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# taz.de -- Integration von Geflüchteten: Gut angekommen
> Die Kinder nennen sie Miss Tara. Vor zwei Jahren floh Masoume Taravatipak
> aus dem Iran. Heute arbeitet sie als Lehrerin in Brandenburg.
Bild: Spielend Englisch lernen: Masoume Taravatipak unterrichtet Viertklässler
Blankenfelde taz | Gegen elf Uhr morgens im Klassenzimmer der 4 c rückt
Miss Tara, die Assistenzlehrerin, kurz ihre Brille zurecht, bevor sie mit
ihren braunen Lederstiefeln in einen Pappkarton steigt. Für einen kurzen
Moment wird das Gebrabbel von zwanzig Kindern etwas leiser, dann fragt Frau
Green, die Englischlehrerin: „Where is Miss Tara?“ Wo ist Miss Tara?
Etliche Kinderarme schnellen nach oben, „Ich, ich!“
Ein Mädchen, auf deren Tisch ein Kuscheltier mit großen Glubschaugen liegt,
antwortet: „Miss Tara is in the box.“ Und Miss Tara, die immer noch
kerzengerade im Karton steht, lächelt und nickt. Das war die richtige
Antwort. Miss Tara ist im Karton. Dann steigt sie wieder heraus, greift den
Karton und streckt die Arme hoch. Die Frage, wo Miss Tara ist, wird immer
wieder aufs Neue beantwortet. Mal ist sie in, unter, neben oder hinter dem
Karton. Nur wer ist sie eigentlich?
Miss Tara heißt in Wirklichkeit Masoume Taravatipak. Aber die Schüler
nennen sie Miss Tara, weil der Nachname mit den vielen Buchstaben für sie
so ungewohnt klingt. Vor etwa zweieinhalb Jahren, im Oktober 2015, floh sie
gemeinsam mit ihrem Mann aus dem Iran – aber dazu später mehr. Und nun,
seit November 2017, arbeitet die Dreißigjährige als Assistenzlehrerin an
der Ingeborg-Feustel-Grundschule in Blankenfelde-Mahlow. Das, was hier in
der Gemeinde mit rund 27.000 Einwohnern im südlichen Brandenburg passiert,
ist eine unvergleichliche Geschichte über Mühe und Integration.
Anderthalb Jahre lang hat Taravatipak am Refugee Teachers Program der
Universität Potsdam teilgenommen. Es ist das erste Pilotprojekt
Deutschlands, das geflüchtete Lehrer und Lehrerinnen wieder an Schulen
bringen möchte. Finanziert wird es bis zum März nächsten Jahres vom
Brandenburger Wissenschaftsministerium und vom Deutschen Akademischen
Austauschdienst. Mittlerweile hat die Universität Bielefeld ein ähnliches
Projekt auf den Weg gebracht.
## Integration fördern, die Bildungsmisere lindern
Die Idee ist angesichts des Lehrkräftemangels schlüssig. Die Schülerzahlen
steigen, immer mehr Lehrkräfte gehen in Rente und an den Universitäten wird
nicht genügend Nachwuchs ausgebildet, um diese Lücke zu schließen. In
Brandenburg fielen im Schuljahr 2016/ 17 nach Angaben des Brandenburger
Bildungsministeriums rund 255.000 Unterrichtsstunden aus – mit 2,1 Prozent
der Höchststand seit zehn Jahren. Das Refugee Teachers Program kümmert sich
so gesehen um zwei Probleme der Bundesrepublik: die Integration von
Geflüchteten und die Misere im deutschen Bildungssystem.
Durch Zufall erfuhr Taravatipak in der Flüchtlingsunterkunft in
Eisenhüttenstadt, in der sie kurzzeitig untergebracht war, von diesem
Programm. In Teheran hatte sie in einem privaten Englischinstitut Kinder,
Teenager und Erwachsene unterrichtet. Sie bewarb sich. Beim ersten von vier
Durchgängen flatterten über 600 Bewerbungen aus ganz Deutschland ein.
Taravatipak gehörte zu den 50 Auserwählten, die im April 2016 starteten.
Dann ging das Pauken los: Schulpädagogik, Fachdidaktik, ein begleitendes
Hospitationspraktikum und vor allem Sprachintensivkurse.
