# taz.de -- Günter Bannas über Politikjournalismus: „Ich kam mir wie ein Be… | |
> Bannas war vierzig Jahre Parlamentskorrespondent der FAZ. Ein Gespräch | |
> über Freundschaft, Machtkämpfe und Auslandsreisen mit Kanzlern. | |
Bild: Ein scharfer Beobachter der Machtspielchen in Bonn und Berlin: Günter Ba… | |
FAZ meets taz. Es ist ein heißer Großstadtnachmittag. Günter Bannas raucht | |
auf dem Bürgersteig vor der taz noch schnell eine Zigarette zu Ende. Er | |
trägt einen beigen Sommeranzug und Manschettenknöpfe mit Initialen – auf | |
der rechten Seite „G“, auf der linken „B“. Im taz-Gebäude sei er noch … | |
gewesen, erzählt er, als wir die Treppen hochsteigen. Vor manchen | |
Schwarzweißfotos aus der Anfangszeit der Zeitung bleibt er einen kurzen | |
Moment interessiert stehen. | |
Bannas ist eine Koryphäe des politischen Journalismus. Er fing in Bonn an, | |
während Helmut Schmidt noch Kanzler war. Als er im März in den Ruhestand | |
ging, saß er auf seiner Abschiedsfeier zwischen der Bundeskanzlerin Angela | |
Merkel und der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles. | |
taz am wochenende: Herr Bannas, der Schriftsteller Rainald Goetz hatte vor, | |
einen politischen Roman zu schreiben. Er verwarf die Idee aber, weil Sie | |
nach seiner Einschätzung schon alles aufgeschrieben hatten. Besser könne | |
ein Schriftsteller den Berliner Betrieb nicht abbilden. Fühlen Sie sich | |
schuldig, ein Buch verhindert zu haben, das man doch gern gelesen hätte? | |
Günter Bannas: Nicht wirklich. Es war ja nicht meine Absicht, ein | |
literarisches Buch zu verhindern. | |
Ist die Politik ein guter Romanstoff? | |
Da habe ich meine Zweifel. Es gibt ja einige Journalistenkollegen, die | |
politische Romane geschrieben haben. Ich war von denen nie so richtig | |
überzeugt. Ich habe mich beim Lesen immer gefragt, wer steckt da genau | |
dahinter, welcher ehemalige Bundeskanzler soll das jetzt sein – und das | |
trifft es meist nicht so richtig. Die Wirklichkeit ist oft viel profaner. | |
Im Übrigen habe ich die Bemerkung von Goetz als freundliches Kompliment | |
verstanden. | |
Sie blicken auf vierzig Jahre Politik und Politikjournalismus zurück. Was | |
ist der markanteste Unterschied zwischen dem parlamentarischen Betrieb | |
heute in Berlin und jenem in Bonn? | |
Der hängt kaum noch mit den beiden Städten zusammen, sondern mit den neuen | |
Techniken. Früher wurden die Pressemitteilungen der Fraktionen im Bonner | |
Pressehaus noch auf großen Tischen ausgelegt. Heute hat jeder Abgeordnete | |
seinen eigenen E-Mail-Verteiler, über den er seine Mitteilungen direkt an | |
die Journalisten schickt. Dazu nutzen die Politiker noch Twitter und | |
Facebook. Natürlich ist dadurch alles schneller geworden, aber im Kern – | |
was die Distanz zwischen Politik und Medien betrifft – finde ich, ist das | |
Verhältnis gleich geblieben. | |
Wie meinen Sie das? | |
Ein Kollege, der in Bonn sehr gut vernetzt war, sagte mir einmal über das | |
Leben von Politikjournalisten: „Wir sind immer dabei, gehören aber doch | |
nicht dazu.“ Es gibt da eine Grenze, an der ein Politiker dichtmacht. Und | |
die gibt es bis heute. | |
Haben Sie Freunde unter Politikern? | |
Nein. Mit einer Ausnahme. Michael Vesper von den Grünen, der früher | |
Minister in Düsseldorf war. Den kenne ich noch aus der katholischen | |
Jugendarbeit. | |
Sie haben die Parteiwerdung der Grünen als Berichterstatter eng begleitet. | |
