| # taz.de -- Lebensqualität in deutschen Städten: Schlusslicht Gelsenkirchen | |
| > In einer Studie zur Lebensqualität in Deutschland ist Gelsenkirchen auf | |
| > dem letzten Platz gelandet. Ist es dort wirklich so schlimm? Ein Besuch. | |
| Bild: „Früher haben die Leute hier malocht. Heute sind sie meckrig“ | |
| Gelsenkirchen taz | In Gelsenkirchen City weht kein Wind. 32 Grad, das Rot | |
| der Sonnenschirme ist verblichen, unter denen ein paar Händler Erdbeerkörbe | |
| verkaufen. „Zwei für drei!“ Ihre Rufe mischen sich mit dem Schlurfen von | |
| Sandalen auf Asphalt. Mit dem Geräusch flügelschlagender Tauben und dem von | |
| Löffeln, die in Eisbechern kratzen. Und mit Gesprächsfetzen – man hört die | |
| Leute reden: | |
| „Könn’ wa zahlen, Kathi?“ | |
| „Ey, ich hab mich gestern rasiert.“ | |
| „Deine Kamera macht mich so hässlich.“ | |
| Rechts schiebt eine Frau ihren Rollator. Links tritt eine Frau, die | |
| Kopftuch trägt, von einem Mann zurück. Ihre Stimme wird schrill: „Hast du | |
| mit der Sex gehabt oder was?“ | |
| In Gelsenkirchen City trifft man so aufeinander. In der Altstadt, auf dem | |
| Heinrich-König-Platz, den zwei Kirchen überragen, die sich gegenüberstehen | |
| –die eine katholisch, die andere evangelisch. Wo die Tram in den Untergrund | |
| fährt, sich stuckverzierte Fassaden neben Betonbauten reihen. Wo man zur | |
| Sparkasse geht, in volle Cafés und den „Schalke“-Laden. | |
| ## Ort des Geplänkels | |
| Der „Heinrich“ ist der Marktplatz. „Drehpunkt. Treffpunkt. Mittelpunkt“… | |
| Stadt, wie es auf gelsenkirchen.de heißt: Im Mai 2017 ist er nach | |
| jahrelangem Umbau fertig geworden. Der „Heinrich“ ist Ort des Geplänkels. | |
| Hier erfährt man schnell, wie man in dieser Stadt lebt: | |
| „Alter, hier gibt’s keine Jobs.“ „Und keine Frauen.“ | |
| „Was hier alles zu Ende geht! Erst der Friseur, dann die Apotheke.“ | |
| „Eigentlich gibt’s nur Schalke und Schrebergärten.“ | |
| Ist es wirklich so schlimm? | |
| Gelsenkirchen hat einen Ruf. Nicht nur wegen Schalke, der Fußballkarrieren | |
| von Neuer, Özil und Gündoğan. Sondern weil die Stadt mit 260.000 Einwohnern | |
| seit dem Herbst „AfD-Hochburg“ genannt wird. Bei der Bundestagswahl | |
| schaffte die AfD 17 Prozent der Zweitstimmen. | |
| ## Wenig Sonne, viele Raucher | |
| Und dann ist Gelsenkirchen für „No-go-Areas“ bekannt. Für seine | |
| „Schrottimmobilien“ und „Scheinarbeit“, wie es in der Zeit oder der WAZ | |
| stand. Für „Clan-Strukturen“ und einen „Arbeiterstrich“. Für den | |
| Rhein-Herne-Kanal, der den wohlhabenderen Norden vom berüchtigten Süden | |
| trennt. Für Kinderarmut und eine Arbeitslosenquote von rund 14 Prozent. Für | |
| das Zechensterben und stetig verblassende Industrieromantik. | |
| „Diese Melancholie.“ | |
| Bei Städterankings schlecht abzuschneiden ist man hier gewohnt. Das Gefühl, | |
| in einer Verliererstadt zu leben, vertraut. Einer sagt: „Geht eh allet de | |
| Bach runter!“, und einer: „Ah, Platz 401“, als er auf die | |
| „Deutschland-Studie“ angesprochen wird, die vor Kurzem erschienen ist: Im | |
| Auftrag des ZDF wurden darin sämtliche Regionen der Republik auf ihre | |
