# taz.de -- Revolutionäres Sommerferienprogramm: Bohrer statt Barbie | |
> Ambitioniert: Der Kunstverein Langenhagen wandelt auf den Spuren des | |
> italienischen Künstlers, Architekten und Pädagogen Ricardo Dalisi. | |
Bild: Objekte für Kinder mit Kindern: aus Riccardo Dalisis Buch „Architettur… | |
Wenn man älter wird, neigt man vielleicht dazu, die eigene Kindheit in | |
glückliches Licht zu rücken. Trotzdem: Mir brauchte etwa nie jemand zu | |
sagen, wo, was und wie ich spielen könnte. Die Stadt meiner eigenen frühen | |
Lebensjahre, Wilhelmshaven, bot auch Jahrzehnte nach Kriegsende noch weite | |
Ruinengrundstücke, mysteriöse Kellersockel etwa und Treppenabgänge mitten | |
im wucherndem Grün, und Flächen verwilderten Bewuchses, die wohl mal | |
gepflegte Hausgärten waren. | |
Hier neuerlich Gebautes zu imaginieren, lag sicherlich nahe. Und so gingen | |
wir regelmäßig daran, mit Decken, Planen, Schnüren und Stöcken Hütten zu | |
bauen, mit ausgelegten Steinen neue Gärten abzustecken und uns gegenseitig | |
in diese neuen Räume einzuladen. | |
Lassen sich heutige Kinder dazu noch begeistern, bringen sie überhaupt die | |
nötige, ganz elementare Fantasie dafür mit? Diese Frage stellte sich Noor | |
Mertens, Leiterin des Kunstvereins Langenhagen. Kombiniert mit dem | |
Nachdenken, welche Aufgaben ein kleiner Kunstverein, abseits eines | |
großstädtischen Zentrums, über sein institutionelles Pflichtprogramm | |
hinaus zu erfüllen habe: für seine Mitglieder, für Künstler, die | |
Bevölkerung am Ort. Das Ergebnis: der noch bis Mitte August geöffnete | |
„Freiraum für Gedanken und Bauwerke“ in den Räumen und dem Garten des | |
Kunstvereins | |
## Desolate Umgebung | |
Es ist ein sehr ambitioniertes Ferienprogramm für Kinder und Jugendliche | |
zwischen sieben und 14 Jahren und natürlich deren Eltern, das Mertens hier | |
zusammen mit vielen wechselnden Künstler*innen aufgelegt hat. Thematisch | |
wandelt man auf den Spuren des italienischen Architekten, Künstlers und | |
Pädagogen Ricardo Dalisi aus Neapel: Als dieser Ende der 1960er-Jahre den | |
Auftrag für einen nie realisierten Kindergarten im peripheren Neubauviertel | |
Rione Traiano erhielt, kam er zum ersten Mal in diesen seit 1957 aus dem | |
Boden gestampften Stadtteil. 24.000 Einwohner lebten dort in Sozial- und | |
Notwohnungen, die Umgebung war trist bis desolat. Viele Kinder gingen nicht | |
zur Schule, waren sich selbst überlassen. | |
Mit Studierenden aus seinen Seminaren an der Architekturfakultät fand | |
Dalisi nach und nach das Vertrauen der Bewohner, vor allem der Kinder. In | |
Workshops fingen sie an zu zeichnen – und zu bauen: freie Objekte, an die | |
Wand gelehnt, in den Freiraum platziert, leichte Stab-, Flächen- oder | |
Zeltkonstrukte. Viele anfänglich skeptische Kinder ließen sich mitreißen, | |
schrieb Dalisi in seinem Tagebuch, sie inspirierten sich gegenseitig, | |
Erwachsene wurden neugierig. Vor allem: Alle arbeiteten zusammen, hämmerten | |
und werkelten in Zweier- und Dreiergruppen, behandelten gemeinsam | |
Materialien in einer unkonventionellen Logik, die er selbst nicht für | |
möglich hielt. | |
## Sozialer Katalysator | |
Diese Selbstermächtigung, die eigene Umgebung mit eigener Kraft positiv | |
verändern zu können, war der soziale Katalysator und stimulierte neue | |
Eigeninitiativen, etwa selbst angelegte Gärten. Trotz breiter Resonanz in | |
den Medien wurde das Projekt 1974 von den italienischen Behörden untersagt. | |
Dalisi veröffentlichte im selben Jahr seine Aufzeichnungen und viele | |
Fotografien unter dem Titel „Architettura d’animazione“. Ob unter heutigen | |
politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Vorzeichen so etwas | |
überhaupt noch denkbar wäre? Das sei nur am Rande gefragt. | |
Mertens und die beiden Künstlerinnen Christiane Oppermann und Sabine Müller | |
blicken gerade auf die zweite Woche ihrer Langenhagener Bauaktivitäten | |
zurück. Sie wollen natürlich keinen verklärten Vergleich mit Dalisis Zeiten | |
und Möglichkeiten ziehen. Langenhagen ist ja kein Problembezirk im | |
Speckgürtel Hannovers, hier wächst der Nachwuchs wohl eher überbehütet auf. | |
Sie bemerken aber, dass Kinder heute offensichtlich ganz anders ticken. | |
Viele haben nicht, oder noch nicht, den Mut gefasst, zusammen etwas zu | |
bauen, ein größeres Gebilde gemeinsam in Angriff zu nehmen. Lieber wird | |
beispielsweise ein Spielgerät für die eigene Katze konstruiert, das sich | |
mit nach Hause nehmen lässt, die Dimension wird durch die Kofferraumgröße | |
des elterlichen Autos bestimmt. Hier wollen die Künstler*innen der nächsten | |
Wochen sanft gegensteuern. | |
In den allerersten Tagen haben zehn Kinder, zusammen mit dem örtlichen | |
„Haus der Jugend“, eine kleine temporäre Zeltstadt im Garten gebaut, die | |
dem Wind nicht so recht trotzen konnte. Dafür wurden Stoffe mit Tee oder | |
Kurkuma gefärbt, mit einfachen Kartoffelstempeln ganz kunstvoll farbig | |
bedruckt. Schnell stellte sich dieser textile Bereich als Domäne der | |
Mädchen heraus. Die Jungen greifen lieber zu Hammer, Säge oder | |
Akkuschrauber – und nehmen die Werkzeuge selbstbewussteren Mädchen ganz | |
schnell wieder aus der Hand. | |
## Durch Konsumwelten gendergeprägt | |
Auch dieser Gender-Aspekt ist eine Erkenntnis, die geschlechterseparierte | |
Prägung durch Konsumwelten in Blau und Pink von frühen Kindesbeinen an, | |
zeigt ihre Wirkung. Deshalb gilt auch hier: erhöhte Aufmerksamkeit. | |
Gemeinsam, so viel sei verraten, will die Bremer Bildhauerin Claudia | |
Piepenbrock mit Jungs und Mädchen noch einen Klangwagen bauen, immerhin ist | |
die städtische Musikschule als weiterer Partner gleich nebenan. Und auch | |
das Hannoveraner Künstlerpaar Lotte Lindner und Till Steinbrenner wird | |
etwas Größeres als kollektive Arbeit in Angriff nehmen. | |
Wer Zeit und Lust hat, ist gern in Langenhagen gesehen: zum Mitmachen, zum | |
Schauen oder um sich anregen zu lassen. Sommerferien gibt es ja auch 2019 | |
wieder. | |
30 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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