# taz.de -- Essay zur Linken in den USA: ¡Ay, America! | |
> Donald Trump bläst zur Jagd auf Einwanderer. Die Ironie dabei: | |
> Gleichzeitig schreitet die Lateinamerikanisierung der USA voran. | |
Bild: Steht Alexandria Ocasio-Cortez für die politische Zukunft der USA? | |
Wo die Gefahr wächst, wächst das Rettende bekanntlich auch. In den Wochen, | |
[1][als Trumps Grenzpolizisten Kinder von ihren Müttern wegnehmen], | |
schicken Wähler aus dem New Yorker Bezirk Bronx eine 28-jährige | |
Sozialistin, Alexandria Ocasio-Cortez, als bald jüngstes Kongressmitglied | |
der Geschichte nach Washington. | |
Der Milliardär Trump lässt seinen Wahlkampf von Gönnern bezahlen, von | |
Firmen wie der Geo-Gruppe, die an der Südgrenze Privatgefängnisse mit | |
orwellschen Namen wie „Family Center“ betreiben. Ocasio-Cortez dagegen, die | |
als Bartenderin arbeitete, um das Haus ihrer Eltern vor den Banken zu | |
retten, lehnt solche Firmengelder aus Prinzip ab. Am Wochenende vor ihrem | |
Wahlsieg reiste sie kurz nach Texas, um mit der Grenzpolizei persönlich in | |
Dialog zu treten. | |
Diese beiden Politikstile, das Rechtsautoritäre und das | |
Spontansozialistische, vertragen sich nicht, vielmehr schaukeln sie sich | |
gegenseitig hoch. Und noch ist längst nicht zu erkennen, welcher sich in | |
den USA langfristig durchsetzen wird. | |
Trump hat den zentralamerikanischen Einwanderern den Krieg erklärt. Dieser | |
Krieg wird von einem General, Trumps Stabschef John Kelly, umgesetzt. Oft | |
genug haben die US-Militärs auf zentralamerikanischem Boden interveniert, | |
um den Willen Washingtons durchzusetzen. Truppen wurden nach Guatemala, | |
Honduras oder in die Karibik geschickt, um Rohstoffe zu sichern, | |
Arbeitsbedingungen zu bestimmen oder gar Präsidenten. Doch erst in unseren | |
Tagen übt Washington solche Interventionen gegen zentralamerikanische | |
Bürger nördlich des Rio Grande aus, in Texas, Arizona oder Tennessee. | |
Gegen illegale Arbeiter, nicht gegen illegale Arbeit | |
Früher wurden Grenzgänger an der amerikanische Südgrenze von der zivilen | |
Migrationsbehörde (INS) gefasst und wieder zurückgeschickt. Doch weil | |
diese sogenannte Catch-and-release-Politik („fangen und laufen lassen“) für | |
die Trump-Wähler nicht mehr ausreicht, werden die Unerwünschten nun | |
ausnahmslos verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. | |
Mehr noch, der Staat ist vorübergehend so selbstherrlich, Eltern von ihren | |
Kindern zu trennen, so, wie einst die DDR mit den Kindern von | |
Republikflüchtigen umging. Umgesetzt wird diese neue Politik der | |
Einwanderungsbehörde (ICE) innerhalb des Departments of Home Security. | |
Diese wurde Ende 2001 als Reaktion auf den Terrorangriff vom 11. September | |
geschaffen und steht für eine Militarisierung der Grenzpolizei. | |
Interventionen gegen Bürger Zentralamerikas gibt es nicht nur an der | |
Grenze, sondern in Fabriken im Inland, auf dem Land in Iowa oder in | |
Schlachthöfen in Tennessee. In diesem Jahr wurden alle | |
zentralamerikanischen Arbeiter auf einmal in Morristown, Tennessee, von | |
ICE-Agenten verhaftet. Die Arbeiter suchten laut Berichten der New York | |
Times panisch Zuflucht unter blutigen Schlachtbänken oder im Gefrierraum. | |
Dem Arbeitgeber Schlachthof drohte dagegen keine Strafverfolgung. | |
Solche Aktionen gegen illegale Arbeiter – nicht aber gegen illegale Arbeit | |
an sich – kommen bei Trump-Wählern erstaunlich gut an. Man muss sie als | |
eine Variante der militärischen Shock-and-Awe-Taktik („Schrecken und | |
Furcht“) verstehen, wie sie die Generäle auf dem Weg nach Bagdad im Jahr | |