| Lebensqualität untersucht. Gelsenkirchen wurden unter anderem schlechte | |
| Luft und wenige Sonnenstunden attestiert, außerdem die meisten volljährigen | |
| Raucher. | |
| Platz 401 war der letzte. | |
| Ist die Stadt ein Sonderfall? Was ist hier los? | |
| ## Ein bisschen Dolce Vita | |
| Neumarktgasse 1. Elke und Dieter Hanelt sitzen an die Außenwand des | |
| „Graziella II“ gelehnt. Jenes Café am Heinrich-König-Platz, in dem die | |
| Gelsenkirchener ein bisschen auf Dolce Vita tun, mit Sonnenbrillen „’nen | |
| Espresso“ bestellen. Hanelts sitzen so, dass beide „zum Lästern“ auf den | |
| „Heinrich“ schauen können: er Jahrgang 1939, mit Jeans und Cola. Sie | |
| Jahrgang 1946, mit Cappuccino und rosa Lippenstift. Fast jeden Tag kommen | |
| sie her, aus dem Seniorenzentrum um die Ecke. Dieter Hanelt sagt: | |
| „Gelsenkirchen war mal eine reiche Stadt.“ Mit den Zechen Hugo oder | |
| Bergmannsglück, wegen derer „die Polen“ kamen: „Die waren ganz nett.“ | |
| Elke Hanelt sagt: „Gelsenkirchen hat sich verändert.“ 1984 traf sie „Did… | |
| beim Tanz, sagte „Ich bin frei“ zu ihm, und das Leben in Gelsenkirchen war | |
| „ein Traum“. Einer mit Tanzlokalen, mit Kapellen und Krawatten. „Die | |
| Mädchen alle in Petticoats.“ | |
| Heute würden manche ihrer Freunde die Innenstadt meiden. „Es verkommt | |
| viel.“ Elke Hanelt sieht einer Gruppe Männer hinterher, mit dunklem Haar | |
| und dunkler Haut. Abends gehe sie ungern alleine raus, sagt sie. Da habe | |
| sie mittlerweile Angst. „Verstehen Sie?“ | |
| Angst? Wovor? | |
| Gelsenkirchens Geschichte ist eine deutsche, eine der Zuwanderung. Nach dem | |
| Krieg suchten Vertriebene ihren Platz in der Stadt, in den Fünfzigern die | |
| Gastarbeiter. „Die Polen, Türken, Griechen und Portugiesen“, meint Dieter | |
| Hanelt, ohne die aus Gelsenkirchen kein Industriezentrum geworden wäre. | |
| Keine „Stadt der 1.000 Feuer“. | |
| ## Einst ein Drittel größer | |
| 1959 kam Gelsenkirchen auf 390.000 Einwohner und war damit ein Drittel | |
| größer als jetzt, wo Geflüchtete aus Syrien und dem Libanon hier wohnen und | |
| es – so heißt es öfter auf dem „Heinrich“ – vor allem Probleme mit �… | |
| Rumänen und Bulgaren gebe. „Buntröcke“, sagen manche. | |
| Für Zugewanderte aus Rumänien und Bulgarien gilt seit vier Jahren die | |
| Arbeitnehmerfreizügigkeit. Und seither, heißt es, „kommen sie“. Weil | |
| Gelsenkirchens Mieten günstig sind, oft unter fünf Euro pro Quadratmeter | |
| liegen. Und weil das „Schrottimmobilien“-Geschäft floriert, bei dem sich | |
| „Dealer“ leerstehende Wohnungen in Gerichtsprozessen ersteigern, die sie | |
| vorrangig an Migranten aus Südosteuropa vermieten. An so viele, dass | |
| manchen gerade ein Matratzenplatz bleibt. | |
| „Wie sich das Stadtbild verändert.“ Elke Hanelt, auf dem | |
| Heinrich-König-Platz an die Caféwand gelehnt, lässt den Blick schweifen. | |
| Von der Einkaufsmeile links – Backwerk, Deichmann, Kebab Haus – zur | |
| katholischen Kirche weiter rechts, neben deren Tor eine Frau kniet und um | |
| Kleingeld bittet. „Wir sind ja nicht aus Zucker“, sagt sie. „Aufgewachsen | |
| in Trümmern“, sagt er. Trotzdem, sagt sie, vergleichen sie längst: „Wie es | |
