# taz.de -- Architektur der Tropischen Moderne: Mit Style und Widersprüchen | |
> Kolonial und postkolonial zugleich: das Victoria & Albert Museum in | |
> London widmet sich der Architekturgeschichte des „Tropical Modernism“. | |
Bild: Der Independent Square in Accra nach Entwürfen des in Harvard ausgebilde… | |
Die sogenannte tropische Moderne war, das wird in der Ausstellung „Tropical | |
Modernism. Architecture and Independence“ im Londoner Victoria and Albert | |
Museum schnell klar, keine Architekturform, die den antikolonialen | |
Widerstandsbewegungen des 20. Jahrhunderts entwachsen ist. | |
Vielmehr standen öffentliche Bauprojekte wie der Universitätscampus von | |
Ibadan in Nigeria, begonnen 1955 unter Leitung des britischen | |
Architekt*innenpaars Jane Drew und Maxwell Fry, oder das Community | |
Centre von Accra in Verbindung zum spätkolonialen Bewusstsein, dass das | |
Ende der britischen Herrschaft zwar bevorstand, man sich aber in diesem | |
Moment „letzter und endgültiger Grandeur,“ so wird Fry in der Ausstellung | |
zitiert, noch etwas würde einfallen lassen können, um den imperialen | |
„Denkapparat“ darüber hinaus bestehen zu lassen. | |
In vier kompakten, auf gründlicher Forschung basierten Räumen erzählt | |
„Tropical Modernism“ von diesen Anfängen ebenso wie von dem | |
[1][Bedeutungswandel, den moderne Formen im Zug der | |
Unabhängigkeitsbewegungen] und Staatenbildung unterliefen. Der Fokus liegt | |
auf Ghana und Indien, wo Drew und Fry nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit | |
ihrem Architekturbüro Projekte verwirklichten, die einer nicht-weißen | |
Mittelschicht das Leben, Lernen und Arbeiten in klimatisch angenehmer | |
Umgebung ermöglichen sollten und dabei der Kolonialherrschaft ein liberales | |
Gesicht gaben. | |
Trotz dieser Verstrickungen erhoben Politiker wie Ghanas erster Präsident | |
Kwame Nkrumah und Indiens erster Ministerpräsident Jawaharlal Nehru die | |
tropische Moderne bald zur architektonischen Form der Unabhängigkeit. Das | |
ist heute noch sichtbar, etwa an der beschwingenden Stadionarchitektur, die | |
Victor Adegbite für den Independence Square in Accra entwarf, oder an der | |
monumentalen Planstadt Chandigarh, die als Kooperation zwischen Le | |
Corbusier, Fry und Drew entstand. | |
## Keine durchweg koloniale Form | |
„Tropical Modernism“ konfrontiert Besucher*innen zwar mit dem Paradox, | |
dass die Proklamation politischer Unabhängigkeit mit ästhetischer und | |
bisweilen personeller Kontinuität einherging, gibt sich aber nicht der | |
Annahme hin, es handle sich bei der architektonischen Moderne um eine | |
durchweg koloniale Form, die blind übernommen oder gar kopiert wurde. Am | |
Ende bleibt somit Raum für Fragen, die über eine Feststellung der | |
ambivalenten Natur der postkolonialen Moderne hinausgehen: Wie haben sich | |
Nutzung und Aussehen der Gebäude seit ihrem Bau verändert? Können die | |
Architekturprinzipien der 1950er und 1960er Jahre eine Grundlage für eine | |
klimagerechte und umweltfreundliche Architektur bilden? | |
Das erste Kapitel der Ausstellung sensibilisiert Besucher*innen für | |
einen Kanon aus luftigen brises soleil, adjustierbaren Sonnenklappen und | |
feuchtigkeitsresistenten Materialien, den Jane Drew und Maxwell Fry mit | |
ihrer vor allem in Westafrika agierenden Firma immer wieder propagierten. | |
Das Resultat war eine fotogene Prestigearchitektur, die in Zeitschriften | |
einem europäischen Publikum vorgestellt wurde. | |
Der Vergleich zweier Abbildungen ist bezeichnend für den ideologischen | |
Wandel, dem die tropische Moderne im Zug der Unabhängigkeitsbewegungen | |
unterlag: In einer Ausgabe der Architectural Review von 1953, vier Jahre | |
vor Ghanas Unabhängigkeit, begleitet Frys Artikel „African Experiment“ eine | |
Farbskizze, auf der ein gesichtsloses, schwarzes Mädchen im gepunkteten | |
Kleid ein Buch unter dem Arm hält. Es wendet sich einem markanten | |
Flachdach-Gebäude zu und findet Schatten hinter einer durchbrochenen Wand | |
aus brises soleil. | |
Der Eindruck entsteht, die moderne Architektur schenke dem braven Kind den | |
Eintritt in eine friedfertige Welt der europäischen Bildung. Neun Jahre | |
später lehnt ein junger Mann selbstbewusst in Shorts, Hemd und weißen | |
Sneakern an einer ähnlichen Wand auf dem Campus der Universität von Ibadan. | |
Das schwarz-weiß Foto zeigt ihn im Profil, der Schatten seines Körpers | |
ergänzt das Lichtspiel der Architektur um ein weiteres Element. Der Student | |
ist der Architektur mindestens ebenbürtig. Die Moderne ist hier kein | |
auferlegtes Dogma, sondern eine spielerische Herausforderung. | |
## Historiografie ohne Helden und Antihelden | |
Nur kurze Erwähnung finden in der Ausstellung die unzähligen | |
Arbeiter*innen, die die Bauten überhaupt ermöglichten: In Indien sei es | |
billiger gewesen, 700 Leute anzustellen, als eine einzige Maschine zu | |
benutzen, wird Jane Drew zitiert. Hier eröffnet sich die ungenutzte | |
Möglichkeit, Architekturgeschichte nicht vor allem anhand von | |
Einzelpersonen zu erzählen. Tropical Modernism schlägt stattdessen vor, den | |
Kanon um afrikanische Architekt*innen wie Peter Turkson und John Noah | |
oder den indischen Modellbauer Giani Rattan Singh zu erweitern. Die | |
dringend notwendige Etablierung einer Historiographie, die architektonische | |
Strömungen nicht nur als Geniestreich von Architekt*innen und | |
Politiker*innen darstellt, kommt deshalb zu kurz. Wer musste diesen | |
Bauten weichen? Woher kamen die Arbeiter*innen, das Material? Solche Fragen | |
werden im V&A nicht gestellt. | |
Über den Ausgang der Ausstellung wacht die monumentale Replik einer | |
[2][Nkrumah-Statue von 1958, die sowohl eine optimistische Auferstehung des | |
Panafrikanismus] als auch einen beklemmenden Personenkult suggeriert. In | |
ihren Widersprüchen ist diese Skulptur ganz anders als Le Corbusiers | |
abstrahierter Modulor-Mann, dessen Proportionen die Grundlage für | |
Chandigarh bildeten. „Tropical Modernism“ erinnert somit daran, dass Form | |
keiner Deutungsnorm unterliegt, sondern Widersprüche enthält, die je nach | |
Standpunkt unterschiedlich ausgelegt werden können. | |
6 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Luise Mörke | |
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