2003 gewählt hatten. Diese Einsätze dienen Trump als Propaganda vor den | |
Midterm-Wahlen in diesem November: Shock and awe für Latinos in | |
Schlachthöfen und Genugtuung für Trump-Wähler in ihren Palästen und Hütten. | |
Ocasio-Cortez schafft, was nicht mal Sanders konnte | |
Sicher haben Einwanderer die Löhne gedrückt, wenn sie abscheuliche Arbeit | |
in Schlachthöfen für 11,50 Dollar die Stunde übernahmen – Arbeit, die auch | |
arme Südstaatler nicht machen wollten. Jetzt kann Trump behaupten, dass | |
durch solche Razzien Jobs für Einheimische frei gemacht werden und dass | |
irgendwann und irgendwo die Löhne steigen. | |
Grundlage von Trumps Politik ist die Tatsache, dass es nicht nur in | |
Zentralamerika immer schwieriger wird, sich zu ernähren, zu behausen und | |
verarzten zu lassen. Auch in den USA ist all dies schwieriger geworden. | |
Seit der Finanzkrise ist das Land dabei, sich sozusagen zu | |
zentralamerikanisieren: Vielen Menschen fehlt es an Essen, Behausung oder | |
Medizin, für nicht wenige bedeutet Freiheit vor allem die Freiheit, unter | |
einer Brücke schlafen zu können. Die Shock-and-Awe-Taktiken Washingtons | |
zeigen der traditionellen Bevölkerung, dass, wenn sie auch unter der neuen | |
Härte leidet, es immer noch andere gibt, die noch ausgelieferter sind. | |
Es gibt aber auch eine rettende Dialektik. Da sind Menschen wie Alexandria | |
Ocasio-Cortez, die in ihrem Kongressbezirk Nummer 14 zwischen Queens und | |
der Bronx als demokratische Sozialistin geschafft hat, was der führende | |
Sozialdemokrat Amerikas, Bernie Sanders, bislang noch nicht geschafft hat: | |
die zentristische Clinton-Obama-Parteimaschinerie ernsthaft zu stören. | |
Ocasio-Cortez will eine Gesundheitsversicherung für alle, eine | |
gebührenfreie höhere Bildung, und sie verlangt die Auflösung der | |
Migrationsbehörde ICE. Sie selbst ist Kind von Puertoricanern aus der | |
Bronx, einem Bezirk, in dem noch heute 41 Prozent der BewohnerInnen im | |
Ausland geboren sind. In ihrem Wahlkampfspot sieht man, wie sie ein enges | |
Treppenhaus hochläuft. Ihre Stimme sagt wie nebenbei: „Ich bin nicht aus | |
einer wohlhabenden Familie mit dynastischer Macht.“ Was sich wie eine | |
Binsenweisheit anhört, ist eine kleine Zeitenwende. Hat ein | |
Kongressmitglied sich jemals ausdrücklich gerühmt, nicht reich und mächtig | |
zu sein? Und damit noch alle Oligarchensprösslinge zu beleidigen? | |
Seit der Finanzkrise leidet auch die Mittelklasse | |
Wenn Ocasio-Cortez die Brücke zwischen Queens und der Bronx überquert, hat | |
sie gleichzeitig zwei besondere Anblicke vor sich: einerseits den größten | |
Gefängniskomplex der Welt, Rikers Island, wo 80 Prozent der Insassen | |
Afroamerikaner oder Latinos sind. Andererseits den Trump Golf Links, seit | |
2015 der teuerste städtische Golfklub in New York. Die Nachwuchspolitikerin | |
lebt somit in einer Welt, in der viel vernachlässigt wird und sehr wenig | |
gelöst. Zwar hat New Yorks Bürgermeister de Blasio das Ende von Rikers | |
Island angekündigt – genau wie Obama das Schließen von Guantánamo | |
versprochen, aber nie geliefert hat. | |
Die Anhänger von Ocasio-Cortez sind keineswegs nur Latinos aus der | |
Unterschicht. Ihre größte Unterstützung war dort, wo meist | |
überdurchschnittlich gebildete Bürger am härtesten von Gentrifizierung und | |
Mietsteigerungen getroffen wurden. Denn seit der Finanzkrise und den in der | |
Folge steigenden Mieten leidet auch die urbane Mittelklasse unter denselben | |
Unsicherheiten wie die Armen in New York. | |
