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# taz.de -- Linke Berliner Geschichte: Ein Punkkonzert zum Abschied
> Rüdiger Haese wurde 1980 bei Hausbesetzerprotesten in Berlin-Kreuzberg
> von der Polizei schwer verletzt. Jetzt ist der Mittsechziger schwer
> erkrankt.
Bild: Rüdiger Haese in seinem Kreuzberger Hinterhof
Rüdiger Haese geht es nicht gut. Der hochgewachsene Mittsechziger ist
schwer krank. Im September hat er Geburtstag, es wird wohl sein letzter
sein. „Ein dickes Punkkonzert und noch mal eine Woche nach Schweden“, das
wünscht er sich. Aber das ist nicht alles. Seit bald 38 Jahren sucht Haese
Gerechtigkeit, seit der verhängnisvollen Nacht vom 12. auf den 13. Dezember
1980. Seitdem ist Rüdiger Haese ein „Krüppel“, wie er selber sagt.
1954 wurde Haese in Prenzlau geboren. Als Zweijähriger verließ er die DDR
Richtung Westberlin auf dem Arm seiner Mutter. Die Familie wurde ins
Hunsrück weitergeschickt. Haese erinnert sich an die Schulzeit: „Alles ganz
schön autoritär.“ Später ging es weiter aus Rheinland-Pfalz nach
Nordrhein-Westfalen. In Remscheid lebte die Großmutter. Die ersten
Konflikte mit der Polizei ließen nicht lange auf sich warten: „So kleine
Kiffer, wie ich einer war, die wurden ja richtig verfolgt.“
Kaum war Rüdiger Haese alt genug, die Enge der Kleinstadt zu verlassen, zog
er herum, ging auf „Deutschland-Tour“. Mal hier arbeiten, mal dort. Ende
der Siebziger ein paar Wochen Knast: Hausfriedensbruch. In München
versuchte er mit Freunden, ein leerstehendes Haus zu besetzen.
Im Sommer 1980 kommt Haese nach Berlin. Schnell findet er ein WG-Zimmer in
Schöneberg, gleich um die Ecke vom Drugstore an der Ecke Potsdamer/
Pallasstraße. Arbeit gibt es im Forst in Grunewald, ziemlich gut bezahlt
sogar, eine ABM. Der Sommer geht vorbei mit Arbeit am Tag und Szene in der
Nacht. Der Herbst kommt, dann der Winter – am 12. Dezember die
Weihnachtsfeier mit Kollegen vom Forst. Während sich die anderen betrinken,
sitzt er draußen am Lagerfeuer. Alkohol ist nichts für ihn. Der frühe
Feierabend aber schon.
## „Auf nach Kreuzberg!“
Zurück im Drugstore der Appell: „Auf nach Kreuzberg!“ Am frühen Abend war
ein frisch besetztes Haus am Fraenkelufer rabiat geräumt worden. Die
Auseinandersetzungen, die dann folgten, sollten die vorerst schwersten der
Berliner Hausbesetzer mit der Polizei werden. Straßenschlachten bestimmten
das Bild von der Admiralsbrücke bis zum Oranienplatz.
Dort findet sich Rüdiger Haese in der Nacht wieder, vor einer Barrikade an
der Dresdner Straße. Aus einer Kolonne von Einsatzfahrzeugen, die den
Erkelenzdamm hinauffahren und nach links auf den Oranienplatz abbiegen,
schert eines aus und fährt mit aufheulendem Motor nach rechts – auf mehrere
Menschen zu. Rüdiger Haese kann nicht mehr zur Seite springen und wird von
dem Fahrzeug gegen die Barrikade aus Betonblumenkübeln gedrückt. Ob der
Polizeiwagen dann zurücksetzte und nochmals den bereits ohnmächtigen Haese
anfuhr, wie einige Zeugen beobachtet haben wollen, ist nie abschließend
geklärt worden.
Ein paar Leute tragen den Verletzten in die nächste Kneipe. Mit
Billardstöcken versuchen sie, seine Beine provisorisch zu schienen. Als
schließlich ein Krankenwagen kommt, wird Haese von den Sanitätern durch
die noch immer wogende Straßenschlacht und den Tränengasbeschuss getragen.
