# taz.de -- Bovenschens literarisches Vermächtnis: Ein überaus unartiges Buch | |
> Silvia Bovenschens posthum erschienener Roman „Lug & Trug & Rat & | |
> Streben“ rechnet mit der Zivilisation ab. Er ist durchaus mit Zuneigung | |
> geschrieben. | |
Bild: Silvia Bovenschen bei einer Veranstaltung in Köln im Jahr 2009 | |
Was war das noch mal: Mummenschanz? Und wer war eigentlich Odin? Oder | |
Grundelhom – kommt der wem bekannt vor, und wo liegt denn Mispelheim? Wer | |
Silvia Bovenschens posthum erschienenes Buch „Lug & Trug & Rat & Streben“ | |
liest, muss darauf gefasst sein, dass Schwindel eintritt ob all dessen, was | |
die Autorin auftischt. Schwindel? Ja, in jedweder Form. Menschen treten auf | |
– echte und unechte, Geschichten werden aufgetischt – falsche und richtige, | |
an der Zeit wird rumgeschraubt – Vergangenheit, Gegenwart – alles egal. | |
Verstehen dagegen ist nicht zum Nulltarif zu bekommen bei diesem Buch, das | |
die Autorin kurz vor ihrem Tod im Herbst 2017 fertig schrieb; sie beeilte | |
sich, als wisse sie, dass das Ende, das sie schon zwanzig Jahre erwartet | |
hatte, jetzt wirklich nicht mehr fern ist. (Überhaupt sind „Rat & Streben“ | |
ja Anagramme von „Art & Sterben“ – und das ist, was in diesem Roman | |
durchdekliniert wird.) | |
Der Reihe nach. Aber da fängt es schon an. Denn „wo es keine Vergangenheit | |
mehr gibt, gibt es auch keine Reihenfolge“, sagt eine der Splatterfiguren | |
im Buch zu Bovenschens Lieblingsprotagonistin Alma Lupinski. Das mit der | |
„Lieblingsprotagonistin“ ist jetzt nur eine Vermutung. Bovenschens Alter | |
Ego aber ist diese Figur auf jeden Fall: Alma ist eine alte Dame, | |
Literaturwissenschaftlerin von Beruf, die das Haus nicht mehr verlässt, | |
ihre Lebensleidenschaft in derbe Sprache verpackt und dank TV ziemlich | |
genau weiß, dass die Welt den Hexensabbat feiert. | |
Ein wenig ist diese Alma Lupinski also wie Silvia Bovenschen, die ebenfalls | |
Literaturwissenschaftlerin war und aufgrund ihrer MS und allerhand anderer | |
medizinischer Diagnosen die meiste Zeit ihrer letzten Lebensjahre auf ihrem | |
mit edlen Plaids abgedeckten Bett verbrachte und niemals um den heißen Brei | |
herumredete. Über ihr hingen wechselnd große Gemälde, die ihre | |
Lebensgefährtin Sarah Schumann gemalt hat. Auf den vielen Fotos, die | |
profilierte Fotografen und Fotografinnen für profilierte Zeitungen und | |
Magazine von Bovenschen auf ihrer Liegestatt gemacht haben, sind diese | |
Bilder, die über ihr hängen, wie eine über die Zeit verteilte Ausstellung | |
zu sehen. (Auch die Malerin blitzt in dem Roman ganz am Ende noch durch.) | |
Inszenierung? Warum nicht. | |
Auf der Liegestatt entstand dieser Roman mit dem absonderlichen Titel, in | |
dem die Autorin alles vermischt, was ihr beim Durchstreifen von Literatur, | |
Gesellschaft, Geschichte, dem Fernsehen, dem Internet, Worten und Welt | |
bedeutsam vorkam. (Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang ein nichtssagendes | |
Wort.) Sie habe, sagte Bovenschen kurz vor ihrem Tod, ihren Verlag vor | |
diesem Buch gewarnt. Es sollte ein unartiges Buch werden, eins ohne Sinn | |
und Verstand. (Das glaubt ihr kein Mensch.) | |
## Ordnung ins Chaos bringen | |
Um etwas Ordnung ins Chaos zu bringen, hier mal das Setting: Alma Lupinski | |
lebt mit ihrer Nichte und dem Bruder ihres verschollenen Gatten in einer | |
ramponierten Villa, jeder auf einer Etage. Begegnungen gibt es kaum. Die | |
Nichte, Agnes Lupinski, weiß nicht so genau, wie ihr Leben weitergehen | |
soll, und Alma Lupinski, die Tante, und deren Schwager wissen ziemlich | |
genau, dass ihr Leben nicht mehr lange weitergeht. | |
Dieses eingespielte Trio, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass die | |
drei Protagonisten nur funktionalen Kontakt miteinander halten, gerät in | |
einen Strudel, als Max, der Neffe von Agnes, zu Besuch kommt und auch ein | |
Ex-Liebhaber von Alma, Mister Odino heißt er, aufkreuzt, der sich in der | |
Mansarde einmietet, die eine Gerümpelkammer ist. Unter Gerümpelkammer ist | |
nichts anderes als ein Geschichtennirwana zu verstehen, weil jedes Ding | |
eine Geschichte hat, die aber losgelassen, also ins Nirwana geschickt | |
