# taz.de -- Kolumne Fremd und befremdlich: Sommer in der Stadt | |
> Überall schreiende, schwitzende, rotzende Menschen. Aber in einem milden | |
> Dämmerzustand lassen sich die anderen ertragen, denn die anderen sind | |
> auch wir. | |
Bild: Auch an der Hamburger Außenalster kann man im Sommer viele Mitmenschen e… | |
Sommer in der Stadt, da MÜSSEN wir draußen sitzen. Wir dürfen nicht in | |
unseren Wohnungen bleiben. Es gibt Stellen in der Stadt, da gibt es keinen | |
Boden mehr, nur noch Körper, ein Boden aus Körpern. | |
Ich wusste früher nicht, wie ich mich diesem Trend gegenüber verhalten | |
sollte. Einerseits spürte auch ich diesen Druck, andererseits strengte mich | |
dieses Draußen auch an. Es sind so viele Menschen um mich herum, in diesem | |
Draußen. Es gibt keine Toiletten. Das sind nur einige Nachteile des | |
Draußen. | |
Und dann ist da noch die Sonne. Ich bekomme sofort Kopfschmerzen, wenn ich | |
mich nur ein wenig in die Sonne setze. Als Kind lag ich die ganzen | |
Sommerferien lang in meinem abgedunkelten Zimmer auf dem Bett und las | |
Bücher. „Geh doch mal raus!“, sagte meine Mutter. Sie konnte es nicht | |
ertragen, dass ich nicht rausgehen wollte. | |
Inzwischen weiß ich, man MUSS rausgehen, im Sommer, in der Stadt. Man muss | |
inmitten von Tausenden von Menschen sitzen, zwischen ihren schwitzenden | |
Körpern, ihren kleinen Musikanlagen, den Gesprächen über andere Menschen, | |
zwischen Politik und Essen, Tupperdosen voller Nudelsalat, dem Ploppen von | |
Bierflaschen, rennenden Kindern, schreienden Babys, kackenden Hunden, alten | |
Männern mit gewaltigen Bäuchen, rotzenden Teenagern, Leuten, die | |
Strandstühle mit sich herumtragen, hochroten Damen, die kurz vor dem | |
Hitzetod stehen, halbnackten Vierzehnjährigen, die stolz ihre kleinen Busen | |
und Hintern und Penisse recken, Handys, Handys, Handys, die nichts davon | |
unprotokolliert lassen. | |
In Hamburg ist es absolut richtig, zum Beispiel auf der Wiese rund um den | |
See im Park Planten un Blomen, draußen zu sitzen. Ich war am Wochenende | |
dort, ich ertrug sogar die abendlichen [1][Wasserlichtspiele] und ich habe | |
mich vollständig mit dem Draußen in der Stadt ausgesöhnt. | |
Planten un Blomen hat Toiletten, und es gibt vereinzelt Schatten. Es gibt | |
leider immer noch sehr viele Menschen, aber wenn diese Menge eine gewisse | |
Dichte erreicht hat, dann ist es wie in der Natur, wie in einem Bienenstock | |
oder in einem Ameisenhaufen: Man lässt sich einfach hineinfallen, gibt | |
seine persönlichen Ansprüche auf, wird Teil des Ganzen. Man vegetiert. | |
Liegt und schaut. | |
Man verlangt nicht mehr nach Ruhe, denn Ruhe kann es nicht geben. Man | |
betrachtet die Kinder, die sich schlagen, die kreischen, fallen, heulen, | |
bis die Eltern laut nach ihnen rufen, ihnen eine kleine Ohrfeige geben, | |
dann ein Eis – alles wieder gut. | |
Man arrangiert sich mit dem Gangsterrap aus dem Handy eines | |
Fünfzehnjährigen mit Undercut und Gucci-T-Shirt, der eine Zigarette raucht | |
und seinen Freunden Worte zubellt. Mit den Liebenden, deren Zärtlichkeiten | |
kurz vor dem Geschlechtsverkehr angelangt sind. Mit den muslimischen | |
Frauen, die einen ganzen Haushalt mitgebracht haben, sie essen und lachen, | |
und sofort wünsche ich mir, ein Teil von ihnen zu sein. Ihre Kinder spielen | |
Fangen und fallen über mein Gesicht. Aber das macht nichts. Nichts macht | |
etwas. | |
## Es gibt kein Drinnen mehr | |
Auf der Toilette steht ein Junge vor den Waschbecken und bohrt sich in der | |
Nase. Über seine nackte Brust läuft blaues Eis. Eine riechende alte Frau, | |
die zwanzig Röcke übereinander trägt und ebenso viele Blusen, bittet mich | |
um vier Euro. Vier Euro? Wieso gerade vier? Ich gebe ihr einen. Sie | |
schimpft mich aus, spuckend und mit bebenden Lippen. | |
Ich wasche mir die Hände und betrete wieder die Stadt, die gerade auf | |
dieser einen Wiese sitzt. Ich verstehe, warum ich im Sommer draußen sein | |
MUSS. Die Stadt IST hier. Es gibt kein Drinnen mehr, das Ich löst sich auf. | |
Ich verschmelze mit den anderen, meine Haut wird weich und durchlässig. Es | |
ist zu heiß, um zu leiden. In einer Art milden Dämmerzustand lassen sich | |
die anderen ertragen, denn die anderen sind auch wir. | |
Natürlich könnte man wegfahren. Ans Meer. In die Natur. Aber nichts ist wie | |
das Draußen im Sommer in der Stadt. Man kann sich nicht dagegen wehren. Man | |
MUSS da raus. | |
4 Jul 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://plantenunblomen.hamburg.de/wasserlichtkonzerte/ | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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