Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Anthropologin über Srebrenica-Massaker: „Tief vergrabene Informa…
> 23 Jahre nach dem Srebrenica-Genozid dauert die Bergung der Toten noch
> immer an. Sarah E. Wagner forscht über die forensische Aufarbeitung.
Bild: Die forensischen Pathologen haben mit einer extremen Vermengung der Leich…
Kurz vor Ende des Bosnienkrieges (1992 bis 1995) fiel am 11. Juli 1995 die
UN-gesicherte Enklave Srebrenica an serbische Verbände. [1][Daraufhin
wurden mehr als 8.000 Bosniaken ermordet] und ihre Leichenteile
systematisch in den umliegenden Hügeln der heutigen Republika Srpska auf
verschiedene Massengräber verteilt. Viele Bosniaken aus der Zeit des
Krieges gelten weiterhin als vermisst. Noch Jahrzehnte später arbeitet man
an der Rekonstruktion der Vorfälle, darunter auch die Anthropologin Sarah
E. Wagner.
Seit einigen Jahren ist der [2][11. Juli ein nationaler Trauertag in
Bosnien-Herzegowina]. Anlass für ein Gespräch mit Sarah E. Wagner über
Forensik und schwierige Wahrheiten.
taz: Frau Wagner, die Identifikation von 8.000 geschätzten Opfern des
Genozids in Srebrenica hat bis heute in der Region in Bosnien und
Herzegowina zu einem der größten forensischen Aufarbeitungsprojekte in
Europa geführt. Wie kam es dazu?
Sarah Wagner: Die Aufarbeitung ist vor allem eine Antwort auf das
Verschwinden vieler Menschen während des Kriegs von 1992 bis 1995. Zunächst
hofften viele, ihre vermissten Angehörigen könnten noch leben. Dann stellte
sich ein kollektiver Prozess ein, der von Angst zu Resignation und
schließlich zu der Hoffnung führte, wenigstens die Überreste der Vermissten
zu finden und die Wahrheit über die Todesumstände zu erfahren. Aber die
systematische Verteilung der Leichenteile auf verschiedene Gräber machte
eine Identifikation nach klassischen Methoden unmöglich.
Von 1996 bis 1999 wurde gerade mal ein Prozent der Leichenteile
identifiziert. Die Überreste mussten an wirklich ungeeigneten Orten wie in
einer Salzmine gelagert werden, die Infrastruktur war nicht vorhanden. Zu
diesem Zeitpunkt erkannte die Internationale Gemeinschaft ihre
Mitverantwortung an den Ausmaßen des Genozids an. Sie war bestrebt, die
Verbrechen zumindest im Nachhinein aufzuklären. Ab 1999 finanzierte das
Ausland eine materielle Infrastruktur und sandte wissenschaftliche
Expertise. Dazu gehörten auch die Möglichkeiten heutiger DNA-Analysen.
100.000 Proben wurden seit 1999 von Angehörigen Verschwundener gesammelt.
Durch diese DNA-Datenbank können die Knochenfunde aus den Gräbern
abgeglichen und zugeordnet werden.
Die DNA-Proben wurden auch außerhalb Bosniens bei Verwandten vermisster
Personen eingesammelt. In Wien etwa schlugen wir unsere DNA-Sammelstelle in
einem Restaurant auf, in dem sich Exilbosnier regelmäßig trafen.
Die forensischen Experten befinden sich in einer Stellung zwischen aktiver
Trauerarbeit durch den Kontakt mit den Hinterbliebenen und
wissenschaftlich-kriminologischer Analyse.
Sie sind in einer komplexen Situation. Die größte Herausforderung für die
Mitarbeiter ist bis heute die Unvollständigkeit der Körper. Etwa 65 Prozent
der Srebrenica-Opfer wurden aus sekundären Massengräben exhumiert, das
heißt, es hat eine extreme Vermengung von Leichenteilen vieler
verschiedener Opfer gegeben. Was tun, wenn nur ein paar Knochen des
Vermissten gefunden wurden? Die meisten Angehörigen wollen es trotzdem
wissen. Dann geht es um die Frage, ob diese wenigen Knochenteile begraben
werden sollen. Eine Person, die man geliebt hat, ohne ihren Kopf oder
Schädel zu beerdigen, ist verstörend. Es gibt Fallmanager, die sich um
solche Angelegenheiten kümmern.
In Ihrem Buch „Srebrenica in the Aftermath of Genocide“ erwähnen sie den
Fall von Hassans Mutter, deren Überreste nach jahrzehntelanger Suche unter
einem Berg von Hausmüll gefunden wurde.
Hassan beschreibt dort die mehrfache und absichtsvolle Gewalt, der seine
Mutter ausgesetzt war. Nach der Ermordung hat man ihren Körper wie Abfall
einfach weggeworfen.
Sehr wahrscheinlich haben die bosnisch-serbischen Anwohner unwissentlich
jahrelang ihren Hausmüll auf die Überreste der verschollenen Mutter
geworfen. Viele von ihnen sind ja selbst Unschuldige, obwohl sie zur
Bevölkerungsgruppe der Täter gehören. Diese Unschuldig-Schuldigen müssen
doch bis heute in einer sehr schizophrenen Situation leben.
Ja. Das Schwierige ist das seltsame Verhältnis zwischen Wissenden und
Unwissenden. Die Überreste von 7.000 Opfern in Srebrenica wurden bereits
gefunden. 1.000 werden immer noch vermisst. Es muss weitere Gräber, weitere
Zeugen und bislang unbekannte Täter geben. Doch niemand sagt etwas. Die
Tatsache, dass die Informationen immer noch tief vergraben liegen, hat
negative Auswirkungen auf die ganze Bevölkerung. Das ist extrem unfair.