Seit September haben wir mit der AfD nun wieder eine neue Partei im | |
Bundestag sitzen. Abgesehen von den Inhalten, die nicht vergleichbar sind – | |
gibt es bei neuen Parteien Dinge, die immer gleich ablaufen? | |
Wenn wir von Strukturen sprechen, gibt es bemerkenswerte Parallelen. So | |
bekommt die Parteiwerdung immer eine immense öffentliche Aufmerksamkeit. | |
Als ich damals über die Entstehung der Grünen geschrieben habe, gab es | |
kritische Stimmen, die sagten: „In der FAZ steht ja mehr über die Grünen | |
als über die FDP.“ Die Berichterstattung über die AfD ist heute auch | |
größer, als es dem Stimmenanteil entspricht. | |
Sehen Sie da ein Problem? | |
Nein, im Kern finde ich das richtig. Medien haben einen aufklärerischen | |
Auftrag und müssen hinschauen, wenn eine neue Partei entsteht. Es ist ja | |
offensichtlich – damals bei den Grünen, heute bei der AfD –, dass das nicht | |
ein Phänomen ist, das in ein, zwei Jahren wieder verschwunden sein wird. | |
Was fanden Sie an den jungen Grünen so spannend? | |
Wenn eine neue Partei in den Bundestag kommt, gibt es in der Fraktion erst | |
mal keine Hierarchie – und die Grünen haben bis Ende der 80er Jahre ihre | |
Fraktionssitzungen auch öffentlich abgehalten, presseöffentlich hieß das. | |
Kameras und Aufnahmegeräte mussten ausgeschaltet werden, aber man konnte | |
mitschreiben. Wir Journalisten konnten dadurch erleben, wie eine Hierarchie | |
in einer Fraktion entsteht. | |
Und zwar wie? | |
Es gab Auseinandersetzungen um die Frage: Wer antwortet auf die | |
Regierungserklärung von Helmut Kohl? Petra Kelly, Marieluise Beck oder Otto | |
Schily? Und wenn es da hart auf hart geht, kann man sehen, wie verhält sich | |
eine Politikerin, ein Politiker. Wie setzt sie sich durch? Mit welcher | |
Vehemenz argumentiert er? Geht er ins Persönliche? Ist sie zynisch oder | |
zart besaitet? | |
Sie vertraten das konservative Leitmedium und trugen Anzug – die Grünen | |
waren noch eine wilde Truppe mit Spontis, Ökosozialisten, K-Grupplern. Wie | |
haben die auf Sie reagiert? | |
Altersmäßig waren wir dieselbe Generation. Das war wichtig, weil ich | |
deshalb wusste, aus welchen studentischen Milieus die Akteure stammten. | |
Hinzu kam: Die FAZ musste sich bei den Flügelkämpfen nicht festlegen, auf | |
welcher Seite sie steht. Bei der taz war das anders. Wenn ich mich richtig | |
erinnere, war das Bonner taz-Büro Fundi-orientiert und die Berliner | |
taz-Zentrale mehr Realo. Das führte dazu, dass Otto Schily und Joschka | |
Fischer mit den Berliner taz-Redakteuren gesprochen haben, während Jutta | |
Ditfurth und die Hamburger Ökosozialisten nur mit den Bonner taz-Leuten | |
redeten. Mit mir sprachen alle, weil ich da außen vor war. Ich kam mir | |
manchmal fast wie eine Art Beichtvater vor. | |
Die FAZ wurde aber gelesen? | |
Ja, bei einem Parteitag saß ich am Tisch der Hamburger Ökosozialisten | |
Thomas Ebermann und Rainer Trampert – also politisch wirklich das andere | |
Ende des Spektrums. Sie sagten mir, sie läsen immer die FAZ, weil sie | |
wissen wollten: Was denkt der Klassenfeind? Im Kommunistischen Bund, aus | |
dem sie kamen, hätten die einfachen Mitglieder die Frankfurter Rundschau | |
gelesen. Das sei aber nicht das Richtige, man müsse die FAZ lesen, sagten | |
die beiden. | |
Und woher kam das Interesse Ihrer Zeitung an den Grünen? | |
Die Herausgeber und Ressortleiter in Frankfurt wollten, dass ich viel | |
berichte, weil sie eine neue Lesergruppe erschließen wollten. Meine | |