Am Ende des anderthalbjährigen Programms sollen die Teilnehmenden das
Sprachniveau C1 erreichen. Sie sollen also in kürzester Zeit anspruchsvolle
Texte verstehen und sich fließend ausdrücken können. Von den anfänglichen
50 blieben am Ende nur noch 26 übrig, fast die Hälfte brach ab. Und selbst
von denen, die dabeigeblieben sind, haben es nur 14 im geplanten Zeitrahmen
geschafft, viele müssen die C1-Prüfung wiederholen. Im September 2017
wurden die ersten Absolventen und Absolventinnen feierlich verabschiedet.
14 haben bereits einen Vertrag als Assistenzlehrkraft an einer
Brandenburger Schule, so wie Taravatipak. Sie hat das Unglaubliche
geschafft. Zwei Jahre nach ihrer Flucht arbeitet sie an einer Grundschule
und wird nach Tarif bezahlt.
Als Assistenzlehrerin unterstützt sie die Englischlehrerin Silvana Green.
Aber auch Mathe und Deutsch stehen auf ihrem Stundenplan. Während des
Englischunterrichts schaut Taravatipak, wo Hilfe gebraucht wird, flüstert
einzelnen Kindern etwas ins Ohr. Die Lehrerin Miss Green unterrichtet
fernab des traditionellen Frontalunterrichts. Es wird spielerisch gelernt,
gesungen, geklatscht und Taravatipak ist bei allem mit Einsatz dabei. Bei
einer Übung müssen die Kinder sich Schlafmasken aufsetzen, ihre Mitschüler
ertasten und auf Englisch reden. Nach Ende der Übung ruft ein Junge: „Ach
schade, das macht so Spaß!“
## Der Dinosaurier unter der Dusche
Gegen halb zwölf, nach einem kurzen Austausch mit Frau Green, öffnet
Taravatipak die Tür des Klassenraums. Sechs Kinder flitzen in den Flur und
lassen sich im Kreis auf den Boden plumpsen, Taravatipak setzt sich im
Schneidersitz dazu. In der Hand hält sie einen Stapel Karten und einen
Würfel. Auf den grünen Karten sind Möbelstücke abgebildet, auf den
orangefarbenen Spielsachen. Auf dem Würfel stehen Präpositionen.
Taravatipak sortiert die Karten, dann sagt sie: „Okay, Tabea“ und drückt
ihr den Würfel in die Hand. Das Mädchen würfelt und schaut gespannt, was
darauf steht: „under“, unter. Dann zieht Tabea zwei Karten: Ein Dinosaurier
und eine Dusche sind darauf zu sehen. Das Mädchen sagt nun: „The dinosaur
is under the shower.“ Der Dinosaurier ist unter der Dusche. Verschmitztes
Lächeln huscht über die Kindergesichter. Taravatipak freut sich, klatscht
kurz in die Hände, streicht dem Mädchen kurz über den Rücken und sagt:
„Sehr gut“. Das gleiche Spiel, jedes Kind kommt dran, reihum. Es scheint,
als hätte Masoume Taravatipak ihren Platz gefunden. Hier in
Blankenfelde-Mahlow, im Flur des zweiten Stocks zwischen grünen Spinden.
Auch nach dem Unterricht bleibt die gute Stimmung erhalten, zwanzig Kinder
kramen ihr Zeug zusammen und huschen raus in die Pause. Frau Green und Miss
Tara werfen sich einen Blick zu. Sie wirken zufrieden. Die Lehrerin Silvana
Green lehnt sich an einen Tisch und sagt: „ Ich arbeite gerne mit Miss Tara
zusammen. Sie hat das, was man zum Unterrichten braucht.“ Taravatipak
schaut verlegen und bedankt sich. Sie sagt: „Frau Green hat mich immer
unterstützt, nicht nur sie, alle hier in der Schule.“
Nach dem Unterricht geht Taravatipak in den ersten Stock, wo die Flurspinde
rot sind, öffnet die Tür eines leeren Raumes und setzt sich, um ihre
Geschichte zu erzählen. Sie ist in Ghom geboren, einer Stadt im Iran, gute
130 Kilometer südlich von Teheran. Im Oktober 2015 floh sie mit ihrem Mann
– aus zwei Gründen: Erstens leidet ihr Mann an Hämophilie, auch als
Bluterkrankheit bekannt. Durch die schwierige Wirtschaftslage im Iran seien
seine Medikamente nicht immer verfügbar.