Denn es gibt viele bosnische Serben, die die Komplexität des Krieges
verstehen und die begangenen Gräueltaten nicht abstreiten. Aber in dem
ambivalenten Zwischenraum, in dem diese Menschen leben, ist der Druck der
Verneinung hoch. Familien wohnen in Dörfern, vielleicht an Orten des
Massakers. Es bleibt oft ein Tabu, darüber zu sprechen.
In anderen Teilen des Landes hingegen scheint das Wort Genozid in die
Umgangssprache übergegangen zu sein. Man spricht etwa vom Urban Genocide
als Synonym für die kapitalistische Stadtentwicklung Sarajevos.
Einen Grund für die extreme Präsenz des Wortes sehe ich in der Reaktion auf
die systematische Verneinung des Völkermords seitens einer politischen
Elite in der Republika Srpska. Diese Verleugnung findet auf vielen Ebenen
statt und ist für die Betroffenen extrem destabilisierend. Für die Bosnier
ist die Anerkennung der Verbrechen durch den Internationalen Gerichtshof
als Völkermord wichtig. Doch das Label hat das Potenzial, andere Vorfälle
zu überschatten. Was ist mit den Massenerschießungen in Projidor zu Beginn
des Krieges? Niemand will etwas auf die Waage legen, was nicht wägbar ist.
Trotzdem sind viele Fragen offen.
Mit den forensischen Bemühungen in Srebrenica soll für die Betroffenen die
Wahrheit herausgefunden werden. Das Museum am Mahnmal hingegen hat sich zur
Aufgabe gemacht, die Wahrheit der Verbrechen an Außenstehende zu
vermitteln: Dort läuft man durch die verlassenen Hallen der ehemaligen
Batteriefabrik, in der im Juli 1995 die Niederländer noch ihre UN-Basis
aufgebaut hatten und vor deren Pforten die serbischen-bosnischen
Streitkräfte ihre Opfer aussortierten. Die Angestellten des Museums sind
Überlebende von damals und berichten vor dieser „Kulisse der
Wahrhaftigkeit“ von ihren Erlebnissen. Das ist sehr ergreifend. Doch
gleichzeitig scheinen sich diese Zeugenaussagen mit bekannten Geschichten
aus den Medien zu vermengen. Und plötzlich weiß man nicht mehr, was
Erinnerung, was Mythos und was letztlich die Wahrheit ist.
Es ist womöglich schwer, die Rolle des Museums – zu informieren und zu
repräsentieren – auf eine vollkommen gelungene Art zu erfüllen. Die Gefühle
der Menschen sind immer noch sehr unmittelbar mit den Ereignissen
verquickt. Und in dieser Situation können sich die Emotionen zerlegen
zwischen dem Wunsch, etwas nachzuerzählen, und dem persönlichen Detail,
eingefangen von dem übergeordneten Ziel, die Vermittlungsaufgabe des
Museums zu erfüllen.
Solche Beobachtungen konnte man auch bei Zeugen im Gerichtsprozess in Den
Haag machen. Wir glauben oft, Wahrheit müsste unverfälscht sein. Aber das
stimmt nicht. Das Holocaust Memorial in Washington, D. C., beginnt mit der
amerikanischen Erfahrung, mit einer lichtvollen Installation über die
Befreiung der Konzentrationslager. Ob das für die Deutschen der Wahrheit
entspricht?
11 Jul 2018
## LINKS
[1] /UN-Tribunal-in-Den-Haag-zu-Srebrenica/!5465800
[2] /Jahrestag-Massaker-von-Srebrenica/!5089267
## AUTOREN
Sophie Jung
## TAGS
Lesestück Interview
Serbien
Forensik
Srebrenica
Bosnien und Herzegowina
Aufarbeitung
Bosnien-Herzegowina
Literatur
Schuld
Ruanda-Völkermordprozess
UN-Tribunal Ex-Jugoslawien
Ratko Mladić
## ARTIKEL ZUM THEMA
Jehona Kicajs Debütroman „ë“: Entkommen aus der Sprachlosigkeit
Jehona Kicaj erzählt von einer Jugend in Deutschland als Kind von aus dem
Kosovo Geflohenen. Das Debüt steht zu Recht auf der Shortlist zum
Buchpreis.
Forensikerin über das Böse: „Radikalisierung macht alles einfach“
Nahlah Saimeh begutachtet die Schuldfähigkeit von Menschen, die
Gewaltverbrechen begangen haben. Ein Gespräch über dämonisierendes Denken.
Ruander verklagen Belgiens Regierung: „Offensichtlich krimineller“ Befehl
Völkermordüberlebende aus Ruanda verklagen Belgiens Regierung. Es geht um
den Abzug von Blauhelmen vor einem Massaker im Jahr 1994.
UN-Tribunal zu Ex-Jugoslawien: Gegen die Gummiwand
Das Internationale Strafgericht zum Krieg in Ex-Jugoslawien beendet seine
Arbeit. Trotz mancher Fehlurteile hat es wichtige Arbeit geleistet.
Kommentar Urteil im Fall Mladić: Er zeigte nie Bedauern
Das UN-Tribunal hat im Fall Mladić getan, was es tun musste. Die
Vorraussetzungen für Versöhnung sind dennoch schlecht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.