Einschätzung war von Anfang an: Die Wähler der Grünen reichen von der | |
Apothekergattin – ihr Mann wählt zwar FDP, sie aber grün – bis zum | |
arbeitslosen Jugendlichen. Deshalb ging ich davon aus, dass die Grünen von | |
der Breite ihres Spektrums eigentlich eine Volkspartei sind. | |
Damit standen Sie Anfang der 80er aber noch ziemlich allein da, oder? | |
Es gab viele Kollegen, die meinten, die Grünen hätten kein richtiges | |
Programm, keine tiefere Verankerung in der Wählerbasis. Das sah ich anders. | |
Die Grünen hatten schon damals ein Programm, das alle Politikfelder | |
umfasste. Sie haben sie nur auf ihre Weise abgedeckt. Die ganze | |
Außenpolitik lief ausschließlich unter Friedenspolitik und gegen die | |
Raketennachrüstung. Die gesamte Wirtschaftspolitik konnte man festmachen am | |
Stichwort Kernenergie, die gesamte Innenpolitik am Widerstand gegen die | |
Volkszählung. | |
Was war bei der Entwicklung der Grünen der entscheidende Punkt? | |
Das Ausscheiden des Fundi-Flügels um Ditfurth und die Ökosozialisten | |
Ebermann und Trampert war für den Zusammenhalt der Organisation | |
entscheidend. Dieser Flügel war vorher sehr stark gewesen. Er hatte über | |
viele Parteitage hinweg eine knappe, aber stabile Mehrheit gegenüber | |
Fischer und Schily gehabt. Mit dem Abgang der bekanntesten Köpfe fehlten | |
dieser Strömung die guten Redner und Taktiker, so konnte sich die Partei | |
mehr in Richtung Regierungsverantwortung bewegen. Die Erfahrung, 1990 bei | |
der Bundestagswahl in Westdeutschland an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert | |
zu sein, setzte dann noch mal einen zusätzlichen Lernprozess in Gang. | |
Abgesehen davon, dass Sie immer mit allen geredet haben: Was verstehen Sie | |
grundsätzlich als die Aufgabe eines Politikjournalisten? | |
Das Zustandekommen politischer Entscheidungen möglichst genau zu erklären. | |
Und mein Ansatz war dabei, auch Anforderungen an den Leser zu stellen, es | |
ihm nicht zu einfach zu machen. Als es in den späten 80er und frühen 90er | |
Jahren zum Beispiel um die Änderung des Grundrechts auf Asyl ging, | |
versuchte ich zu erklären, welche politischen, aber auch juristischen und | |
verfassungsrechtlichen Fragen dahintersteckten. Es ist aber nicht | |
jedermanns Sache, das dann zu lesen. | |
Sie haben sich viel mit Entscheidungsprozessen in Parteien beschäftigt. | |
Da war es mir wichtig, nicht nur auf die politische Prominenz zu achten, | |
sondern auch auf die Strömungen, die die Partei tragen. Als Joschka Fischer | |
zum Beispiel der unumstrittene König der Grünen war, habe ich genauso | |
geschaut, was ist mit der Frauenbewegung, was mit der | |
Anti-Atomkraft-Bewegung, was ist aus den früheren Linksradikalen geworden. | |
Gleiches galt für die SPD, wo es darum ging, nicht nur auf Lafontaine und | |
Schröder zu blicken, sondern auch auf die Arbeitsgemeinschaft für | |
Arbeitnehmerfragen oder die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer | |
Frauen. | |
Diese Arbeitsweise ist eher auf dem Rückzug. Heute wird im | |
Politikjournalismus stark personalisiert, der Austausch verschiedener | |
Argumente wird schnell zum Zoff hochgejazzt. Beschädigen die Medien da | |
nicht den ernsthaften Austausch von Argumenten und damit den Kern von | |
Politik? | |
Das sehe ich mit Sorge. Wenn der Austausch von Argumenten nicht mehr ernst | |
genommen wird, Politik nur entlang von Reizworten und persönlichen | |