| früher war und heute. Heute gefällt es mir nicht mehr.“ | |
| Ist Gelsenkirchen, Platz 401, ein Brennglas? Eine Stadt, deren Probleme | |
| eigentlich die Probleme eines Landes sind – Überalterung, Angst vor | |
| Fremden, vor Hartz IV? | |
| Eine, in der sich schärfer als in anderen zeigt, wo Integration stattfinden | |
| müsste – wenn sie nicht mehr auf der Arbeit stattfinden kann, weil es wenig | |
| Arbeit gibt: auf der Straße. In der City. Auf dem Platz. | |
| „Nichts gegen Ausländer, aber es sind echt kaum noch Deutsche hier.“ | |
| „Mit den Türken hat es nie Probleme gegeben. Die sind hilfsbereit.“ | |
| „Die sagen hier: Scheißtürken! Und dann gehen sie Döner essen.“ | |
| ## Der Blick aus dem Rathaus | |
| Ebertstraße 11. Hier liegt das Rathaus, das sie renoviert haben, im Stil | |
| des „Backsteinexpressionismus“. Runde Ecken, dunkelrote Front. Im | |
| Erdgeschoss geht es zum Bürgercenter, dessen Sitzreihen gefüllt sind – und | |
| zum Bistro mit Blick auf den Heinrich-König-Platz. Der Bürgermeister setzt | |
| sich ans Fenster, sieht raus und sagt: „Früher war der Platz ein stinkendes | |
| Loch.“ Eine verwinkelte Bausünde der Siebziger, voller kleiner Treppen und | |
| Sträucher. „Im Grunde ein großes Pissoir.“ | |
| „Dann kam mein Stadtbaurat und sagte: Was hältst du davon, wenn wir auf das | |
| Loch ’nen Deckel machen?“ | |
| Frank Baranowski, der Oberbürgermeister, hat auf das Loch einen Deckel | |
| gemacht. Er gilt im Pott als Politstar und jenseits von Nordrhein-Westfalen | |
| als „einer der klügsten Köpfe der Partei“. Und das, obwohl seine SPD von … | |
| auf 33,5 Prozent gestürzt ist, sich im Rathaus seit dem Sommer 2015 die | |
| Beschwerden über Geflüchtete mehren. Baranowski, schmal, wach, das Jackett | |
| über den Bistrostuhl gehängt, sagt: „Darunter Dinge, die man vor zehn | |
| Jahren so wahrscheinlich nicht artikuliert hätte:,Alle am Kragen packen und | |
| rauswerfen.'“ | |
| ## Der Bürgermeister lädt das ZDF ein | |
| Baranowski hat einen Plan: Mit dem „Gelsenkirchener Appell“ will er etwas | |
| erreichen, das Ökonomen unter dem Begriff „Zweiter Arbeitsmarkt“ | |
| zusammenfassen: „etwa Menschen Mitte fünfzig“, die mehrfach ihre Jobs | |
| verloren haben, „gesellschaftlich sinnvolle Arbeiten“ verrichten lassen. | |
| „Die Frau in der Kita, die das Mittagessen warm macht.“ Der Mann im | |
| Stadtquartier, der schaut, wo wieder Müll abgeladen wurde. Dafür bekämen | |
| sie wenigstens den Mindestlohn, meint Baranowski. „So tun die Menschen was | |
| und bekommen dafür Geld. Anders als jetzt: Sie bekommen Geld fürs | |
| Nichtstun.“ | |
| Den Appell hat Baranowski „Frau von der Leyen, Frau Nahles und Herrn Heil“ | |
| vorgestellt. Er hat eine Stadterneuerungsgesellschaft gegründet, die nach | |
| und nach Gelsenkirchens „Schrottimmobilien“ aufkauft, renoviert und zu | |
| vermieten versucht. Er hofft darauf, dass die SPD irgendwann wieder „als | |
| Kümmerin“ wahrgenommen wird, und darauf, dass man in der Stadt sieht, „wie | |
| sich die Lebensqualität ändert, sobald Sie um die Straßenecke fahren“. | |
| Das ZDF lädt er ausdrücklich ein, den Sitz des Senders von Mainz nach | |
