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# taz.de -- Doku über Mexiko und die USA: Grenzwächter und Buschfeuer
> Im Niemandsland zwischen Mexiko und den USA: Der Dokumentarfilm „El mar
> la mar“ zeigt den Weg eines Flüchtlings durch die Sonora-Wüste.
Bild: Fehlt den Flüchtigen oft: das Geld
In der Wüste, wenn es Nacht ist, passen sich die Augen der Dunkelheit an.
Und die Dunkelheit ist eine andere als in der Stadt: „Der Himmel ist wie
ein Dach aus Licht“, meint ein mexikanischer Flüchtling, als er von seiner
langen Wanderung durch die Sonora-Wüste bis zur US-Grenze berichtet. Er
erkennt Grenzwächter aus weiter Ferne, denn beim langen Gehen haben sich
seine Augen den Verhältnissen angepasst.
Für „El mar la mar“ untersuchten Joshua Bonnetta und J. P. Sniadecki die
unwirtliche Region als politisches und sinnliches Feld, weniger als
Lebensraum denn als Erfahrungsraum. Entstanden ist ein Film, der außerhalb
dunkler Kinosäle schwerlich zur Geltung kommen kann und verloren wirkt.
Doch auf der großen Leinwand ist er augenöffnend.
Auf körnigem Analogfilmmaterial gedreht, zeigen die Bilder manchmal nur
kleine Indizien des Sichtbaren, daneben stehen andere Eindrücke übergroß
und fast überfordernd. Einmal ist, inspiriert von der Geschichte des
erwähnten Flüchtlings, ein Landstrich zu sehen, in dem sich kleine Menschen
abzeichnen und langsam wachsend auf die Kamera zugehen.
Die Größen sind nicht einzuschätzen und spielen hier keine Rolle – ebenso
wie die Gewalt, die der Mensch andernorts über die Welt besitzt. Als ein
Bewohner der Gegend seine Begegnung mit einem mysteriösen, einarmigen
Monster schildert, brennt eine kleine Fackel in der Dunkelheit. „Wenn ich
Aufnahmen davon hätte, wäre ich vielleicht schon Millionär“, meint er.
Direkt darauf folgt ein Buschfeuer. Gefilmt aus der Entfernung, zeichnen
die Brände eine mysteriöse Linie durch die Natur, begleitet vom lebendigen
Geräusch der Flammen. Sie werden immer lauter und vermischen sich dann mit
einer dröhnenden Bassfrequenz. In einem solchen Moment der anschwellenden
Intensität liegt auf einmal der Eindruck nahe, als hätte sich die Hitze
selbst in das 16-Millimeter-Material eingeschrieben, auf dem gedreht wurde.
## Eindrücke, die das Bild allein nicht erfasst
Ganz uninteressiert sind Joshua Bonnetta und J. P. Sniadecki dann übrigens
doch nicht an der Gewalt des Menschen, wenn auch nur im Bereich ihrer Rolle
als Künstler. Ihre Bilder und Klänge sind Teil eines sehr bewussten
Produktionsprozesses. So interessieren sie sich für das Monster, für das
nicht Abbildbare – für Eindrücke, die das Bild allein nicht erfassen kann.
Und gleichermaßen für die Eindrücke jenseits der menschlichen
Weltwahrnehmung, die in dieser Form nur im Kino existieren können.
Beide gehören zum „Sensory Ethnography Lab“ (SEL), der vieldiskutierten
Dokumentarfilmwerkstatt an der Harvard-Universität, deren Mitglieder sich
seit 2006 einer Neuauslotung des visuellen Forschens verschreiben. Das
Projekt basiert auf Fragen der Ethnografie, anthropologischen Positionen
des späten 20. Jahrhunderts (etwa Paul Stoller, Michael Jackson, Robert
Desjarlais) und philosophischen Strömungen, die offenen Beziehungen
zwischen Menschen, Tieren und Objekten nachspüren. Grundannahmen, die sich
von Film zu Film neu mit ästhetischen Experimenten der individuell
Mitwirkenden und deren Erfahrungen im Dokumentarfilm sowie der Sound- und
Videokunst vermengen.
Nach jahrelanger Filmarbeit zählen einige von ihnen heute zu den Lieblingen
der internationalen Festivalszene, gerade erst widmete das Leipziger
GEGENkino Festival der Gruppe eine ausführliche Retrospektive. Besonders
häufig ist die Rede von SEL-Gründungsmitglied Lucien Castaing-Taylor und
seiner Kollegin Véréna Paravel, die 2012 den Film „Leviathan“ auf einem
riesenhaften Fischkutter filmten und zuletzt mit „Caniba“ bei der documenta
14 zu sehen waren.
