# taz.de -- Sozialer Wandel im Ruhrgebiet: Dortmunder Nische | |
> Die Nordstadt der Ruhrgebietsstadt ist von Migration und Armut geprägt. | |
> Kleine Initiativen verändern das Viertel langsam – aber von unten. | |
Bild: Weil die Stadt sich nicht gekümmert hat, kümmern sich die Bewohner in E… | |
Dortmund taz | Die Bänke im Park sind von Bierflaschen übersät. Drei | |
Schulmädchen auf dem Heimweg drücken sich an einer laut diskutierenden | |
Gruppe betrunkener Männer vorbei. Nicht weit weg warten zwei junge Männer | |
in einer Ecke, die leise „Haschisch“ murmeln, und vor den Wettbüros | |
versammeln sich auch an diesem Nachmittag bereits die ersten Neugierigen. | |
Direkt hinter dem Bahnhof und doch gesellschaftlich abgehängt – für die | |
Stadt Dortmund bedeutet der Bereich Innenstadt-Nord mit seinen sozialen | |
Problemen vor allem Negativschlagzeilen. Dabei ist das Viertel längst im | |
Wandel. | |
Als Frederik Schreiber, 28, vor drei Jahren die alte Arbeiterkneipe in der | |
Nähe des Hafens entdeckte, war es vor allem die günstige Miete, die ihn | |
überzeugte. Er hatte damals gerade sein Studium beendet und begann als | |
Musiker zu arbeiten. Mit ein paar Freunden schliff er die Bar ab, räumte | |
den Keller aus und eröffnete im Sommer 2013 den „Rekorder“. Seither | |
veranstaltet das kleine Kollektiv in dem neu gegründeten Kunst- und | |
Kulturverein regelmäßig Konzerte und Lesungen. | |
An diesem Abend sitzt nur eine Handvoll junger Menschen auf den alten Sofas | |
im Rekorder, Rauch hängt in der Luft, aus den Boxen kommt elektronische | |
Musik. Schreiber ist ein blonder junger Mann in blauem Schlabberpulli, sich | |
selbst nennt er einen „Kulturaktivisten“. Im Sommer haben sie im Park | |
nebenan ein Musikfestival veranstaltet, im Winter legen sonntags Dortmunder | |
KünstlerInnen zu Kaffee und Kuchen auf. Schreiber ist ein ruhiger Typ, der | |
aufblüht, wenn er von dem Kulturprojekt spricht. „Ein Ort wie der Rekorder | |
lebt von seiner Umgebung“, sagt Schreiber und öffnet ein Kronen-Pils, | |
„woanders hätte das so nicht funktioniert.“ Die günstigen Mieten sind ein | |
Grund dafür, dass Leute wie er hierherziehen. Aber da ist noch mehr: Kleine | |
Initiativen verändern den Stadtteil und machen ihn langsam attraktiv. | |
Die Dortmunder Nordstadt, zwischen Hafen und ehemaligen Industriegebieten | |
gelegen, ist geprägt von Armut und Migration: Fast die Hälfte aller 55.000 | |
Menschen hier besitzt keinen deutschen Pass, viele beziehen Hartz IV, knapp | |
zwei Drittel haben einen Migrationshintergrund. Als in den 1960ern die | |
türkischen Gastarbeiter im Ruhrgebiet aus den Zügen stiegen, fanden sie in | |
dem Arbeiterviertel nördlich des Bahnhofs günstige Wohnungen. Zwanzig Jahre | |
später schlossen die ersten Zechen, doch die Zugewanderten sind längst | |
heimisch geworden: Gemüseläden und türkische Cafés haben das Stadtbild | |
verändert. | |
## Hier ist die Familie | |
Bis heute kommen neue MigrantInnen dazu. Matei Istoica, ein Rom, ist einer | |
davon. Aus dem Inneren eines roten Peugeots erzählt er von seinem Viertel. | |
Unter dem schwarzen Mantel trägt er ein Deutschlandtrikot. Fühlt er sich | |
auf Deutsch nicht verstanden, redet er einfach lauter. Vor drei Jahren | |
verließ der Dachdecker sein rumänisches Dorf und zog nach Westen, um Arbeit | |
zu finden. In der Nordstadt hat er Familie, ein Job ist jedoch schwer zu | |
bekommen – jeder Vierte hier ist arbeitslos. Istoica ist Anfang 30, sein | |
Gesicht deutlich älter. Spricht er von „meinem Viertel“, zieht sich der | |