| Gelsenkirchen zu verlagern. „Das würde uns im Gegensatz zu einer Studie | |
| wirklich helfen. Denn was passiert denn bitte schön jetzt?“ | |
| Baranowski lächelt, dabei ist ihm nicht zum Lächeln. Eine Sisyphusarbeit | |
| sei das! „Du schiebst den Felsen ein Stück hoch und prompt rollt er wieder | |
| runter.“ | |
| ## Die Bürger wachküssen | |
| Er glaubt, dass man die Gelsenkirchener wachküssen müsse; ihre Haltung, es | |
| werde „schon wer richten“, seit den Bergbauzeiten tief verankert sei. | |
| „Damals war alles organisiert, von der Kinderbetreuung bis zum | |
| Familienurlaub.“ | |
| Aber, na ja, Baranowski sieht auf die Uhr: Die Zahl der Geflüchteten sei | |
| nicht wegzureden. „15.000 Zuwanderer und Flüchtlinge in dreieinhalb | |
| Jahren“, und die vorrangig im Süden der Stadt. „Wenn Sie mich fragen, was | |
| die größte Herausforderung ist, dann das: den sozialen Frieden | |
| hinzukriegen.“ | |
| Im Süden der Stadt, am „Heinrich“, klingt das so: | |
| „Wo sollen wir denn hin?“ | |
| „Dieses Gefühl, dass der Sozialstaat von einer Gruppe ausgehöhlt wird.“ | |
| „Die Türken sagen:,Wir haben doch alles gemacht, was ihr wollt. Geschuftet. | |
| Ein Haus gekauft. Den Garten gepflegt. Und jetzt kommen die Syrer und ihr | |
| stellt ihnen eine Wohnung!'“ | |
| Auf einer Mauer im Park, hinter dem Rathaus, steht: „Bulgarische Parx“. | |
| Auf dem Schild vor einem Handyshop steht: „INTERNET ZU HAUSE AUCH MIT | |
| SCHUFA!“ | |
| ## „Spaß, Alter“ | |
| Und hinter dem Heinrich-König-Platz, von dem die Straßen abzweigen wie die | |
| Seitenarme bei einem Fluss – im Norden führen sie zum Zoo, im Süden zum | |
| Bahnhof, zu Primark und H&M –, stehen Khaled, Erion und Battcel. Vor einer | |
| Spielhalle, sie treten von einem Bein aufs andere. Vor, zurück. Sie flippen | |
| ihre Feuerzeuge, rrritsch. Sie meinen es nicht so, mehr so als Show. „Spaß, | |
| Alter.“ | |
| Erion, Narbe auf der Stirn, verkauft dir alles, sagt er. Koks, Gras, Speed. | |
| „Mein Gras macht dich fertig.“ | |
| Khaled will beweisen, dass er nie Heroin genommen hat. Er zeigt seine | |
| Armbeugen. Einstichfrei, beide. | |
| Dass jeder von ihnen im Knast war, sagen sie. „Mit 27 rein, mit 33 raus.“ | |
| Standard, sagen sie. „Normal, Alter.“ „Ich war drei Mal“, Erion grinst. | |
| „Wir sind Triebtäter, verstehst du? Der Hunger treibt uns dazu.“ – Wozu?… | |
| „Waffenhandel, Drogenhandel.“ Battcel kommt ein bisschen nah, plötzlich | |
| wird er ernst. „Die Leute schauen mich an, weißt du.“ – Wie? – „Ande… | |
| seit die Flüchtlinge da sind. Die halten mich jetzt auch für einen.“ | |
| Aber Junge, inschallah, Gelsenkirchen sei ihre Stadt. „Unsere Familien sind | |
| hier.“ – „Wir bleiben.“ – „Aus ’m Pott raus geht nicht klar.“ | |
| ## Ist es in München so viel besser? | |
| Es ist, als seien die Gelsenkirchener Partner ihrer Stadt. Manche längst | |
| unglücklich mit ihr – aber treu. Wäre es da wirklich soviel besser, in | |
| München zu leben? | |
| „Was hilft es jetzt, zu wissen: Wir sind das Schlusslicht?“ | |
| „In Berlin müssen Sie mit der U-Bahn fahren, wenn Sie in den Park wollen!“ | |
| Während man in Gelsenkirchen in den nächsten Park laufen kann. Mit dem | |