„Ich bin fast erstickt“, erinnert sich Rüdiger Haese, „aber die
Entlüftungsanlage in dem Krankenwagen war wirklich gut.“
Kaum dass sie losfahren, kann Haese wieder atmen. Nur richtig auf seinen
eigenen Beinen laufen, das kann er nie wieder. Am linken Oberschenkel ist
die Prothese befestigt. Auf dem roten mechanischen Kniegelenk ein
Tote-Hosen-Sticker, darüber mit schwarzem Stift das Datum: 12.12.1980.
Das Kreuzberger Szeneblatt Süd-Ost-Express besucht Rüdiger Haese kurz
darauf im Urban-Krankenhaus und zitiert ihn recht kämpferisch: „Die Leute
sollen mit den Besetzungen so lange weitermachen, bis ich wieder draußen
bin. Ich würde dann gerne mitmachen!“ Bis Haese wieder rauskommt, vergeht
ein Jahr. Die Reha danach tritt er auf Drängen der Eltern in der
Rhein-Ruhr-Klinik in Essen an. Lange aushalten kann er es da nicht.
## Aus Besetzern werden Verhandler
Zurück in Kreuzberg sucht sich Haese das besetzte Haus in größter Nähe zum
Ort seiner Marter und zieht dort ein. Im obersten Stockwerk, mit Blick über
die Oranienstraße, lebt er einige Jahre: „Hier war ja immer was los, und
das war die beste Aussicht.“
Und so sieht Haese von seinem Dachgeschoss aus, wie sich Kreuzberg schon in
den Achtzigern langsam verändert. Aus Instandbesetzern wurden Verhandler,
nach den Krawallen vom Fraenkelufer, dem Wechsel im Schöneberger Rathaus
zum Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker (CDU) und dem Tod des
jungen Klaus-Jürgen Rattay bei Hausbesetzerprotesten setzt sich die
Berliner Linie durch.
Bis Mitte der achtziger Jahre sind 77 Häuser legalisiert, dreimal so viele
geräumt. Der Prozess ist für die Szene auch intern konfliktreich. Rüdiger
Haese zum Beispiel will in jener Zeit auf gar keinen Fall mit der taz
sprechen, die sich wie die Grüne Alternative Liste nicht nur aus seiner
Sicht zu schnell auf die Seite der Verhandler geschlagen habe. „taz und
Grüne sind mit unserer Kraft und unserem Blut groß geworden“, erinnert sich
Haese, „und dann haben sie ihre ursprünglichen Ziele einfach vergessen, bis
hin zur Zustimmung zu Kriegseinsätzen. So ist das eben, wenn man oben
mitspielen will.“
Derweil wird auch sein Haus in der Oranienstraße legalisiert: „Morgens um
8.30 Uhr holten uns Bullenwannen ab, um den Mietvertrag zu unterschreiben.“
Später kauft das Mietshäusersyndikat das Objekt, das bis heute
selbstverwaltet geführt wird, inklusive monatlichem Plenum. „Einen Stachel
im Fleisch der Kapitalisten“, nennt Haese das, „schließlich könnte man mit
so einem Haus heute eine Menge Geld machen, aber davor ist das geschützt.“
## Eine Entschädigung gab es nie
Parallel kämpft Rüdiger Haese sieben Jahre um Entschädigung. Das
Amtsgericht Berlin spricht ihm 30.000 Mark Schmerzensgeld zu, auch wenn es
eine Teilschuld bei Haese sieht. Er hätte sich ohne Not in die Gefahrenzone
begeben. In zweiter Instanz kassiert das Landgericht das Urteil wieder und
Haese geht leer aus. Der Bundesgerichtshof weist die Klage auf
Schmerzensgeld 1987 in vollem Umfang ab.
In den Achtzigern bezieht Haese eine Weile Berufsunfähigkeitsrente, dann
Sozialhilfe. Mit Einführung der Hartz-IV-Reformen wird ihm, dem Krüppel,
bescheinigt, dass er zumindest in geringem Umfang arbeitsfähig sei. Seitdem
lebt er von ALG II – in der Bilanz also ein Leben fast 40 Jahre an der
untersten Grenze.
