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# taz.de -- Essay 30 Jahre Grüne: Die Teflon-Partei
> Die Grünen können nach drei Jahrzehnten scheinbar alle alten Gegensätze
> in sich vereinen. Wirtschaft und Umwelt, Kiffer-WG und Ökospießer. Wie
> ist das möglich?
Bild: "Ja-Kampagne" der Grünen zur vorgezogenen Bundestagswahl 2005.
Als sich Guido Westerwelle und Claudia Roth im Wahlkampf 2009 auf einem
Sommerfest begegneten, kannte die Freude keine Grenzen. "Deinen Mann, den
find ich so toll", sagte Roth zum FDP-Chef. "Ja, aber den kriegst du
nicht", sagte Westerwelle. Die Grünen-Chefin schüttelte sich vor Lachen:
"Das weiß ich doch!"
Diese Szene illustriert sehr gut, wo die Grünen sich 30 Jahre nach ihrer
Gründung befinden. Sie haben das scheinbar Unmögliche geschafft: Einerseits
bewahren sie stolz die Reste des Selbstbilds der "Anti-Parteien-Partei".
Andererseits haben sie sieben Jahre lang eine der größten Industrienationen
der Erde mitregiert.
Sie verorten sich programmatisch vage links der Mitte - und streben
Koalitionen mit der Union an. Sie sagen Ja zu Hartz IV und Nein zu
Sozialkürzungen. Turteleien der Co-Vorsitzenden Roth mit grünen Hassfiguren
wie Westerwelle oder Günther Beckstein sind bestenfalls eine Anekdote: So
ist sie halt, unsere Claudia.
Die Kritik gleitet ab
Doch das Erstaunlichste an diesem programmatischen und mentalen Spagat ist:
Er funktioniert. Alle Kritik am Doppelgesicht der Partei gleitet ab wie an
der Teflon-Beschichtung einer Bratpfanne. Meinungsumfragen bescheinigen den
Grünen fantastische Zustimmungsraten. Würde in Baden-Württemberg oder
Berlin am Sonntag gewählt, könnten die Grünen mit 24 beziehungsweise 27
Prozent der Stimmen rechnen.
Die Orts- und Kreisverbände wissen mitunter nicht, woher sie die erwarteten
neuen Mandatsträger hernehmen sollen. Die Nachfrage nach dem Produkt
"Grüne" übersteigt das Angebot.
Wieder einmal müssen sich die Ex-Alternativen fragen: Wo wollen wir hin?
Hinzu kommt heute eine weitere Frage: Kann die Partei zu groß werden? So
groß, dass sie an ihrem Eigengewicht erstickt?
Um das zu beantworten, müssen wir verstehen, was die Grünen fürs heutige
Parteiensystem bedeuten. In mancherlei Hinsicht ähneln die Grünen des
Jahres 2010 der SPD der frühen siebziger Jahre.
Damals versprachen Mitgliedschaft und Stimmabgabe für die Sozialdemokraten
das gute Gefühl, progressiv zu sein. Und nicht so starr wie die anderen
Parteien, nicht so anarchisch wie die Studentenbewegung. In einer Welt, der
durch den Vietnamkrieg die Unterscheidbarkeit in Gute und Böse
abhandengekommen war, war zumindest eines gewiss: Mit einer Stimme für die
Sozis kann man nicht viel falsch machen. Ähnlich verhält es sich heute auch
mit den Grünen.
Fast 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler können sich laut Infratest dimap
vorstellen, den Grünen ihre Stimme zu geben. Deren potenzielle Wählerschaft
ist damit fast so groß wie die von SPD und CDU/CSU. Beide kommen jeweils
auf 55 Prozent. Geht es nach der gesellschaftlichen Akzeptanz, dann sind
die Grünen bereits eine Volkspartei.
Traditionell alternativ
Darin liegen Chance und Problem der Grünen. Beständig wiederholt ihr
Co-Vorsitzender Cem Özdemir den Anspruch, die Grünen wollten die
Akademiker-Eltern aus den Altbau-Wohnungen ebenso ansprechen wie den Kiffer
in der Studenten-WG. Dahinter steht die Hoffnung, dass sich das Bild der
Partei, das sich in 30 bewegten Jahren herausgebildet hat, gewissermaßen
konservieren lässt. Die Grünen: alternativ aus bewährter Tradition?
Die Grünen stehen in den nächsten fünf bis zehn Jahren vor großen
Herausforderungen. So groß wie vielleicht nur die Entscheidung für die
deutsche Beteiligung am Kosovokrieg 1999. Denn in dieser Zeit wird sich
erweisen müssen, ob es den Grünen möglich ist, ihren "Markenkern" von einer
Generation zur nächsten zu übertragen.
Den Markenkern der Grünen bildet eine Heldengeschichte, ganz ähnlich den
traditionellen Initiationsmythen und dem deutschen Bildungsroman. Deshalb
ist sie einprägsam: Unser Held, anfangs unbedarft und seiner eigenen
Fähigkeiten nicht sicher, geht hinaus in die Welt, um sich in Kämpfen zu
bewähren. In ihnen erkennt er sein wahres Wesen. Der Held reift vom
ungeduldigen Herausforderer zum weisen Herrscher, der seine Schwächen wie
Stärken kennt und nach bestem Wissen und Gewissen handelt.