Konflikten erzählt wird, ist diese Berichterstattung nicht mehr ausreichend | |
für eine funktionierende Demokratie. Die Darstellung unterschiedlicher | |
Positionen und Argumente ist aber natürlich nicht so sexy wie | |
personalisierte Machtkämpfe. | |
Klar, die Darstellung von Argumenten ist komplizierter … | |
Man braucht auch mehr Platz dafür, und man läuft Gefahr, dass die Leute | |
sagen: „So genau will ich es nicht wissen. Wie ein Gesetz zustande kommt, | |
ist mir egal, mich interessiert nur: Zahle ich am Ende mehr oder weniger | |
Steuern.“ Ich finde aber, dass es die Aufgabe von Medien ist, den Prozess | |
dahin genau zu schildern – jedenfalls als Angebot. Wenn die Leute es | |
trotzdem nicht wissen wollen, ist das okay. Das ist ihre Entscheidung. Aber | |
sie müssen ein Medium finden, in dem sie das Zustandekommen nachlesen, | |
nachhören oder nachsehen können. | |
Neben der starken Personalisierung gibt es im Journalismus auch einen Hang | |
zur Politikberatung. | |
Den gab es früher aber genauso, vielleicht fast noch stärker. Um | |
Hans-Dietrich Genscher als Außenminister gab es einen Kreis von | |
Journalisten, die ihm immer erzählen wollten, was Deutschland jetzt zu tun | |
oder zu lassen habe. Manche nannten sich da sogar: „diplomatischer | |
Korrespondent“. Das fand ich doch etwas albern. | |
Der Gestaltungsdrang politischer Journalisten ist mitunter groß. | |
Ich erinnere mich an eine Szene: Friedrich Zimmermann hatte in Bonn einen | |
Stammtisch, als er CSU-Landesgruppenchef war. Ein richtiger Stammtisch, bei | |
dem viel getrunken und deftig vom Leder gezogen wurde. Als er unter Kohl | |
Innenminister wurde, hatte er in den Hintergrundgesprächen auch Kollegen | |
aus diesem Stammtisch dabei. Bei einem Gespräch, bei dem ich dabei saß, | |
ging es um die neu gegründeten Grünen. Journalisten von seinem Stammtisch | |
redeten auf Friedrich ein: „Du musst die Grünen einfach verbieten, dann hat | |
sich das Problem erledigt.“ Da wurde Zimmermann plötzlich zum | |
Rechtsstaatler und antwortete: „Nee, so einfach ist das nicht. Das muss das | |
Bundesverfassungsgericht absegnen.“ Also: Es ist schon richtig, wenn | |
Politiker Ratschläge von Journalisten meist ignorieren. | |
Sie haben den Sturz Rudolf Scharpings auf dem SPD-Parteitag 1995 minutiös | |
rekonstruiert. Gibt es klare Anzeichen, an denen man erkennt: Das | |
Machtzentrum in einer Partei verschiebt sich gerade? | |
Anzeichen gibt es, aber ob die zutreffen oder in die Irre führen, weiß man | |
immer erst hinterher. Bei Scharping haben damals Lafontaine und Schröder | |
als Ministerpräsidenten im Bundesrat immer ihre Spielchen getrieben und | |
anders abstimmen lassen, als Scharping das als SPD-Vorsitzender wollte. | |
Dann gab es im Vorfeld des Parteitags Anträge, die Scharpings Linie zuwider | |
liefen. Und als das nicht aufhörte, dachte ich: Was ist denn hier los? Es | |
gab also Mosaiksteine, die auf den Sturz hindeuteten. | |
Manchmal kommt es auch anders … | |
Ja, da kann man sich ziemlich täuschen. Im Umfeld der Flüchtlingspolitik | |
2015 gab es den Aufstand in der CSU gegen Merkel. Dazu kam die Spekulation | |
auf, dass als Übergangslösung Wolfgang Schäuble einspringen könnte. Aber | |
Merkel hat den Machtkampf durchgestanden, Scharping nicht. Das Führen einer | |
Volkspartei ist halt extrem schwierig. | |
Was macht es so kompliziert? | |
In einem Unternehmen wird im Vorstand etwas entschieden, und dann wird das | |
