# taz.de -- Biografie über Léopold Sédar Senghor: Der Identitätsstifter | |
> Das neue Werk über den ersten senegalesischen Präsidenten und seine | |
> Kulturpolitik berührt aktuelle Debatten. | |
Bild: Léopold Sédar Senghor (1906-2001) war Dichter – und der erste Präsid… | |
Gleich hinter Dakars atlantischer Küstenstraße Corniche ragt aus einem | |
weiten Garten der Alterswohnsitz des Dichters und Politikers Léopold Sédar | |
Senghor (1906–2001), dem ersten Präsidenten des unabhängigen Senegal. In | |
seiner Architektur gleicht der monumentale Bau den sandfarbenen Moscheen | |
der Sahelzone, ein Eindruck, der sich schnell verliert, wenn man das Innere | |
betritt. Hier findet man sich in einer europäischen Villa wieder – edle | |
Polstermöbel, farblich abgestimmte Zimmer, Marc Chagalls „Bonjour Paris“, | |
ein Geschenk des Künstlers. | |
Das Gebäude steht symbolisch für einen Vorwurf, mit dem Senghor sich zeit | |
seines Lebens konfrontiert sah: Er sei nur nach außen ein Afrikaner, | |
innerlich habe er sich allzu sehr an die ehemalige Kolonialmacht | |
Frankreich assimiliert und seine „afrikanische“ Identität aufgegeben. | |
Die Biografie „Ein Afrikaner in Paris“ der Kunsthistoriker Hans Belting und | |
Andrea Buddensieg erkundet diesen Konflikt, der das Schaffen des Dichters | |
und Staatsmanns Senghor bestimmte. Das „ungewohnte Buchthema“, wie es im | |
Nachwort heißt, ist die Kulturpolitik der zwanzigjährigen Präsidentschaft | |
Senghors von 1960 bis 1980. Belting und Buddensieg zeichnen akribisch nach, | |
inwiefern Senghor als Kulturpolitiker und Gründer neuer Institutionen der | |
Kunstszene „ein einmaliger Fall in Afrika“ war, und beschreiben den | |
Emanzipationsprozess, auf den er mit dieser Politik abzielte. | |
Über Senghors Lebenswerk prangt der Großbegriff der Négritude, jene | |
künstlerische und politische Bewegung, die ein spezifisches „afrikanisches“ | |
Selbstbewusstsein proklamierte mit dem Ziel, „sich von den Ketten der | |
kulturellen Kolonisierung zu befreien“, wie Senghor in einem Alterswerk | |
schreibt. | |
## Die „Négritude“ als politische Strategie | |
Jean-Paul Sartre sprach von einem „antirassistischen Rassismus“, was er | |
explizit positiv im Sinne einer „schwarzen“ Selbstermächtigung verstand. | |
Große postkoloniale Theoretiker wie etwa Franz Fanon kritisierten hingegen | |
genau diesen Essenzialismus der Négritude, die mit ihrer Proklamation einer | |
„schwarzafrikanischen“ Identität nur ethnische Unterschiede zementiere. | |
Für Senghor war die Négritude allerdings vielmehr eine literarische und | |
politische Strategie, dem westlichen Universalismus den historischen | |
Reichtum der Kulturen südlich des Mittelmeers gegenüberzustellen und | |
zugleich die „Métissage“, die Mischung, als eigentlichen Reichtum aller | |
großen Kulturen zu proklamieren. | |
Senghors Kritiker warfen ihm zeitlebens vor, sich zu sehr an die | |
europäische Moderne assimiliert zu haben und nur eine politische Marionette | |
Frankreichs im Kampf um die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten zu | |
sein. Als er (ausgerechnet!) 1968 den Friedenspreis des Deutschen | |
Buchhandels in Frankfurt entgegennahm, versammelten sich draußen die | |
Studenten, um „der philosophierenden Charaktermaske des französischen | |
Imperialismus“ den Weg zur Paulskirche zu versperren. | |
Drinnen erklärte der Dichterpräsident dem deutschen Publikum die Négritude | |
als ein „Urafrika, das zugleich zum Mittelmeer hin offen bleibt“ und sprach | |
von einer „Weltkultur, die ein gemeinsames Werk aller verschiedenen | |
Kulturen sein wird“, und einer „Versöhnung der Gegensätze“. | |
## Für ein „Eurafrique“ | |
Tatsächlich warb Senghor noch lange vor der Unabhängigkeit Senegals für | |
einen europäischen Staatenbund, der Afrika miteinschloss, für ein | |
„Eurafrique“. Er warnte vor einer „Balkanisierung“ Westafrikas, sollte | |
sich die Dekolonisierung zu radikal vollziehen. Seine Ziele waren nicht | |
Revolution und Nationalismus, sondern eine schrittweise Emanzipation der | |
Kolonien und eine panafrikanische Einheit. | |
Belting und Buddensieg zeigen, wie der Schriftsteller und später der | |
Politiker Senghor zwischen den Fronten Europa und Afrika stand und | |
verteidigen Senghors Strategie auf dem Weg zur Unabhängigkeit: „Statt die | |
Kolonialmacht Frankreich aus der Verantwortung zu lassen, drängte er sie, | |
in Afrika zu investieren, um dort die postkoloniale Zukunft ökonomisch | |
und institutionell abzusichern“. Senghor habe dafür geworben, „mit den | |
Franzosen statt gegen sie in die Zukunft zu gehen“. | |
Keineswegs hatte er dabei eine plumpe Assimilation an die europäische | |
Kultur im Sinn. Seine Vision der Négritude trat vielmehr dafür ein, die | |