schwarze Schnurrbart nach oben. „Hier“, sagt er und weist auf leere Plätze, | |
„treffen wir Zigeuner uns im Sommer, dort ist unsere Kirche.“ „Zigeuner�… | |
er benutzt das Wort häufig. | |
In anderen Stadtteilen wurde er angefeindet, bei der Wohnungssuche fühlte | |
er sich diskriminiert. Trotzdem hatte er Glück. Istoica dreht die | |
rumänische Musik in seinem Auto lauter und erzählt: „Zuerst war ich | |
Schrottsammler, aber dann fehlten mir dafür die Papiere. Durch Zufall habe | |
ich dann Arbeit als Dachdecker gefunden.“ Trotz der sozialen Unsicherheit | |
möchte er nicht mehr weg. Er zeigt im Vorbeifahren auf eine Gruppe von | |
Frauen. „Familie“, sagt er und lacht. | |
Ein weiterer Glücksfall ist für ihn ist der Verein Planerladen e. V. | |
gewesen. Tausende Menschen aus Südosteuropa landeten nach der | |
EU-Erweiterung 2007 im Ruhrgebiet, doch die Hoffnung auf Arbeit ging für | |
die meisten nicht in Erfüllung. Viele lebten in überfüllten Hausruinen. | |
## Die Stadt fürchtete Roma-Zuzug | |
„Keiner der sozialen Verbände hat sich damals für die Probleme der | |
Zugewanderten interessiert“, schimpft Tülin Kabis-Staubach über die | |
Stadtpolitik. Die 58-Jährige ist die Vorsitzende der kleinen Initiative, | |
die sich für die Änderung der Lebensbedingungen im Viertel einsetzt. Das | |
Team vom Planerladen beriet auch Matei Istoica und half ihm beim Ankommen. | |
Das Büro liegt mitten in der Nordstadt, nebenan gibt es eine Salsa-Bar, um | |
die Ecke ein rumänisches Restaurant. | |
Nur einige Häuser weiter stehen jeden Morgen die Männer an der | |
Mallinckrodtstraße auf dem sogenannten Arbeiterstrich. „Die Stadt hatte | |
Angst, noch mehr Roma anzuziehen. Deshalb wurde hart gegen die Menschen | |
vorgegangen“, erzählt Kabis-Staubach bei Filterkaffee und Keksen. Die | |
gebürtige Istanbulerin kam als Architekturstudentin ins Ruhrgebiet und ist | |
geblieben. Seit 30 Jahren wohnt sie in der Nordstadt, und das größte | |
Problem, findet sie, seien die Vorurteile. Damals hielt sie in allen Teilen | |
der Stadt Vorträge, mit ihrem Mann hängte sie große Banner auf. Irgendwann | |
bewegte sich dann auch die Verwaltung: Das Bamf finanziert mittlerweile | |
Sprachkurse, es gibt Informationsveranstaltungen zur Sozialhilfe. | |
Anders als in Berlin oder Hamburg, wo die Viertel Neukölln oder | |
Sternschanze sich in nur wenigen Jahren komplett gewandelt haben, passieren | |
die Veränderungen in der Nordstadt langsam – und sie passieren von unten. | |
Istoicas Geschichte ist noch lange kein Regelfall. Östlich vom Planerladen | |
bröckelt Putz von den schmutzigen Hauswänden, in der Linienstraße | |
schleichen ein paar Männer um die Schaufenster kleiner Bordelle, vor den | |
Bänken am Nordmarkt liegen Tüten verbrauchter Spritzen. Das ist Alltag in | |
der Nordstadt. | |
## Manche ziehen freiwillig zurück | |
Im „Nur Pastanesi“, einem türkischen Frühstückscafé, ist am Samstagmorg… | |
nichts von den sozialen Problemen zu spüren. Der Laden brummt, im | |
Eingangsbereich wartet eine lange Schlange darauf, einen Platz zu | |
ergattern. Es gibt Cay und Filterkaffee zur Selbstbedienung. Zwei | |
Studentinnen teilen sich eine Sitzbank mit einer türkischen Familie. | |
Cüneyt Karadas, 34, ist ein kleiner, breitschultriger Mann mit kurzem Bart. | |
Im Vorbeigehen grüßt die Kellnerin freundschaftlich, man kennt ihn. „Wir | |
haben hier eine Hyperkultur“, sagt der Lokalpolitiker von der Linken und | |
zeigt auf den großen Saal, „das ist doch ein Reichtum“. Karadas ist ein | |
Kind der Nordstadt. Seine Eltern kamen aus Istanbul, sein Vater wurde nach | |
