# taz.de -- 30 Jahre Grüne im Bundestag: Die Welt retten, und ja: sofort! | |
> Strickpullis, Vollbärte, Sponti-Gestus: Marieluise Beck erzählt, wie sie | |
> mit einer Chaostruppe in den Bonner Bundestag einzog. | |
Bild: Gestern war's: Petra Kelly und Marieluise Beck-Oberdorf bei der konstitui… | |
BERLIN taz | Wenn man so will, begann mit diesem Tannenzweig alles, sowohl | |
der Aufstieg als auch die Ernüchterung. Ein Vormittag im März 1983, gerade | |
wurde Helmut Kohl zum Kanzler gewählt. Eine junge Frau steht im Bonner | |
Plenarsaal auf, geht zu Kohl hinüber und drückt ihm einen kränklichen Zweig | |
in die Hand, von dem gelbe Nadeln rieseln. Waldsterben, saurer Regen, die | |
zierliche Grüne, der massige Kanzler, der verlegen lächelt: ein Bild für | |
die Geschichtsbücher. | |
Marieluise Beck lacht, als sie sich an diese Szene erinnert. Beck, 60 | |
Jahre, derselbe Kurzhaarschnitt nur in Silbergrau, schenkt in ihrem | |
Berliner Abgeordnetenbüro Grüntee mit Jasminaroma ein und lehnt sich im | |
Stuhl zurück. Sie muss in diesen Tagen oft die alten Anekdoten erzählen. | |
Beck ist die Einzige in der aktuellen Grünen-Fraktion, die dabei war vor | |
dreißig Jahren, als ihre Partei zum ersten Mal in den Bundestag in Bonn | |
einzog. Als die Grünen sich aufmachten, die Republik zu verändern, war sie | |
eine von drei Fraktionssprechern. Sie saß vorn neben Petra Kelly, der Ikone | |
der Bewegung, dahinter der strenge Rechtsanwalt Otto Schily. | |
Es soll um die Grünen und ihre Bürgerlichkeit gehen. Um die Frage, ob der | |
Marsch der bunten Truppe durch die Institutionen auch etwas mit Heimkehr zu | |
tun hat. Mit Ankommen. Und mit Dazugehörenwollen. Waren die Bürgerschrecks, | |
die da mit Strickpullis und zauseligen Vollbärten plötzlich im Parlament | |
saßen, nicht im Grunde von Anfang an bürgerlich? | |
## Ökos und Politkader | |
Bonn war nicht auf die Grünen vorbereitet, die Fraktionsräume waren | |
zunächst ein Provisorium. Die Abgeordneten bezogen eilig hergerichtete | |
Räume im Hochhaus am Tulpenfeld. „Die ersten Wochen waren eine unglaubliche | |
Strapaze. Irre“, sagt Beck. Tägliche Fraktionssitzungen, ab 14 Uhr bis tief | |
in die Nacht, presseöffentlich, ohne jede Struktur und Leitung. Naive Ökos | |
trafen auf kühle Politkader aus den K-Gruppen, Feministinnen auf | |
Bewegungsaktivisten. | |
Wie himmelhoch der Anspruch der Bewegung an die Grünen und der Grünen an | |
sich selbst war, zeigt der Wahlaufruf von damals: 16 Seiten, ganz vorn | |
prangt die stilisierte Sonnenblume, ein Sound, zwischen Zukunftstraum und | |
Weltuntergang. „Wir treten an, um der pazifistischen, ökologischen und | |
sozialen Opposition […] eine Stimme zu geben“, heißt es darin. | |
Antiatompolitik, Solidarität mit der Dritten Welt, statt Aufrüstung | |
Pazifismus und Streichung des Rüstungshaushaltes. Darunter machten sie es | |
nicht. | |
Schnell zeigte sich, dass auch Friedensbewegte brutal kämpfen, wenn | |
Egoismen ins Spiel kommen. Als es um die Verteilung der Gremien ging, | |
drängten alle in den Verteidigungsausschuss. Wohin sonst, wenn die Pershing | |
II droht? Da „waberten Auswüchse von Heuchelei und Misstrauen durch den | |
Raum“, erinnert sich Beck. Um die besten Posten wurde geschachert wie in | |
anderen Parteien. | |
Ein NDR-Journalist begleitete die Neulinge in den ersten Wochen Tag und | |
Nacht. So nah, dass er auch mal den Telefondienst übernahm. Ständig riefen | |
Bürger aus der ganzen Welt an. Die kleine Oppositionsfraktion sollte | |
schließlich die Welt retten, und ja: sofort. Die Fernsehdokumentation „Lust | |
und Frust“ zeigt das Chaos der Anfänge – und die wichtigen Figuren: Joschka | |
Fischer, jungenhaft, mit Wirbel im Haar und schwarzer Lederjacke, der im | |
Tagungssaal lässig an der Wand lehnt. Otto Schily, der Rechtsanwalt, Anzug | |
und korrekt gebundene Krawatte, der schwatzende Fraktionskollegen anpfeift, | |
sie mögen dies draußen tun. | |
## Nichts Menschliches war ihnen fremd | |
Eitelkeit, Profilierungssucht, Karrieredenken – nichts Menschliches war den | |
Weltverbesserern fremd. Beispiel Tannenzweig: Nachdem Beck ihn Kohl | |