Unabhängigkeit und die Einheit Afrikas weniger auf einem Kampf gegen | |
Unterdrückung zu gründen als auf dem Vorhandensein gemeinsamer kultureller | |
Werte. | |
Es ging ihm darum, die „Last der Kolonialzeit positiv zu überwinden“ – m… | |
den Mitteln der Kulturpolitik, um so eine „afrikanische“ Moderne zu | |
entwickeln, die den westlichen Universalismus zu überwinden vermochte. | |
Belting und Buddensieg beschreiben, wie sich der Begriff der Négritude bei | |
Senghor in den Jahren gewandelt hat, von einer Proklamation | |
„schwarzafrikanischer Identität des Pariser Studenten“ hin zu einer auf | |
Dialog ausgerichteten politischen Philosophie, die Kolonialismus und | |
Neokolonialismus eine „civilisation de l’universel“ entgegensetzen wollte. | |
## Dialog und Selbstbewusstsein | |
Anhand des reichen Bild- und Quellenmaterials gelingt es Autorin und Autor, | |
ein umfassendes Bild des Versuchs zu zeichnen, den jungen Staat Senegal auf | |
den Fundamenten der Kulturpolitik zu errichten. Senghor begegnete dabei der | |
Herausforderung, die institutionellen Voraussetzungen für eine nationale | |
Kunstszene erst schaffen zu müssen: In dem von ihm gegründeten Musée | |
dynamique gastierten Ausstellungen über Pablo Picasso, Pierre Soulages oder | |
Marc Chagall, deren Rolle im kulturellen Emanzipationsprozess | |
(West-)Afrikas von Belting und Buddensieg anschaulich analysiert wird. | |
Darüber hinaus etablierte Senghor mithilfe einer Kunstakademie und einer | |
Manufaktur für Kunstgewerbe die „Schule von Dakar“, um einheimischen | |
Künstlern eine Plattform zu bieten. Ein Höhepunkt dieser Politik war das | |
„Premier festival mondial des arts nègres“, das 1966 in Dakar stattfand und | |
im Buch unglücklicherweise tatsächlich mit Weltfestival der „Negerkünste“ | |
übersetzt wurde. | |
Das Ereignis feierte den Dialog der Kulturen und war damit maßgeblicher | |
Ausdruck für Senghors Bestreben, den Nationen Afrikas ein neues | |
Selbstbewusstsein durch die Kunst zu vermitteln. Dialog und | |
Selbstbewusstsein: Senghors Version der Négritude nahm hier in Form eines | |
Festivals konkrete Gestalt an. | |
## Nicht die erste umfassende Würdigung | |
Gescheitert ist Senghors Kulturpolitik letztlich vor allem an zunehmenden | |
finanziellen Problemen ab den 1970er Jahren, wobei Belting und Buddensieg | |
eine weitere Ursache in der mangelnden Annahme des staatlichen | |
Kunstprogramms durch die senegalesische Gesellschaft ausmachen: „Senghor | |
überschätzte das einheimische Publikum, das sich angesichts der neuen | |
Kulturinstitutionen unangenehm an die Kolonialzeit erinnert fühlte.“ | |
Hier hätte man sich eine Vertiefung insbesondere der strukturellen Ursachen | |
dieses Scheiterns erhofft. Das gilt auch für die politische Einordnung von | |
Senghors Kulturpolitik in die allgemeine Entwicklung Senegals während | |
seiner Präsidentschaft, vor allem mit Blick auf den naheliegenden | |
Zusammenhang mit der Bildungs- oder Sprachpolitik. | |
Verwunderlich ist außerdem der Hinweis, es handele sich bei dem Buch um die | |
„erste umfassende Würdigung Senghors und seines Lebenswerks in deutscher | |
Sprache“. Diese hat bereits 2006 der Literaturwissenschaftler und | |
Senghor-Experte János Riesz vorgelegt. Dabei ist der neuen Biografie | |
zugutezuhalten, dass sie eine Lücke schließt, da Riesz’ (leider | |
vergriffenes) Standardwerk sich vor allem auf Senghors Lebensweg bis zu | |
seiner Präsidentschaft konzentriert. | |
## Senghors Politik fand ein Echo – trotz aller Schwierigkeiten | |
Wie aktuell die in dem Buch verhandelten Themen sind, zeigt sich unter | |
anderem an der Diskussion um die Rückgabe europäischer ethnologischer | |
Sammlungen an afrikanische Staaten, die auch mangels kulturpolitischer | |
Strukturen in den Herkunftsstaaten der Artefakte eine Herausforderung | |
darstellt. | |
In Senegal stünde dafür bald ein Ort zur Verfügung: Folgt man der Corniche | |
von Senghors Residenz am Ozean entlang bis zu ihrem Ende, gelangt man zu | |
dem pompösen Rundbau des Museums der schwarzafrikanischen Kulturen, das | |
bereits unter Senghor konzipiert wurde und Ende 2018 eröffnet werden soll. | |
Neben der ältesten Kunstbiennale südlich der Sahara, der Dak’Art, die in | |
diesem Mai zum 13. Mal in Senegals Hauptstadt stattfand, handelt es sich um | |
eine Spätfolge Senghors Kulturpolitik. Museum und Biennale beweisen, dass | |
diese Politik trotz aller Schwierigkeiten ein Echo gefunden hat. | |
Hans Belting und Andrea Buddensieg ist es zu verdanken, dass der Ursprung | |
dieses Echos nun einer breiten Leserschaft zugänglich ist. | |
14 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Valentin Feneberg | |
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