wurde. (Entsprechend spielt das Gerümpel, das Max und Mister Odino finden, | |
auch für die Geschichte kaum eine Rolle.) | |
Ja, und was ist nun die Geschichte im Roman? Sie geht in etwa so: Max, der | |
sich unter Wölfe begeben will, (also unter Menschen?), bringt erst mal das | |
eingefahrene Gefüge der drei in ihrer ramponierten Villa durcheinander, und | |
dann schafft er es auch noch, dass Alma Lupinski mit Mister Odino und ihm | |
einen Ausflug macht. Wohin fahren sie? Nach Mispelheim. Was ist das? Kann | |
man googeln, wie man überhaupt alles googeln kann. (Ob man was findet, | |
steht dahin.) | |
In Mispelheim jedenfalls findet so was wie eine Walpurgisnacht statt, | |
allerdings sind die Figuren, die auftreten, keine Gespenster und Hexen, | |
sondern Cyborgs & more oder wie die Autorin schreibt: „Hohepriester der | |
allgültigen Hightech-Ordnung, ehrbare Fürsten des technoplastischen | |
Transhumanismus, erhabene Meister der Biodiversität“. Dazu treten | |
Schauspieler und ihre ausrangierten Doubles auf, denen gerade die Speicher | |
gelöscht werden, deshalb können sie sich nur noch an halbe Sätze erinnern | |
aus der Weltliteratur. | |
## Nur Eitelkeit auf Erden | |
Eins der Zitate, das nicht nur aus dem Zusammenhang gerissen ist, sondern | |
auch als Fragment schon Bedeutung hat über seine Zeit hinaus, stammt aus | |
einem Sonett von Andreas Gryphius. „Du siehst, wohin du siehst, nur | |
Eitelkeit auf Erden. / Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein“. Vor | |
400 Jahren geschrieben. Und noch immer sind die Menschen so blöd. | |
Als Max, Mister Odino und Alma Lupinski nach ihrem Ausflug in die | |
Neo-Walpurgisnacht wieder unversehrt zurückkommen in die Villa, fügt sich | |
dann doch alles irgendwie. Max bekommt einen Hund anstatt eines Wolfes, die | |
Nichte wäscht sich endlich die Haare, der Schwager stirbt. Und Odino und | |
Alma? Die beschäftigen sich weiter mit der Zeit, der die Vergangenheit | |
abhanden zu kommen droht. | |
Wie ein Jahrmarktsopus kommt der Roman daher. Wie ein Sommernachtstraum. | |
Ein Ritt durch die Literatur und eine Abrechnung mit der Gegenwart. Aber es | |
ist noch mehr. Es ist auch eine Parodie auf das Romanschreiben selbst. In | |
einem Interview, das Bovenschen der taz kurz vor ihrem Tod gab, erklärt sie | |
immer wieder, wie so ein Roman funktioniert: Dass man den Figuren, die | |
erfunden werden, vertrauen muss. Dass es ein Riesenproblem ist, | |
Romanfiguren erst zu erschaffen und dann wieder loszuwerden. Dass alles und | |
nichts von der Autorin selbst im Roman steht. Und dass man sich von der | |
Wirklichkeit distanzieren und die Fiktion sich zu eigen machen muss, | |
(„anverwandeln“ sagte sie und bestand auf diesem Wort, die Fiktion | |
anverwandeln). | |
## Wie es ihr gefällt | |
In „Lug & Trug & Rat & Streben“ hält sie es mit diesen Romanschreib- und | |
-aufbauproblemen gerade, wie es ihr gefällt. Sie stellt Spannung her, indem | |
sie ein Mysterium andeutet, es aber am Ende nicht auflöst. Linearität ist | |
unwichtig, Kohärenz ebenso – und wenn es sie doch gibt, ist das ein | |
Kniefall der Schriftstellerin vor den Lesenden. | |
Auch kümmert sich die Autorin nicht wirklich darum, wie sie ihre Figuren am | |
Ende wieder loswird. Und die Autorin selbst steckt auch im Roman – und eben | |
auch nicht. Wer das Glück hatte, einmal mit Bovenschen sprechen zu dürfen, | |
hört ihren mokanten Ton heraus, wenn Alma Lupinski loslegt; wer Bovenschen | |
aus ihrem Leben erzählen hörte, kennt einige der erwähnten Episoden. Etwa | |
die von den kaputten Häusern nach dem Krieg, in deren Trümmern sie spielte | |
und denen nur eine Wand fehlte, so dass die Wohnungen aussahen wie Bühnen, | |
auf denen niemand mehr etwas darstellt. So eine Beschreibung taucht | |
minutiös als Erinnerung der Lupinski im Roman auf – und war doch ihre | |
eigene. | |
Vor allem aber bestand Bovenschen in dem Interview darauf, dass ein Roman | |
etwas mit der Zeit zu tun haben muss, in der wir leben – und dass dies, | |
wenn die Zeiten schwierig sind, so wie jetzt, halt nicht gewünscht ist. | |
28 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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