umgesetzt. Aber in der Politik? Welche Handhabe hat Angela Merkel gegenüber | |
Horst Seehofer? Praktisch keine. Sie kann in ihrem eigenen Kabinett ja | |
nicht mal die CSU-Minister auswählen, darüber entscheidet der CSU-Vorstand. | |
Politiker erzählen manchmal, wie sich Loyalitäten von einem Tag auf den | |
anderen auflösen: Eben hat man noch zusammen Wahlkampf gemacht, nach der | |
Wahl konkurriert man plötzlich um denselben Posten. | |
Innerhalb von Parteien ist die Konkurrenz deshalb oft heftiger als zwischen | |
den Parteien. Die Freundschaft zwischen Peter Struck und Volker Kauder ist | |
ja legendär. Es ist aber kein Zufall, dass es eben eine Freundschaft über | |
Parteigrenzen hinweg zwischen einem Sozialdemokraten und einem | |
Christdemokraten war. | |
Es heißt, innerhalb linker Parteien seien die Kämpfe besonders hart. | |
Da ist etwas dran. So, wie ich das erlebt habe bei der SPD und den Grünen, | |
werden die Kämpfe dort immer bis zum Letzten durchgefochten. Bei den | |
Unionsparteien – ohne es verniedlichen zu wollen –, heißt es: Wir sind am | |
Ende doch eine Familie. | |
Sie haben Angela Merkel als Kanzlerin dreizehn Jahre aus der Nähe | |
beobachtet. Was macht sie so erfolgreich? | |
Ihre gleichbleibende Freundlichkeit in der Öffentlichkeit. | |
Aber ihr wird doch oft vorgeworfen, dass sie so dröge und wenig emotional | |
wirkt. | |
Sicher, sie ist ein anderer Politikertypus als Schröder oder Fischer. | |
Merkels Amtsantritt markiert das Ende der Egomanen. Sie tritt lieber | |
langweilig auf als zugespitzt-aggressiv. Sie ist aber auch gegenüber den | |
Medien einfach gleichbleibend freundlich. | |
Inwiefern nützt ihr das? | |
Sie weckt damit keine Aversionen. Und das Volk will wohl auch einfach nicht | |
überfordert werden mit neuen Ideen und scharfen Reden. Helmut Kohl war in | |
der Beziehung ja ähnlich, der hat auch niemanden überfordert. Anders als | |
Gerhard Schröder mit seiner Agenda-Politik oder Helmut Schmidt. Das waren | |
zwei Kanzler, die den Menschen etwas abverlangt haben, die dann aber auch | |
massiven Widerstand in ihrer eigenen Partei erfahren haben. | |
Merkel hat lange mit einem konsensualen Politikstil der kleinen Schritte | |
regiert, der den Deutschen die Krisen der Welt weitgehend vom Leib gehalten | |
hat. Dieser Hang zum Konsens – ist der jetzt zu Ende? | |
In der besten Zeit von Merkel regierte eigentlich Schwarz-Rot-Grün, und | |
wenn die FDP dabei war, auch noch die. Das war auch durch die | |
Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat bedingt. Es kann sein, dass sich das | |
jetzt durch die AfD und die zugespitzte Debatte nachhaltig verändert. Es | |
gab ja immer Wellenbewegungen zwischen ruhigeren und polarisierteren | |
Phasen. In den 70er Jahren gab es die sehr umstrittene Ostpolitik Willy | |
Brandts und die Studentenbewegung, in den 80er Jahren überdeckte Kohl dann | |
alles, was es an Konflikten gab. Und so geht es auf und ab. | |
Bereiten Ihnen die Polarisierung und das Auftreten der AfD Sorgen? | |
Eigentlich nicht. Ich bin überhaupt kein Freund der AfD, aber dem Bundestag | |
tut es ganz gut, wenn da wieder mehr Auseinandersetzung stattfindet. | |
Natürlich war es ganz und gar unmöglich, wie sich Alice Weidel bei der | |
Haushaltsdebatte verhalten hat – es ist dann aber auch dagegen gehalten | |
worden. Es gibt wieder Streit, es wird nicht einfach eine Konsenssoße | |
darüber gegossen. | |
Was ist mit Alexander Gaulands „Vogelschiss“ und der Relativierung des | |