Zweitens, so erzählt sie, saß ihr Mann, ein Programmierer, bereits einmal
wegen einer kritischen Äußerung im Internet ohne Anklage für 40 Tage im
Gefängnis. „Er wurde gefoltert und geschlagen. Er hat seine Medikamente
nicht bekommen. Sein Körper war, als er rauskam, einfach kaputt.“ Als ihm
2015 erneut Gefängnis drohte, war für beide klar: Sie geben ihr Leben im
Iran auf, fliegen in die Hafenstadt Izmir an der türkischen Ägais und
steigen in ein Schlauchboot Richtung Griechenland. Dann Mazedonien,
Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich, Deutschland. Irgendwann auf dem
Weg legte sie ihr Kopftuch ab, erzählt sie. Heute hat sie ihre braunen
Haare zu einem lockeren Zopf gebunden. Sie lächelt kurz. „Diese Luft in den
Haaren nach so vielen Jahren! Viele iranische Frauen wollen das Kopftuch
tragen und werden glücklich damit, aber mich hat es jeden Tag gestört. Ich
wollte frei leben.“ Ihre Augen werden glasig, sie sieht müde aus.
## Vier Sprachen gehen in einem Kopf durcheinander
Es ist das erste Mal bei dieser Begegnung, dass die ganze Anstrengung, die
sie hinter sich hat, durchschimmert. Sonst scheint alles an dieser Frau so
perfekt zu sein, nicht nur ihr Werdegang in Deutschland, auch ihr Aussehen,
dezent geschminkt, gepflegte Haut und Haare, schön gekleidet. Taravatipak
macht kleine Fehler beim Deutschsprechen, kommt durcheinander mit den
Vergangenheitsformen, rutscht immer wieder ins Englische. Irgendwann sagt
sie etwas frustriert: „In meinem Kopf sind vier Sprachen durcheinander.
Meine Sprache ist mein weakness.“ Ihre Schwäche. In ihrer Familie wird
Türkisch gesprochen, im Iran Persisch, sie unterrichtete in Teheran
Englisch, hier lernte sie Deutsch im Turbodurchlauf.
„Am Anfang“, sagte sie, „wollte ich so sein wie eine deutsche Lehrerin. I…
wollte perfekt sein. Aber ich wusste nicht einmal, wie alle Stifte im
Federmäppchen heißen. Ich kannte nur Bleistift und Kugelschreiber. Oder
diese ganzen Verben beim Basteln! Schneiden, anschneiden, ausschneiden,
einschneiden, das war alles so viel für mich.“
Manchmal fragte sich Taravatipak dann, ob sie nicht doch lieber in einer
Bäckerei arbeiten sollte. Brote backen, irgendetwas mit den Händen machen.
„Aber die Kinder sind sehr lieb zu mir, sie korrigieren mich, wenn ich
Fehler mache. Ich bin vielleicht wie eine ältere Freundin für sie. Sie
machen mir oft Komplimente, zu meiner Kleidung oder meinem Schmuck aus dem
Iran.“ Auf ihrem senfgelben Pullover trägt sie eine Brosche in Form eines
Schutzengels.
Taravatipak ist geflohen, hat Deutsch gelernt und eine gut bezahlte Arbeit
gefunden. Sie hat in zwei Jahren mehr geschafft als andere, die hier
geboren sind, jemals erreichen werden. Ob sie irgendwann vor ihrer eigenen
Klasse stehen wird, wird die Zukunft zeigen. Taravatipak sagt: „Wenn ich in
der Schule bin, vergesse ich alles. Dass ich Flüchtling bin, dass ich keine
eigene Wohnung habe und keine eigene Toilette. Draußen im Wohnheim kommt
die Einsamkeit.“
Etwas später wirft sie sich ihre braune Ledertasche um, geht ins
Sekretariat und verabschiedet sich. Heute musste sie nicht ihr normales
Programm machen. Sie geht vorbei am Eingangsschild der Schule, die nach
Ingeborg Feustel benannt ist – jener Schriftstellerin, die nach dem Zweiten
Weltkrieg von den Alliierten außerhalb eines Studiums ausgebildet und dann
in Blankenfelde als sogenannte Neulehrerin eingestellt wurde, um zu
verhindern, dass Lehrkräfte mit NS-Vergangenheit weiter unterrichten.