So kommt es, dass der Sozialismus in Amerika, wo er traditionell verpönt | |
war, plötzlich gut ankommt. Die urbanen Amerikaner in Bezirken wie Obamas | |
Chicago, dem Äquivalent etwa von Kreuzberg-Friedrichshain, finden | |
Sozialismus plötzlich so gut wie Yoga. Aber Sozialismus ist nicht Yoga, man | |
kann ihn nicht einfach für sich praktizieren. Bevor man seinen politischen | |
Anhängern gibt, muss man anderen etwas nehmen. In Lateinamerika bedeutete | |
das fast immer Kampf. | |
Ocasio-Cortez hat ihren ersten Kampf gewonnen. Von dem besiegten Joe | |
Crowley – „King of Queens“, einem Mann, der Trumps Golfkurs toll fand, ab… | |
für das Rikers-Gefängnis wenig Interesse aufbringen konnte – wird jetzt | |
gesagt, dass er der letzte der großen Bosse der New Yorker Demokraten war, | |
ein Mann, der die mächtige Mehrheitsführerin des Kongresses, Nancy Pelosi, | |
bald beerben wollte. | |
Für den Status Quo | |
Pelosi, bereits 78, will nun gar nicht mehr an die Rente denken und einfach | |
weitermachen. Sie bescheinigt dem Wahlsieg der ein halbes Jahrhundert | |
jüngeren Ocasio-Cortez zwar „Vitalität“, meint aber, für die Partei hät… | |
dies keinen programmatischen Einfluss. Ganz so, als wäre die Frau aus der | |
Bronx eine neue Haushaltshilfe in dem Gutshaus, wo Frau Pelosi alleine | |
lebt. | |
Pelosis Partei ist mittlerweile die einzige Kraft in Amerika, die | |
ausdrücklich für den Status quo kämpft, eingeklemmt zwischen dem | |
Trump-Faschismus und der aufbegehrenden jungen Linken. Wollen die Linken | |
diese Partei kapern, müssen sie raus aus der urbanen Boheme und rein ins | |
Landesinnere. Immerhin gibt es dort auch Latinos wie Richard Ojeda in West | |
Virginia, der ausgerechnet in Trumps Hinterhof dieses Jahr für die | |
Demokraten in den Kongress will. Vielleicht könnten solche Latinos, die | |
mehr solidarisch als individualistisch, mehr staatsorientiert als | |
anarchistisch denken, eines Tages eine Wende für Amerika bringen. | |
Bis dahin bleibt die Ironie, dass Amerika unter Trump einen frontalen Kampf | |
gegen den Süden just in dem Moment anzettelt, da Amerika selbst in seinen | |
Sozialverhältnissen immer mehr auf dem Niveau des Südens ankommt. Das Leben | |
in Nordamerika wird zunehmend auch von Ungleichheit und ausufernder | |
Rechtlosigkeit geprägt, Erscheinungen, die bis dato die Länder Zentral- | |
und Lateinamerikas kennzeichneten. Die Möglichkeiten der charismatischen | |
Führung nach dem Vorbild einer Evita Perón locken, aber die sich türmenden | |
Probleme bleiben bestehen. | |
Einst staunte Alexis de Tocqueville über die amerikanische Demokratie im | |
frühen 19. Jahrhundert, wo fast jeder Wähler eigenes Land zu haben schien, | |
wo Menschen Freiheit und Gleichheit atmeten wie die Luft. Aber die | |
angelsächsisch geprägte Welt in Nordamerika, wie man sie kannte, die Welt | |
der Mittelklasse und der Tradition des bürgerlichen Liberalismus, leidet | |
unter Schwindsucht. Mit jeder Finanzkrise und den einhergehenden Übeln – | |
Zwangsversteigerungen, Polizeigewalt, Wählerunterdrückung – schwindet diese | |
Welt. | |
Welche beiden möglichen Wege in die Zukunft der USA offen stehen, kann man | |
im Süden des amerikanischen Kontinents besichtigen. Das ist entweder der | |
rechtsautoritäre Weg oder der linksemanzipatorische, der Weg Augusto | |
Pinochets oder der Weg Salvador Allendes. Man könnte auch sagen: Es gibt | |
den Weg Donald Trumps – oder den Weg von Alexandria Ocasio-Cortez. | |
22 Jul 2018 | |
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## AUTOREN | |
Anjana Shrivastava | |
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