Nationalsozialismus? | |
Man könnte es dabei belassen und sagen: Kaum zu glauben, was alten Herren | |
so alles einfällt. Gauland aber ist gebildet. Er weiß, was er sagt. Er | |
meint das auch so. Er ist ein Reaktionär und Revisionist. Der Widerstand | |
gegen seine Äußerungen war wichtig und hat gutgetan. | |
Sie sind auch ein „Kanzlernachlatscher“ gewesen, wie der Chefredakteur der | |
Süddeutschen Zeitung, Kurt Kister, das genannt hat. Also einer jener | |
Journalisten, die die Kanzlerin, den Kanzler überallhin begleiten. Auf was | |
muss man da besonders achten? | |
Bei Auslandsreisen sollte man tunlichst dafür sorgen, dass man rechtzeitig | |
wieder im Pressebus sitzt – sonst wird es eng mit der Rückreise. Das gilt | |
auch für Staatssekretäre. Die Regel ist: Wenn die Kanzlerin, der Kanzler im | |
Auto sitzt, fährt die Kolonne los. Schröder begleitete ich einmal auf eine | |
Reise in die Golfstaaten. Da fand ein Mittagessen in einem dieser großen | |
Hotels oben in der 40. Etage statt. Danach sollte es zum Flughafen gehen. | |
Und klar, der Kanzler kriegt einen eigenen Aufzug, kann runterrauschen und | |
sich ins Auto setzen. Aber es gab ja eine Delegation mit 100 Leuten, die | |
sich um die wenigen Plätze in den drei übrigen Aufzügen fast geprügelt | |
hätten. Da habe ich Staatssekretäre mit hochrotem Kopf gesehen. | |
Was ist mit dem Trinken auf Auslandsreisen? | |
Das ist praktisch vorbei. Einfach, weil dafür überhaupt keine Zeit mehr | |
bleibt. Wenn Kohl nach China fuhr, flog er sonntags ab und kam am nächsten | |
Samstag wieder. Schröder hat gesagt: „Fliegen wir Montag los und kommen | |
Donnerstag zurück.“ Bei Merkel ist Mittwoch Abflug, und Freitagabend ist | |
man wieder hier. Da fliegen Sie in Berlin abends ab und kommen morgens in | |
China an – es geht kurz ins Hotel, duschen, und dann beginnt das | |
Tagesprogramm. Wenn Sie da im Flugzeug einen halben Liter Rotwein trinken, | |
stehen Sie den Tag nicht durch. | |
Politik wird oft auch als Droge bezeichnet, bei der das Aufhören sehr | |
schwer fällt. | |
Das ist schwierig, und das verstehe ich: Wenn jemand im Bundestag war, | |
vielleicht sogar Minister – und ist auf einmal draußen, dann fragt keiner | |
mehr um Rat, keiner ruft mehr an. Andererseits ist das in anderen Berufen | |
ja auch so, wenn man in den Ruhestand geht. | |
Wie ist das bei Politikjournalisten? Sie haben ja im März aufgehört. | |
Journalisten haben es da ein bisschen leichter. Sie können immer noch mal | |
etwas schreiben. Und wenn man dafür mehr Zeit hat, ist das ja auch gut. | |
Was ist mit Ihrem Hobby, dem Modellbau? | |
Ich baue zurzeit an der „Great Eastern“, einem britischen Schiff aus den | |
1850/1860er Jahren mit dreierlei Antrieb: Segel, Schaufelräder und | |
Schiffsschraube. Die war damals doppelt so groß wie alle bisherigen | |
Schiffe. Als Passagier- und Auswandererschiff war sie finanziell ein | |
Desaster. Aber weil sie so schön groß war, wurde mit ihr das erste | |
Transatlantikkabel verlegt. | |
Wie groß wird so ein Modell? | |
Etwas mehr als ein Meter. Es ist aber noch lange nicht fertig. Es hat etwas | |
Kontemplatives, so ein Modell zu bauen. Für mich jedenfalls. Man muss sich | |
um die Details kümmern und meist ein paar Schritte vorwegnehmen, damit am | |
Ende alles passt. So wie im Journalismus eben auch. | |
16 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
Ulrich Schulte | |
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