Passiv ist Haese in der Zeit aber nicht. Anfang der Neunziger zieht es ihn
nach Westdeutschland zu den Protesten gegen den geplanten Lückenschluss der
A33 zwischen Bielefeld und Osnabrück. Im mobilen Hüttendorf der
Umweltaktivisten nimmt er an der Blockade der geplanten Baustelle teil.
Gerne denkt Rüdiger Haese an die Unterstützung und Solidarität der Bauern
aus der Umgebung zurück.
Er kommt zurück nach Kreuzberg, zieht im selben Haus in der Oranienstraße
ins Erdgeschoss, da es mit dem Laufen immer schlechter wird. Alkohol ist
noch immer nichts für Rüdiger Haese, aber jetzt trinkt er trotzdem: zu
viel. Es folgen Abstürze und das Ringen gegen den Suff. Seit 2006 ist
Haese trocken.
## Gartenzwerg mit Hammer und Sichel
Der Gartenzwerg, der Rüdiger Haese mal geschenkt wurde, hat einen grünen
Daumen. Und einen Anstecker mit Hammer und Sichel. Er trägt eine
schwarz-rote Fahne, darauf der erste Vers der Internationale: „Wacht auf,
Verdammte dieser Erde!“ Auf seinem T-Shirt steht „Hate Fascism“. Der Zwerg
raucht einen riesigen Joint und schaut auf das gepflegte Grün in dem
schmalen, schattigen Kreuzberger Innenhof.
„Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen nach Hippie, aber das Schlimmste
ist doch die Zerstörung der Natur – dass Blumen keinen Wert haben.“ Die
Hofbegrünung ist sein Halt: „Gerade wenn man gegen Süchte kämpft, ist es
wichtig, eine Beschäftigung zu haben“, sagt Rüdiger Haese heute.
Ein bisschen mehr Geld wäre schön gewesen, ein Schmerzensgeld zum Beispiel,
um auch mal verreisen zu können. Ein Wiederaufnahme des
Entschädigungsverfahrens aber scheint aussichtslos. Der Fahrzeugführer, der
Rüdiger Haese damals die Beine zertrümmerte, stand nie vor Gericht. Es gab
in 38 Jahren keine Entschuldigung des Senats.
Ein Brief an den früheren grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Christian
Ströbele wurde freundlich beantwortet. Helfen kann Ströbele aber auch
nicht. Die derzeit einzig zugängliche Aufarbeitung der Ereignisse rund um
die Schlacht am Fraenkelufer ist eine umfangreiche Broschüre des
Ermittlungsausschusses aus der Zeit. Die darin gesammelten Zeugenaussagen
und Presseberichte zeichnen ein Bild maximaler Konfrontation. Die
beschriebene Brutalität der Berliner Polizei führte zu keinen Verfahren.
Lediglich einige Besetzer des Fraenkelufers wurden wegen Widerstands
angeklagt.
## Party zum Geburtstag
Die Freunde Rüdiger Haeses wollen ihm nun mindestens noch den Wunsch für
das dicke Punkkonzert erfüllen. Am besten zu seinem Geburtstag, dem 22.
September, der auch der Todestag von Klaus-Jürgen Rattay ist. Der noch
nicht einmal 19-jährige Rattay war 1981 bei Protesten gegen die Räumung
eines besetzten Hauses in der Bülowstraße und den CDU-Innensenator Heinrich
Lummer vor der Polizei flüchtend von einem Bus überfahren und tödlich
verletzt worden.
Wenn alles klappt, findet die Party für Rüdiger Haese dort statt, wo er
1980 seinen ersten Anlaufpunkt in Berlin gefunden hatte, im Drugstore. Das
selbstverwaltete Jugendzentrum steht inzwischen wie viele andere vor seinem
Ende am angestammten Ort. Zum Jahreswechsel enden die Mietverträge des
Drugstore und der Potse in dem früheren BVG-Gebäude an der Potsdamer
Straße. Das Gebäude ist 2008 an einen privaten Investor verkauft worden.
23 Aug 2018
## AUTOREN
Daniél Kretschmar
## TAGS
Hausbesetzer
Kreuzberg
Gentrifizierung
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
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Jugendhilfe
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