Letztere Arbeit beschäftigte sich mit dem Pop-Kannibalen Issei Sagawa, der
nach dem Mord an einer Frau in Frankreich in seine japanische Heimat
zurückkehrte und wiederholt in Erotikfilmen und im Fernsehen auftauchte.
Die Kamera untersucht, wie Sagawa blickt und spricht, wie er sich zu seinem
Bruder verhält und der Bruder zu ihm. Parallel dazu verschaffen
Castaing-Tailor und Paravel ihrer filmischen Mission immer wieder
entschieden Geltung, etwa wenn Unschärfen es erschweren, Sagawas Mimik zu
erkennen.
Dass hier ein Individuum so sehr im Fokus steht, ist an sich schon eine
Ausnahme. Bei den Arbeiten der beiden steht der Mensch zumeist am Rande,
seine Wichtigkeit neben anderen Lebewesen und Phänomenen der Welt wird
durch deutliche Formentscheidungen relativiert.
## Beigeschmack von Privilegien
Wenn der Mensch eigentlich nachrangig ist, erscheint die Wahl umso
kalkulierter: Warum ausgerechnet der Kannibale? Zwischen Formfragen und
strategischen Abwägungen verschwimmt, wer hier eigentlich im Zentrum steht:
etwa die Filmemachenden selbst? Die meisten der Filme der Gruppe ähneln
sich in ihren Entscheidungen, das filmische Experiment und den ästhetischen
Entwurf stärker zu gewichten als Analyse, Beobachtung oder (Selbst-)Kritik.
Es schwingt trotz aller Qualitäten der Hintergrund einer langen Geschichte
weißer, kolonialistischer Ethnografie und die Frage nach Status, Egomanie
und Opportunismus im Kunstbetrieb mit in diesen Filmen.
Auch in Bonnetta und Sniadeckis „El mar la mar“ geistert ein Beigeschmack
von Privilegien durch die Bilder. Dass die Menschen hier ähnlich wie bei
„Leviathan“ allerdings wieder ganz in den Hintergrund rücken und meist nur
durch Sprache anwesend sind, tut dem Film nicht nur gut, sondern
funktioniert hier in der Tat als politisierter Kommentar auf ein
immerwährendes Verschwinden von reisenden und herumwandernden Seelen
zwischen kargen Felsen. Zudem wird das Bild selbst zum Diskussionspunkt,
wenn begleitet von Schwarzbild über Eindrücke gesprochen wird, die die
Menschen nicht vergessen können.
Eine Leiche wird Thema, die vor Jahren ohne Hände, Füße und Kopf gefunden
wurde. Die Worte wecken Assoziationen und vermischen sich mit einem Gefühl
für Konsequenz an diesem entlegenen Ort, über dessen Geschichten –
ebenfalls ein Kommentar im Film – die Medien nur selten berichten. Das Kino
ist auch in den Routinen des SEL noch immer eine Möglichkeit der
Gegeninformation, Forschung und Welterkundung.
Daran anschließend, offenbart der Film die wichtige Verteidigung einer
uneindeutigen Welt: „Die Leute verlieren ihren Führer“, meint eine Frau,
die eines nachts einen völlig verirrten, desorientierten Mann bei sich
aufnimmt. Der Film selbst beginnt mit einer Desorientierung, zeigt unter
dem Kapitelnamen „Fluss“ rasch sich bewegende, zappelnde Blicke auf Gräser
und Bäume, die kaum dechiffrierbar scheinen und doch ausreichend deutliche
Verweise herstellen auf die Möglichkeit, eine Facette der Realität als
nicht statisch Gegebenes, sondern eben als im Fluss zu sehen und zu
erleben.
Derlei Verweise häufen sich refrainartig, wenn Hunderte Ameisen oder
Flughunde im Bild herumwuseln, Halme im Wind wehen oder jenseits des Bilds
zahllose Amateur-Funkwellen chaotisch miteinander zusammengemischt werden.
Und einmal ist eine Frau zu sehen, die wortwörtlich abtaucht im
titelgebenden Meer der Welt, ein Teil der Erde wird. Sie gräbt erst am
Rande einer Wasserstelle herum, steigt dann gemächlich hinein und lässt
sich ganz unmerklich immer weiter unter einen Felsen gleiten, bis sie aus
dem Licht vollends verschwunden ist. Die Vereinigung mit der Wüste,
selbstgewählt und doch magisch, im Grunde befreit von jeder Psychologie,
als Ereignis und unerwartete Wendung formuliert. Wie eine Idee davon, dass
die Menschen in Frieden gehen werden.
8 Jun 2018
## AUTOREN
Dennis Vetter
## TAGS
Mexiko
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