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# taz.de -- Antisemitismus im Internet: Viermal mehr Judenhass als 2007
> Berliner Wissenschaftler haben Antisemitismus im Netz untersucht. Dabei
> haben sie nicht nur eine Radikalisierung der Sprache festgestellt.
Bild: Offline-Kommentar: Aktion „Köln trägt Kippa“
BERLIN taz | Antisemitismus im Netz hat massiv zugenommen. Das Internet ist
zum primären Multiplikator von Antisemitismus geworden. Zu diesen
Ergebnissen kommt eine am Mittwoch vorgestellte Langzeitstudie der
Technischen Universität Berlin. Dabei wurden mittels eines eigens
entwickelten Computerprogramms über 265.000 Online-Kommentare in
Kommentarspalten von Qualitätsmedien, in sozialen Netzwerken,
Ratgeberportalen sowie Foren detailliert untersucht. Zwischen 2007 und 2018
habe sich die Zahl antisemitischer Äußerungen in Kommentarspalten
vervierfacht, fast kein Bereich des Netzes sei mehr frei von
Judenfeindlichkeit.
Die Zunahme geht laut Studie mit einer starken Tendenz der Radikalisierung
bei den antisemitischen Äußerungen einher. Dies sei durch eine Verdopplung
der Vergleiche Israels mit dem Nationalsozialismus, Gewaltfantasien und
Entmenschlichung in den Kommentaren seit 2009 festzustellen. Das
„Sagbarkeitsfeld für Antisemitismen“ habe sich im Internet „exorbitant
vergrößert“, heißt es. Über alle Schichten hinweg würden zudem
jahrhundertealte Stereotype wie die des „ewigen Juden“ sowie der „jüdisc…
Rachsucht und Zerstörung“ gepflegt. Klassischer Antisemitismus spiele also
weiter eine zentrale Rolle.
Des Weiteren sei eine „Israelisierung der Semantik“ festzustellen, wie die
für die Studie verantwortliche Sprachwissenschaftlerin Monika
Schwarz-Friesel bei der Vorstellung sagte. Judenfeindliche Stereotype
würden auf den israelischen Staat projiziert, Israel fungiere als
„kollektiver Jude“. Auf Juden bezogene Stereotype der Rachsucht, Gier,
Unmenschlichkeit und Weltbeherrschung sowie die Ritualmordlegende, Teufels-
und Pestmetaphern werden – auch im muslimischen Antisemitismus – oft auf
Israel übertragen. Selbst bei untersuchten Texten, die nichts mit Israel zu
tun hatten, beispielsweise zur Beschneidungsdebatte oder zu einer Rede des
Präsidenten des Zentralrats der Juden zum Thema Migration, wurde oft
israelbezogener Antisemitismus festgestellt.
Das Internet sei außerdem ein Beschleuniger für die Normalisierung von
Antisemitismus in der gesamten Gesellschaft. Dem israelbezogenen
Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft schlage dabei „die geringste
Empörung entgegen“, so Schwarz-Friesel. Sie hält deshalb diese Spielart des
Judenhasses für die Gefährlichste – durch den geringen Widerstand könne er
salonfähig werden und erhalte im Gegensatz zu links- oder rechtsextremen
Formen mehr Zuhörer. Der israelbezogene Antisemitismus sei „auf dem Weg,
ein ‚politisch korrekter Antisemitismus‘ zu werden“, so die
Wissenschaftlerin.
## Forschung vor Umbruch
Auch migrantischem Antisemitismus müsse „ganz energisch“ entgegengesteuert
werden. „Es sind auch Menschen nach Deutschland gekommen, die ein
antisemitisch untermauertes Bild von Juden und Israel haben. Diese
Feststellung bedeutet keine Nähe zur AfD“, so Schwarz-Friesel. Zum
Antisemitismus unter Linken stellten die Forscher fest, dass diese Form von
Judenhass oft geleugnet und abgewehrt wird. Die Rede von einem Kritiktabu
an Israel sei eine Schutzbehauptung. Es wurde in der Untersuchung kein
einziger Fall in den Massenmedien gefunden, in dem Kritik an israelischer
Politik mit Antisemitismus gleichgesetzt wurde.
Insbesondere Solidaritätsaktionen gegen Judenhass würden zu starken
Abwehrreaktionen von Internetnutzern führen. Solche Aufrufe seien
„innerhalb weniger Stunden infiltriert mit zahlreichen Antisemitismen“. 37
Prozenten der Kommentare zu solchen Aktionen enthielten Antisemitismus.
„Die gesamte Antisemitismusforschung steht auch wegen dieser Studie vor
einem Umbruch“, meint Schwarz-Friesel. Während bei Umfragen die
Beeinflussung durch die Fragestellung, soziale Erwünschtheit und politische
Korrektheit eine Rolle spielten, wurden hier erstmals „natürliche Daten“
erhoben – also solche, die ohne Beobachtung produziert wurden.
Dass die Bundesregierung einen Antisemitismusbeauftragten eingesetzt hat,
sei richtig – um einer Marginalisierung des Problems entgegenzuwirken,
dürfe es jetzt allerdings keine weiteren Beauftragten für andere
Diskriminierungsformen geben. „Der Antisemitismus ist ein einzigartes,
kulturell verankertes Glaubenssystem, das seit 2000 Jahren tradiert wird“,
sagt Schwarz-Friesel zur taz. „Antisemitische Stereotype basieren dabei im
Gegensatz zu allen anderen Vorurteilssystemen nicht auf einer
Übergeneralisierung. Es gibt kein einziges den Juden angedichtetes
Stereotyp, das empirisch verankert wäre. Bei Vorurteilen wie der
Muslimfeindlichkeit geht es hingegen nicht um vollständig irreale
Fantasiekonstrukte, sondern um eine induktive Übergeneralisierung einzelner
Fälle.“
Schwarz-Friesel kritisierte zudem Justiz, Politik und Zivilgesellschaft für
den ihrer Ansicht nach zu schwachen Kampf gegen Antisemitismus. Wenn ein
Brandanschlag auf eine Synagoge in Wuppertal vor Gericht als „Israelkritik“
durchgehe oder im Urteil gegen den Gürtelschläger in Berlin ein
antisemitisches Motiv unerwähnt bleibe, „bekommen Antisemiten zunehmend das
Gefühl, dass sie offener auftreten dürfen.“
## „Armutszeugnis“
Es sei ein „unglaubliches Armutszeugnis“, wenn zu Demonstrationen gegen
Judenhass nur ein paar Politiker und Vertreter jüdischer Verbände kommen.
Dass Politiker sagen, sie wollen „mit aller Härte“ gegen Antisemitismus
vorgehen, sei in den vergangenen Jahren ganze 1062 Mal passiert. „Es darf
nicht bei solchen Floskeln bleiben.“
Der Zentralrat der Juden forderte anlässlich der Studie, das
Netzwerk-Durchsetzungsgesetz auf seine Wirksamkeit bezüglich der Eindämmung
von Hatespeech zu überprüfen. „Stück für Stück hat eine verbale
Radikalisierung und Enthemmung stattgefunden, die uns mit tiefer Sorge
erfüllt. Denn Worten folgen irgendwann auch Taten. Antisemitismus im Netz
ist kein virtueller Antisemitismus, sondern eine echte Bedrohung“, sagte
der Zentralratspräsident Josef Schuster in einer Erklärung.
18 Jul 2018
## AUTOREN
Frederik Schindler
## TAGS
Antisemitismus
Juden
Hasskommentare
Schwerpunkt Rassismus
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Anti-Israel
Xavier Naidoo
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