Die Geschichte der Grünen läuft parallel zur Lebensgeschichte ihrer
Stammwähler - oder dem, was sie als solche ansehen. So können sie ihren
Wandel von den K-Gruppen zur Kita-Gruppe in eine große Erzählung fassen.
Das klingt romantischer als die Feststellung des Politologen Markus Klein
zum 25. Parteijubiläum: "Wer sein Eigenheim abbezahlt, hat andere
Prioritäten als den Systemumsturz." Diese Selbstinszenierung als Machthaber
und gleichzeitiger Opponent trägt dazu bei, dass das Teflon-Image der
Grünen verfängt.
Vererbbares Heldenimage?
Doch die Altersgruppe der Trittins, Künasts und Roths wird die aktive
Politik in den kommenden Jahren verlassen. Lässt sich dieser "lange Lauf zu
mir selbst", den Joschka Fischer am eindrücklichsten vorgemacht hat,
einfach von einer Politikergeneration auf die nächste übertragen? Ist das
Partei-Image, unter schmerzhaften Irrungen zur Vernunft gereift zu sein,
vererbbar?
Die Grünen hat nicht das noch vor zehn Jahren prophezeite Schicksal ereilt,
als "Ein-Generationen-Partei" zu verdorren. Heute sitzen in den Kreis- und
Landtagen, im Bundestag und im Parteirat auch viele Menschen in ihren
Zwanzigern und frühen Dreißigern. Strebsame, fachlich versierte und
pragmatische Experten, die Zehn-Sekunden-Statements fürs Fernsehen abspulen
können, aber auch detailreich die moralische Verwerflichkeit der
Energiekonzerne beim Emissionshandel geißeln.
Die Heldenreise seiner Vorgänger kann der Nachwuchs nicht vorweisen. Zieht
man diese ab, wird offenbar: In vielen Punkten ähneln Grüne und FDP
einander mehr, als beiden lieb sein kann: Beim Datenschutz, Minderheiten-
und Bürgerrechten sowie der Notwendigkeit langfristig stabiler Haushalte
unterscheiden sich ihre Ansichten kaum voneinander.
Fast unmerklich haben die Grünen in der Wählerwahrnehmung ein einst
zentrales Merkmal der FDP gekapert: Die einstigen Spinner, nicht die Männer
im Maßanzug gelten heute als die Partei der Vernunft. Es war wirklich eine
lange Reise.
Vom Zeitgeist gehätschelt
Dieser Umstand ist deshalb bemerkenswert, weil er viel aussagt über die
Bedeutung von öffentlichen Images. FDP und Grüne gelten als
grundverschieden, doch trifft das weniger für einen Großteil ihrer
politischen Inhalte zu als vielmehr für die Mentalitäten ihrer Mitglieder
und Wähler.
Die öffentliche Wahrnehmung könnte kaum unterschiedlicher sein: Die FDP
müht sich seit Jahren vergeblich, das 28 Jahre alte Image der
Umfallerpartei abzuschütteln. Die Grünen koalieren in den Ländern wahlweise
mit SPD, CDU oder FDP - und erhalten Applaus für ihren "Kurs der
inhaltlichen Eigenständigkeit". Der Zeitgeist hätschelt die Grünen.
Also: Wohin geht es mit dieser Partei? Wird die breite öffentliche
Zustimmung sie behäbig und selbstgerecht werden lassen - wie es einst der
SPD widerfuhr? Die begann nach ihren ersten Regierungsjahren zu glauben,
sie habe ein Abonnement aufs Fortschrittlichsein. Wozu diese Haltung
geführt hat, ist bekannt.
Die Grünen haben die Chance, es besser zu machen. In ihren Reihen ist ein
erstaunliches Arbeitsethos verbreitet, eine noch immer in anderen Parteien
undenkbare Diskussionsfreude und ein Wille zur Veränderung. Nennenswerte
Korruptionsskandale haben die Grünen erstaunlicherweise bislang nicht
vorzuweisen. Darüber hinaus haben es die Grünen heute mit einem ganz
anderen gesellschaftlichen Umfeld zu tun als vor 30 oder 20 Jahren.
Ihre große Chance ist es, in einer Welt der erneut bröckelnden Gewissheiten
Orientierung anzubieten: Wie der Vietnamkrieg vor 40 Jahren und das Ende
des Kalten Krieges vor 20 Jahren Weltbilder zerstörte, so bringen heute der
Beinahezusammenbruch der Weltwirtschaft und der Klimawandel alte
Gewissheiten ins Wanken.
Die Grünen nehmen diese Unsicherheit auf. Wer sich ihnen zuwendet, hat das
Gefühl: Viel falsch machen kann ich da nicht. Um diese Hoffnungen nicht zu
enttäuschen, muss die Partei sich erneut wandeln. Ihr Ziel: die Vereinigung
von Ökologie und Ökonomie. Wenn es ihr gelingt, als wirtschaftlich
kompetent dazustehen, werden sich ihr weitere Wählerschichten erschließen:
die Facharbeiter und Angestellten, die in jedem Wirtschaftsabschwung um
ihre Jobs fürchten müssen. Dann ist die Heldenreise endgültig
abgeschlossen.
3 Sep 2010
## AUTOREN
Matthias Lohre
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