder“ von ihm, wie er sagt, auf die Bühne.
Der eine ist Arnim von der Berliner Band Beatsteaks und der andere Rod,
Bassist von Die Ärzte. Mit ihm zusammen stimmen sie „Schrei nach Liebe“ an,
den Anti-Nazi-Song der Ärzte, die seit den Achtzigern eine mehr oder
weniger ernste Rivalität mit den Toten Hosen ausfechten. Undenkbar also,
dass Campino deren Lieder singt. Hier bei „Wir sind mehr“ werden selbst die
Grenzen des deutschen Punk niedergerissen. Und 65.000 singen fröhlich mit.
Doch ist das Konzert keine Punkveranstaltung. Die Toten Hosen sind die
Veteranen hier, „kurz vor der Rente“, wie Campino sagt. Ihre jüngeren
Nachfolger von Feine Sahne Fischfilet singen mit einfachen, oft etwas
pathetischen Punkhymnen gegen das Schlechte in der Welt an, vor allem gegen
Neonazis. Zwischendurch hält Sänger Monchi kurze Reden, in denen er
erklärt, dass so ein Konzert gegen rechts nur der Anfang sei, dass man auch
an anderen Orten und Tagen seine Stimme gegen Hetze erheben müsse. Und so
erheben alle ihre Stimme und grölen „Komplett im Arsch“.
## Heimspiel für die Rapper und Rocker aus Karl-Marx-Stadt
Neben den Punkbands geht es vor allem in die HipHop-Richtung. Trettmann,
der den Abend eröffnet, rappt über das Chemnitz in der Wendezeit, in der
man für weiße Sneakers ein Vermögen ausgegeben hätte. Er weiß das, er ist
im Plattenbauviertel von Karl-Marx-Stadt aufgewachsen: „Grauer Beton, rauer
Jargon“, heißt es im Refrain. Zwischendrin brüllt er von der Bühne: „Ich
sag: Wir sind. Ihr sagt: mehr!“
Ein Heimspiel ist das Konzert auch für die Jungs von Kraftklub, die Rap mit
Rock verbinden. Die Zeile „Ich komm aus Karl-Marx-Stadt“ singen nicht nur
hier, sondern auch auf Konzerten in der ganzen Republik alle lautstark mit.
Die drei Rapper von K.I.Z. sind die Provokateure des Abends. „Wo sind meine
links versifften Gutmenschen?“, begrüßen sie die Menge. Sie warnen davor,
dass es bei diesem Konzert darum geht, wer die besseren Deutschen sind, und
verkünden ironisch: „Wir haben vorhin Heiko Maas gesehen, wie er
eigenhändig fünf Neonazis verprügelt hat. Nicht immer nur reden – auch mal
was machen!“ Für die Politiker, die das Konzert nur gutheißen, solange
alles schön friedlich und harmonisch bleibt, hätten sie auch diesen einen
Song geschrieben: „Ich bring euch alle um“. Und alle so: bum, bum, bum,
bum. Friedlich bleibt es trotzdem.
Und die Hoffnung kommt auf, dass nun jeden Montag in Chemnitz bei guter
Musik gegen rechts gefeiert wird.
Tausende Menschen strömen nach den letzten Tönen mit leuchtenden Augen aus
der Menge heraus. Manche wirken etwas benommen, als müssten sie sich nach
vier Stunden Ausnahmezustand erst noch etwas orientieren. Sicher, viele von
ihnen wären vielleicht nicht gekommen, wenn es sich nur um um eine
Kundgebung gehandelt hätte und nicht um ein Konzert ihrer Lieblingsbands.
Aber sie haben sich an diesem Abend als Teil einer riesigen Menschenmenge
gefühlt, die gemeinsam gegen Rassismus und Neonazis aktiv geworden ist – es
wäre ein Wunder, wenn dieser Abend keinen Effekt auf sie hätte. Wer den
Grüppchen auf der Straße und im Park zuhört, der merkt, dass an sehr vielen
Stellen über politische Themen gesprochen wird. Und selbst wenn manche von
diesem Abend vielleicht nur mitnehmen werden, dass es bei denen, die gegen
rechts sind, gute Partys gibt, dann ist auch das so wenig nicht in diesen
Tagen.
