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# taz.de -- Bilanz 2019: Viel Ärger. Aber nicht nur
> Was kann man über dieses Jahr sagen? Es ging uns ganz gut. Trotzdem habe
> ich mich über sehr viele Dinge geärgert.
Bild: Ärgerlich: der Kampf der Bauern gegen etwas, das auch für das Überlebe…
Dies ist meine 301. Kolumne und – wegen der Feiertage – die letzte dieses
Jahres. Was kann man über dieses Jahr sagen? Es ging uns ganz gut. Wir
hatten zu wenig Regen, es war zu warm, das Wetter wurde zunehmend
sorgenvoll betrachtet. Viele Menschen kannten als Ausdruck ihrer Gefühle
nur mehr ein Symbol. Es war ein lachendes Gesicht mit einer Träne im
Augenwinkel. So höhnisch lachte dieses Gesicht über jegliche Sorgen,
jegliche Bedenken und Zweifel hinweg.
Wenn ich irgendwas in diesem Jahr hassen gelernt habe, dann ist es das, und
ich musste mich sehr bemühen, nicht die mir unbekannten Menschen hinter
dieser Fratze mitzuhassen. Nur die Geste soll man hassen. Nicht den
Fremden. Aber gehasst wurde allgemein mehr, in diesem Jahr.
Was hat mich geärgert, in diesem Jahr? Die Bauern haben mich geärgert.
Nicht, weil sie demonstrierten, wir alle sollten viel mehr unsere
Grundrechte wahrnehmen, mehr zivilen Ungehorsam leisten. Mich hat geärgert,
dass sie verbittert gegen etwas kämpften, das auch für das Überleben ihrer
Nachkommen so wichtig ist. Mich hat geärgert, dass plötzlich bestimmten
Bevölkerungsgruppen eine größere Bedeutung zugeschrieben wurde als anderen.
„Wir ernähren euch“, sagten die Bauern, und wollten aus diesem Grund nicht
mehr kritisiert werden. Sicher tun sie das und sicher verdient jeder Mensch
Anerkennung für seine Arbeit.
Aber die Krankenschwester, die den kranken Bauern pflegt, der Lehrer, der
des Bauern Kinder unterrichtet, die LKW-Fahrerin, die seine Schweine
abholt, verdienen die weniger Anerkennung und Respekt? Verdient der
Arbeitslose weniger Respekt? Und das gilt auch für Polizistinnen und
Feuerwehrmänner, für alle Berufsgruppen.
Wir tun alle unsere Arbeit und niemand ist wichtiger als die Kassiererin
bei Penny oder der Hausmeister in der Schule. Die Heroisierung einzelner
Berufsgruppen geht mir auf die Nerven. Was hat mich noch geärgert? Dass in
Hamburg die City-Hochhäuser abgerissen wurden. Dass wir zusehen mussten,
wie die Schilleroper weiter verfällt.
Geärgert hat mich das Tanzmariechen in der hannoverschen Senatskanzlei und
der blödeste aller Sätze: „Lasst doch die Kinder Kinder sein“, in diesem
Fall Kinder in rassistischen Kostümen. Geärgert hat mich sehr, dass die
Hamburger Schulbehörde einer Schule den Fraktionsvorsitzenden der
AfD-Bürgerschaftsfraktion vermittelt hat, um im Rahmen eines
„EU-Projekttages“ über „Extremismus und dessen Prävention“ sowie
„Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit“ zu sprechen.
Geärgert hat mich der Vater, der neben mir seine Kippen im Sand an der Elbe
ausdrückte, die Gästelisten-Mentalität der Großstädter, die unsinnige Wut
auf die E-Roller (anstatt auf den Straßenverkehr), den Straßenverkehr an
sich, der uns alle jeden Tag ein Stückchen tötet.
Geärgert haben mich die, die es aber mehr ärgert, dass sie um den Hamburger
Flughafen herum nicht mehr umsonst parken können, geärgert hat mich, dass
sie überhaupt fliegen, immer mehr Flüge über der Stadt und über dem Land,
die Amazon-Filiale in Winsen/Luhe, die wachsende Kreuzschifffahrtbranche
und die Hamburger Cruise Days. Geärgert haben mich noch zehntausend Dinge
mehr. Es war die Welt oft so beschissen.
Es gab aber auch das Zarte, das Kluge, das Schöne. Es gab ein politisches
Blinzeln und Strecken unter den unpolitischen, wohlstandsverwöhnten
Menschen, auch in Norddeutschland. Es gab eine ganze Menge wichtiger und
großer Demonstrationen. Es gab diese ganzen denkenden und handelnden
Schüler, eine politische und mutige Jugend.
Es gab Freitage gegen die Klimapolitik, es gab dicke Gegendemonstrationen
gegen jede rechte Veranstaltung in Hamburg. Es freute mich, dass die
U-Bahn-Station Reeperbahn eine Unisex-Toilettenanlage bekommen sollte. Ich
freute mich über das sommerliche, öffentliche Leben in Planten und Blomen,
über Antifa-Aufkleber an Schulwänden, einen ganzen Haufen privater
Ereignisse, aber vor allem darüber, dass es bei uns im Norden immer noch
eine breite Front gegen Faschisten gibt.
29 Dec 2019
## AUTOREN
Katrin Seddig
## TAGS
Schwerpunkt Demos gegen rechts
2019
Fremd und befremdlich
Landwirtschaft
Schwerpunkt Klimaproteste
Kolumne Unisex
Stadtplanung
TV
Fremd und befremdlich
AfD Hamburg
Sommer
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