überreicht hatte, schoss Schily auf seine Kollegin zu. Er habe sie noch im | |
Plenum zusammengefaltet, weil die Aktion nicht abgesprochen war, erzählt | |
Beck und lacht wieder. „Otto war sofort klar, dass das ein Bild gibt.“ | |
Sie, die kleine Deutschlehrerin aus Baden-Württemberg, durfte damals die | |
erste Rede halten, das Entree der Grünen im Bundestag – so hatte es die | |
Fraktion bestimmt. Nicht er, der altgediente Jurist. „Das war für ihn auch | |
eine patriarchale Kränkung.“ | |
Bei den Grünen waren und sind viele, die ihr gesamtes Leben lang nur | |
Politik gemacht haben. Fischer, Trittin, Künast, Roth, Özdemir, sie alle | |
sind jung professionell in die Partei eingestiegen. Dies ist eine der | |
grünen Pointen: Die, die anders sein wollten als andere, repräsentieren das | |
Berufspolitikertum wie kaum eine andere Partei. In der ersten Fraktion | |
waren 20 der 27 Abgeordneten Akademiker, nur zwei hatten zuvor als | |
Facharbeiter Fabriken von innen gesehen. | |
Marieluise Beck macht das Erinnern sichtlich Spaß. Sie zitiert aus dem Kopf | |
Sätze ihrer ersten Rede, springt auf, legt zwei Bände mit | |
Sitzungsprotokollen der ersten Fraktion auf den Tisch, dass die | |
Porzellantassen wackeln. Beck landete nur bei den Grünen, sagt sie, weil | |
die in Baden-Württemberg anders waren. „Denen fehlte der revolutionäre | |
Gestus, dafür gab es diesen bürgerlichen, vernünftigen Grundton.“ | |
Welche Rolle spielte Bürgerlichkeit bei den Anfängen? | |
Beck denkt ein paar Sekunden nach. „Die Grünen waren ja eine Melange | |
unterschiedlichster Biografien.“ Joschka Fischer, der Vater Metzger, | |
kleinbürgerliches Elternhaus, habe seinen Sponti-Gestus gepflegt, sagt sie. | |
„Er wollte aber im Grunde zum Bürgertum gehören. Und wechselte deshalb | |
später so problemlos in den Maßanzug.“ | |
## Abgrenzen vom Bürgertum | |
Andere seien aus großbürgerlichen Elternhäusern gekommen. „Sie grenzten | |
sich erst ab, wollten aber später wieder so leben. Abgrenzung vom Bürgertum | |
und das Dazugehörenwollen, beides spielte eine große Rolle.“ So gesehen | |
steht das Reden von Bürgerlichkeit und Wertkonservatismus heute auch für | |
eine Versöhnung mit eigenen Elternhäusern. Die Bürgerskinder sind zu Hause | |
angekommen. | |
Anfang herrschte das Egalitätsprinzip, selbst in Details, was sich | |
fürchterlich auswirkte: Abgeordnete mussten nach zwei Jahren, gerade erst | |
in Fachthemen eingearbeitet, Nachrückern Platz machen, weil damals das | |
Rotationsprinzip galt. Völlig Unbekannte bekamen die gleiche | |
Sekretariatszeit wie Petra Kelly, die kistenweise Post selbst sortieren | |
musste. | |
Doch die Fraktion richtete sich schnell ein in den Verhältnissen, auch weil | |
Schily und Fischer, der Parlamentarische Geschäftsführer, strikt die | |
Professionalisierung vorantrieben. Ebenso konsequent bauten sie ihre | |
Netzwerke aus: Als der Spiegel zum Kamingespräch einlud, erinnert sich | |
Beck, gingen die beiden Jungs selbstverständlich alleine hin – ohne den | |
Frauen Bescheid zu sagen. „Es haben sich sehr schnell informelle | |
Machtstrukturen gebildet. Das hatte etwas sehr Ernüchterndes.“ | |
Dennoch wirkte die Fraktion wie eine Erfrischungskur für die verschnarchte | |
Bonner Republik. Schnell lernten die Grünen die Tricks des | |
Parlamentarismus, die Zahl der Aktuellen Stunden explodierte, weil Grüne | |
ständig welche beantragten. Und die quälenden Debatten über Schwenks in der | |
rot-grünen Regierungszeit sind bekannt. Die Zustimmung zum Kosovokrieg, zur | |
Agenda 2010, zum Ausstiegskompromiss, bei dem der Parteilinke Jürgen | |
Trittin seinen Leuten beibrachte, dass sich auch Betreiber von | |
Atomkraftwerken auf geltendes Recht berufen können. | |
Kurz, die Grünen lernten, sich von Idealen zu verabschieden. Für Beck | |
bleibt dies die wichtigste Leistung der vergangenen 30 Jahre: „Unsere | |
größte Errungenschaft ist, dass wir den Kompromiss nicht mehr denunzieren.“ | |
12 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
Ulrich Schulte | |
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