| Aufzug den Turm der stillgelegten Zeche „Nordstern“ hochfahren und dann, 83 | |
| Meter unter sich, Weite sehen. Grüne Flächen, Halden wie Hobbithügel. | |
| Dampfwolken, die wie riesige Zuckerwatten aus Schornsteinen steigen. | |
| Wie die Menschen hier „anna Bude“ sagen, allein. „Et reicht jetzt mit de | |
| Sauferei, ich zitter schon.“ Oder: „Ich schmier’ dir gleich de Butter auf | |
| de Rücke.“ Dass es zum Fußballstadion die Schalker Meile entlanggeht, auf | |
| der sie das eine gelbe Haus mit blauen Farbbeuteln beworfen haben. | |
| ## Ein Friedhof in Blau-Weiß | |
| Man kann sich in Gelsenkirchen auf einem Schalke-Friedhof mit zwei | |
| Torrahmen beerdigen lassen, in den Gräbern stecken blau-weiße | |
| Platzreservierungen, „für einen Schalke-Fan“. | |
| Man kann nach Bochum oder Essen fahren, ohne es zu merken. „Pommes | |
| Schranke“ bestellen. In Gläser gefüllte Königsberger Klopse finden. Nahe | |
| gelegene Orte, deren Namen man nicht mehr vergisst. Hamme, Grumme, Wanne. | |
| Werne, Herne, Gerthe. | |
| „Die Stadt kriegt ihr Stigma nicht los.“ | |
| „Duisburg ist schlimmer.“ | |
| Man wird in Gelsenkirchen selten Leute treffen, die mit Wellensteyn-Jacken | |
| durch die Straßen laufen, wie sie das in Hamburg gern tun. Keine, die sich | |
| viel selbst feiern, wie etwa in Köln. Keine Massen wie in Neukölln, die | |
| sich schwer für einen Lebensstil entscheiden können, weil sie sich so lange | |
| in schwarzen Kleidern über Gin Tonics fragen, was nur los ist mit ihnen. | |
| ## Hier spricht keiner von seinem Projekt | |
| Es scheint fast nicht vorstellbar, dass in Gelsenkirchen jemand diese Sätze | |
| sagt, die in Kreuzberg ständig fallen: „Ich arbeite gerade an so ’nem | |
| Projekt.“ – „So ’n Freund von mir macht da ’ne Ausstellung.“ | |
| In Gelsenkirchen nämlich geht es ums Wesentliche. Dort wird die Sehnsucht | |
| nach Einfachheit noch formuliert, frei von der Angst, nicht ausreichend | |
| cool oder individualistisch zu wirken. Man trifft überhaupt wenig Menschen, | |
| die wirken wollen; die Gelsenkirchener haben anderes zu tun. | |
| Stephan Planz etwa, 46 Jahre. Er macht Mittagspause im „Graziella II“, vor | |
| ihm liegt der „Heinrich“. Planz war „den ganzen Vormittag am Laufen“. D… | |
| Treppen hoch in die Etagen, die Treppen runter in die Keller. „Wenig | |
| Dacharbeit, vor allem Messtätigkeit.“ Er ist Schornsteinfeger, trägt | |
| Rußreste im Gesicht. Seit 28 Jahren lässt er, wie vor ihm sein Vater, „die | |
| Kugel“ in Gelsenkirchens Kamine. Er sagt: „Früher haben die Leute hier | |
| malocht. Heute sind sie meckerig.“ Die Fachgeschäfte seien weg, stattdessen | |
| die 1-Euro-Läden da. | |
| Er liebe es trotzdem, mittwochs zum Feierabendmarkt „auf den Platz“ zu | |
| gehen. Oder an Neujahr neben dem Bürgermeister für ein Foto zu posieren. | |
| „Dass du mir nix Schlechtes über die Stadt schreibst!“ | |
| ## Die Musiktheater, die Seen, die Ü30-Partys | |
| Er zeigt seinen schwarzen Zylinder und setzt ihn auf. Gibt doch so viel: | |
| das Musiktheater, die Seen. Die Ü30-Partys, die im Standesamt stattfinden. | |
| Und, und, und. Planz erzählt, dass er bei Manuel Neuer die Heizung gemessen | |
| hat. Und bei Neuers Mutter. | |