## Rassismus hat Taravatipak noch nicht erleben müssen
Taravatipak lädt auf einen Tee zu sich nach Hause ein, und während sie
durch die Straßen geht, erzählt sie, dass sie sich wundert, dass Deutsche
nie Obst von den Bäumen pflücken, die am Wegesrand stehen, dass sie
Radfahren gelernt hat, nachdem einmal ein Kind an ihr vorbei fuhr. Und
bevor sie nach Deutschland kam, hatte sie so eine Vorstellung, dass hier
alle in Militäruniformen rumlaufen. Sie lacht und sagt: „Wir haben alle
unsere Vorurteile. Aber Rassismus habe ich hier nie erlebt. Ich fühle mich
ganz sicher. Die Leute in Blankenfelde sind sehr nett. In der Schule, in
der Apotheke, im Ärztehaus, im Aldi, überall. Ich fühle mich
blankenfelderisch – sagt man das so?“
Das Flüchtlingswohnheim ist keine fünf Minuten von der Schule entfernt. Ein
umzäuntes Gelände, darauf ein schlichter, langgezogener zweistöckiger
Neubau, weiß gestrichen. Taravatipak zeigt auf die Balkone, die
nachträglich angebaut wurden, und grinst: „Es gibt keine Türen zu den
Balkonen, sehen Sie? Man muss durch die Fenster klettern.“ Auf dem Gelände
bleibt sie alle paar Meter stehen, Salam aleikum, kurzer Wortaustausch.
„Hier leben Menschen aus aller Welt, aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, das
ist sehr schön.“
Dann geht sie ins Gebäude, hoch in den zweiten Stock. In den Fluren hängen
Gerüche von Gewürzen in der Luft. In der karg eingerichteten
Gemeinschaftsküche steht ein Mann und schnipselt Gemüse. Außer ein paar
Herdplatten und einem Waschbecken gibt es in dem Raum nicht viel.
Taravatipak geht vorbei an den Duschen für Frauen, in denen zerfledderte
Vorhänge hängen, hin zu ihrem Zimmer. Ihr Privatleben ist in vielleicht
zwölf Quadratmeter gepresst. Hier lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann seit
zwei Jahren. Ausrangierte Möbel aus einem Hotel, das Bett wurde ihr von
einer Bekannten geschenkt. An der Wand hat sie Bilder von ihrer Familie
hängen, die bis heute nicht weiß, dass sie als Flüchtling in Deutschland
lebt. Die nicht weiß, dass sie ihr Kopftuch abgelegt hat, die nicht weiß,
dass sie sich hat taufen lassen und sonntags manchmal in die Kirche geht,
um „auszuatmen“. Dann sagt sie traurig: „Meine Familie ist sehr konservat…
und nationalistisch, sie würden das nicht verstehen.“ Sie schickt ihr
meistens nur Bilder von Landschaften, damit sie sie nicht mit offenen
Haaren sehen.
Taravatipak macht einen schwarzen Tee, kramt aus einem Schrank Pistazien,
Cashewnüsse und Süßigkeiten heraus und stellt sie auf den Tisch. Es wirkt
fast so, als würde Taravatipak mindestens drei Leben parallel führen. Ihr
Leben mit ihrer Familie im Iran, ihr Leben als Geflüchtete im Wohnheim, ihr
Leben als Miss Tara. Wenn sie so vor einem sitzt, ist es kaum vorstellbar,
dass sie am Morgen hier im Flüchtlingswohnheim vor dem Spiegel stand, bevor
sie zur Schule aufgebrochen ist. Sie ist auf der Suche nach einer Wohnung,
aber bislang hat nichts geklappt. Erst im Mai, nach diesem Treffen, hat sie
ihren Aufenthaltstitel für die nächsten drei Jahre bekommen. Das wird ihre
Suche vermutlich erleichtern.
Aber beschweren will sich Taravatipak nicht. Sie sagt: „Andere hier im
Wohnheim sitzen nur herum und können nichts machen. Ich habe Arbeit.“ Ihre
Stimme wird leiser, als sie hinzufügt: „Aber ich würde gerne mal ins Bad
gehen, wenn ich möchte, ohne warten zu müssen, bis es frei ist.“ Dann guckt
sie zum Fenster, durch das man in der Ferne die Baumwipfel eines Waldes
sieht, und sagt: „Ich mag diesen Blick. Nicht weit von hier ist der See.“
9 Jun 2018
## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
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