wenigen Jahren wieder abgeschoben. Weil seine Mutter arbeiten musste, | |
landete Cüneyt in einer Krabbelgruppe. „Für mein Deutsch“, sagt er und | |
nimmt einen großen Schluck Tee, „war es das Beste, was mir passieren | |
konnte.“ | |
Vor Kurzem wurde Karadas Vizebürgermeister des Stadtteils, sein | |
Lieblingsthema ist Bildung. Karadas’ CDU-Vorgängerin wurde wegen | |
fremdenfeindlicher Aussagen des Amtes enthoben, der Deutsch-Türke ist nur | |
einer von drei Menschen mit Migrationsgeschichte im Stadtteilparlament. | |
Zusammenleben heißt hier vor allem nebeneinander zu leben. „Jeder hat halt | |
seine eigenen Probleme“, erklärt Karadas, wenn man ihn auf die niedrige | |
Wahlbeteiligung von unter 25 Prozent anspricht. Doch auch das ändere sich, | |
meint der Lokalpolitiker, langsam gebe es einen Generationswechsel. Er ist | |
das beste Beispiel: Nach seinem Realschulabschluss arbeitete er bei der | |
Post und fühlte sich diskriminiert. Also holte er sein Abitur an der | |
Abendschule nach, gründete Familie, zog weg – und kam einige Jahre später | |
zurück. Inzwischen studiert er BWL. Das Viertel habe ihm gefehlt, sagt er, | |
besonders diese „Hyperkultur“. | |
## Autonome Initiativen | |
Wer sich für das Hierbleiben entscheidet, macht das vor allem für Dinge, | |
die sich in anderen Stadtteilen nicht finden. Auch für Frederik Schreiber | |
war diese bunte Mischung ein Grund in die Nordstadt zu ziehen. Seine | |
Wohngemeinschaft liegt direkt am Nordmarkt: Vor der Tür verkaufen türkische | |
Männer frisches Gemüse, Roma-Frauen schlendern in bunten Kleidern über den | |
Markt, ein portugiesisches Restaurant um die Ecke lockt mit frischem Fisch | |
und Rotwein aus Tonkaraffen. Nebenan trinken ein paar Jungen Bier vor einer | |
Wettstube. Schreiber sagt: „Vielfalt bietet eben auch Platz für Nischen.“ | |
Er selber tritt als Rapper im Rekorder auf, zu seinen Hip-Hop-Workshops | |
kommen die Jungs aus der Nachbarschaft. In seinem aufgeräumten Wohnzimmer | |
stehen zwei Plattenteller, sein Mitbewohner legt auf. Er schenkt | |
vietnamesischen Kaffee ein und sagt: „Die Stadt findet keinen Weg, um mit | |
den Problemen im Viertel umzugehen. In dieser Lücke passiert viel autonom.“ | |
Im „Langen August“ spielt am Abend ein junges Duo melancholischen Trip-Hop | |
mit rollenden Bässen. Das Veranstaltungszentrum vermietet seine Räume auch | |
an den Dortmunder Schwulenverein und ein französisches Restaurant. Auf den | |
Holzdielen sitzt studentisches Publikum. Später ziehen viele weiter ins | |
Subrosa. | |
„Mich erinnert hier schon vieles an Kreuzberg damals.“ Klaus Graniki hat | |
einen Ruhrpott-Dialekt, lange Jahre hat er im Berliner Stadtteil Prenzlauer | |
Berg gearbeitet. Er ist Geschäftsführer der Dogewo21, das Bauunternehmen | |
hält 16.000 Wohnungen in Dortmund, einen Großteil davon in der Nordstadt. | |
Sein Traum: Häuser sanieren und StudentInnen in das Viertel locken. | |
Von einer Gentrifizierung aber ist der Bezirk noch weit entfernt, zwischen | |
dem Grau heruntergewirtschafteter Mietshäuser fallen die bemalten Fassaden | |
der Dogewo-Häuser kaum auf. Acht Prozent der Nordstädter ziehen jedes Jahr | |
weg, mit den niedrigen Mieten lässt sich kaum Geld verdienen. | |
Die Brückenpfeiler der Bahnstrecke markieren die Grenze zur Innenstadt. Sie | |
sind bunt bemalt, ein großes blaues Herz wirbt mit „echt Nordstadt“. | |
Später, am Nordeingang des Hauptbahnhofs, halten zwei Polizisten ein junges | |
Pärchen an. Passkontrolle. | |
8 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Paul Hildebrandt | |
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