| „Darf ich Sie mal anfassen?“, fragt ihn eine Frau im Café. „Bringt doch | |
| Glück, oder?“ | |
| Und dann ist da noch Yves. | |
| Yves Eigenrauch. Trägt das „eigen“ im Namen, das ihn in 229 | |
| Bundesligaspielen und zwölf Jahren Schalke beliebt gemacht hat. Eigenrauch | |
| ist einer, der leise spricht und leise hinterfragt, ein Verzweifler am | |
| System. „Yves, wie hälst du das aus?“ heißt der Song, den ihm die Band | |
| Tomte vor Jahren gewidmet hat. Das „hälst“ im Titel so falsch geschrieben | |
| wie bezeichnend: Wie wahrscheinlich war es, dass „Yyyyyves“, wie ihn die | |
| Fans im Stadion riefen – einer, der las und für die taz Kolumnen schrieb –, | |
| in den Fußballbetrieb passte? | |
| ## Das Sein und die Welt | |
| Yves also ist mit dem Rad zum „Heinrich“ gekommen. Glatze, Hornbrille, | |
| ausgewaschene Cordhose – ein Typ wie Thomas D. Er hat die Beine auf einer | |
| Bank gegenüber der Kirche überschlagen und sagt: „Sachen gibt’s“, als d… | |
| die Ministranten einziehen und eine Kapelle spielt – lautlos, weil | |
| nebendran Männer mit Laubbläsern über den Platz dröhnen. | |
| Wenn Yves erzählt, dann wenig über Fußball und viel über das Sein und die | |
| Welt. Davon, dass er lange gern in Gelsenkirchen gelebt hat und jetzt gern | |
| in der Nähe lebt, zurückgezogen, er braucht das so. | |
| Er erzählt, dass er als Jugendlicher ein rosarotes Bild davon im Kopf | |
| hatte, was es heißen würde, Profispieler zu sein. Dass es jenes Bild nicht | |
| mehr gab, als er selbst einer war; seine Unbeschwertheit endete, mit 22, | |
| 23, vielleicht auch schon bei der Bundeswehr. | |
| Yves sagt dann, dass es in Gelsenkirchen viele schöne Altbauten gibt, aber | |
| Schönheit eine Frage der Betrachtung sei. Dass die Gesellschaft ein | |
| Problem mit der Betrachtung habe, dieses Stürzen vom Einen zum Nächsten. | |
| Dass es eigentlich einen Bürgerkrieg geben müsste, hätten die Leute wieder | |
| Zeit zum Denken. Oder aber lauter Depressive. | |
| ## Yves Eigenrauch zuhören | |
| Es ist dann, als hörte man Yves Eigenrauch beim Denken zu: | |
| „Wenn man hier durch die Straße geht, da wundert man sich, klar: Wo bin ich | |
| eigentlich? Ist das noch meine Stadt? | |
| Und das ist für viele ein Problem. Die Älteren fühlen sich ja teilweise | |
| nicht mehr wie in Deutschland. Keine Ahnung, warum es immer ein | |
| Gegeneinander ist und seltenst ein Gemeinsam. Wahrscheinlich liegt das in | |
| der Natur des Menschen: Dieses instinktiv Animalische, für sich zu sorgen. | |
| Zu schauen, dass man selbst über die Runden kommt. | |
| Keine Ahnung, wofür es Klassifizierungen braucht. Eine Studie des ZDF. Wie | |
| hat man das früher genannt – Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, ABM? Ist das für | |
| Unternehmen hilfreich? Um große Projekte zu planen und 500 Mitarbeiter zu | |
| holen? Damit die Dortmunder jetzt sagen können, hehe, die Gelsenkirchener | |
| sind die Scheißigsten?“ | |
| Das Klischee übrigens, dass im Pott alles trist sei, schmöddelig und grau – | |
| Yves lacht. | |
| „Ach ja.“ | |
| 6 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Annabelle Seubert | |
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