## Wie Rechten ihre Dominanz verlieren
Am Karl-Marx-Monument, wo sich am Samstag wie auch am Montag vor einer
Woche rechtsextreme Hooligans, Neonazis und „Lügenpresse“ schreiende Bürg…
versammelt hatten, legen heute Abend DJs auf, ein paar Tausend Menschen
tanzen davor auf der Straße, lassen glitzernde Fahnen wehen.
Wenige Hundert Meter entfernt, dort, wo Kerzen und Blumen den Ort
markieren, an dem Daniel H. niedergestochen wurde, haben in den letzten
Tagen meist Rechtsextreme den Ton angegeben, haben sich zu den Hütern über
das richtige Trauern aufgespielt und alle angepöbelt, die ihnen nicht in
den Kram passten. Auch heute sind sie hier.
Aber sie haben nicht mehr die Hoheit über diesen Ort. Sie müssen sich der
Diskussion mit jungen Menschen stellen, die, anders als die meisten
Chemnitzer Passanten, die hier in den letzten Tagen vorbeikamen, überhaupt
keine Lust haben, die rassistischen Reden unwidersprochen zu lassen. Die
Intervention der Polizei später am Abend, die die Demokraten vom Mahnmal
abdrängt, nachdem einige Wortgefechte etwas lauter geworden waren, wird von
den Rechten mit Applaus quittiert. Ein Erfolg ist dieser Abend für sie
trotzdem in keinster Weise.
Da ist, und das ist vielleicht das Allerwichtigste, der Unterschied, den
das alles für Rafi und seine Freunde macht. Die Gruppe trifft sich fast
jeden Abend im Stadthallenpark, sie sitzen auf derselben Bank, hören Musik,
schicken bei WhatsApp Videos hin und her und teilen sich Zigaretten.
Manchmal rückt die Polizei an, stellt sich im Kreis um sie herum und
kontrolliert ihre Ausweise; der Stadthallenpark ist nämlich ein
kriminalitätsbelasteter Ort, da geht das auch ohne Anlass. „Sie machen das
immer nur bei uns, weil wir schwarze Haare haben“, sagt Rafi und zuckt mit
den Schultern, an so etwas sind sie alle schon gewohnt.
In den letzten Tagen aber haben sie meistens lieber darauf verzichtet, sich
an ihrer Bank im Park zu treffen. Stattdessen blieben sie in ihren
Wohnungen, jeder für sich. Wir haben Angst“, sagt Sabaoon Mullah, mit 17
Jahren der Jüngste der Gruppe, sanfte Gesichtszüge und ein bisschen
schüchtern.
## Der verletzte Afghane sagt: „Es war sehr gut.“
Ein Freund von ihnen, erzählen sie, sei schon letzten Sonntag von Rechten
attackiert worden, er liege seitdem im Krankenhaus. Am Samstag, als die
rechtsextreme Demonstration schon aufgelöst war, traf es einen weiteren
Bekannten: Saifullah Z., aus Afghanistan genau wie sie, wurde im Chemnitzer
Stadtteil Markersdorf von einer Gruppe Vermummter gejagt. Der Freund, mit
dem er unterwegs war, rannte schnell genug. Saifullah Z. nicht.
Auch Z. ist an diesem Montagabend mit den anderen unterwegs. Unter seinem
rechten Auge klebt ein großes weißes Pflaster, seine Augen sind
blutunterlaufen, die linke Wange rötlich-blau und angeschwollen. Z. spricht
mit leiser Stimme, er ist längst nicht so aufgekratzt wie Rafi. Aber auch
er lächelt, zaghaft: „Es war sehr gut, dass heute sehr viele Menschen da
waren, gegen die Nazis“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Heute können sie
ohne Angst wieder hier im Park sein, sie können sich dabei sogar mit Leuten
in ihrem Alter über Chemnitzer HipHop unterhalten, und es gibt niemanden in
dieser Gruppe, der darüber nicht sehr glücklich wirkt.
4 Sep 2018
## LINKS
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[4] /Feine-Sahne-Fischfilet/!t5021284
[5] /Kraftklub/!t5071722
## AUTOREN
Malene Gürgen
Juliane Streich
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