# taz.de -- Elektronische Gesundheitskarte am Ende: Zieht die Regierung die Not… | |
> Ständig hat sich die Einführung aus Datenschutzgründen verzögert. Nun | |
> will Merkel das Projekt beenden. Wieso? Und was folgt daraus? | |
Bild: Spahn kündigte an, Gesundheitsdaten könnten in Zukunft über Mobiltelef… | |
Nun also doch per Handy. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sprach | |
sich am Wochenende nach lang anhaltender Kritik dafür aus, die | |
Gesundheitsdaten Millionen Versicherter nicht länger über die elektronische | |
Gesundheitskarte (eGK) zu übermitteln. In Zukunft solle ermöglicht werden, | |
dafür stattdessen Mobiltelefone zu nutzen, erklärte Spahn. | |
Deutschlands Gesundheitssystem sollte schon seit Jahren digital sein. | |
Ursprünglich war geplant, die elektronische Gesundheitskarte zu nutzen, um | |
die Notfalldaten aller gesetzlich Versicherten permanent zugänglich zu | |
machen, und bis 2021 auch eine elektronische Patientenakte einzuführen, in | |
welcher Befunde, Rezepte und Therapieempfehlungen gespeichert werden | |
können. | |
Mit dem Aufbau der sogenannten Telematik-Infrastruktur (TI) sollten zudem | |
Praxen und Kliniken vernetzt werden. Die Vision: „Kein Wissen geht | |
verloren“, erklärte Karin Maag, gesundheitspolitische Sprecherin der | |
Unionsfraktion im Bundestag. Das neue System sollte Kosten sparen und Leben | |
retten. Doch nun steht das Großprojekt elektronische Gesundheitskarte mit | |
allen Anwendungen anscheinend vor dem Aus. | |
Die Gesundheitskarte war vor allem eins: teuer. Nach Schätzungen der | |
Innungskrankenkasse wurden seit 2003 bereits 1,7 Milliarden Euro | |
ausgegeben, ohne dass ein erkennbarer Nutzen für die Versicherten besteht. | |
Bis auf ein Foto, das seit 2015 die Karte aller gesetzlich Versicherten | |
schmückt, hat sich nicht viel getan. | |
## Die Kanzlerin will Jens Spahn „freie Hand“ geben | |
Die Skepsis hat nun auch die Bundesregierung erfasst – und diese scheint | |
die Notbremse ziehen zu wollen. Auf einer Konferenz mit | |
CDU-Kreisvorsitzenden am Mittwoch voriger Woche griff Merkel die | |
fundamentale Kritik an der elektronischen Gesundheitskarte auf. „Wir haben | |
jetzt ein zehn-, elfjähriges Experiment gemacht“, so die Kanzlerin. Sie | |
kündigte an, Gesundheitsminister Jens Spahn „freie Hand“ zu geben, andere | |
Lösungen für die eGK zu finden. | |
Dieser hatte das Ausbleiben von Erfolgen der Gesundheitskarte als „völlig | |
inakzeptabel“ bezeichnet und eine Lösung für das Handy ins Spiel gebracht. | |
Die Aussagen der Regierung sorgen für Unsicherheit im Hinblick auf den | |
bereits laufenden Ausbau der Telematik-Infrastruktur, da das Ende der | |
elektronischen Karte auch deren Anwendung die Grundlage entziehen würde. | |
Zuständig für die eGK und den Ausbau der TI ist die „Gematik“, eine 2005 | |
gegründete GmbH, deren Gesellschafter Kliniken, ärztliche Verbände und die | |
gesetzlichen Krankenkassen sind. Doch die Gematik gilt als träge. Auch ihr | |
Vorzeigeprojekt, die Telematik-Infrastruktur, kommt nur schleppend voran. | |
Bislang gilt: Bis Ende 2018 müssten eigentlich alle Praxen per Gesetz an | |
die TI angeschlossen sein. Dann könnte das technische Potenzial der eGK | |
auch endlich genutzt werden. Doch erst ein Bruchteil der insgesamt circa | |
130.000 Praxen ist bis heute erfasst. | |
Auch aus datenschutzrechtlicher Sicht steht die TI unter Beschuss. Denn wie | |
können die empfindlichen Gesundheitsdaten von 70 Millionen Versicherten | |
effektiv geschützt werden? | |
## Hohe Wahrscheinlichkeit von Hackerangriffen | |
Dabei kommt vor allem dem Speicherort der medizinischen Informationen große | |
Bedeutung zu. Für eine zentrale Speicherung der Daten spreche die gute | |
Zugänglichkeit, da die Kliniken jederzeit und von überall darauf zugreifen | |
könnten. Doch Christina Czeschik, Geschäftsführerin des | |
Medizintechnikunternehmens Serapion, verweist auf die hohe | |
Wahrscheinlichkeit von Hackerangriffen. Denn eine Sammlung sensibler | |
Krankheitsdaten gilt als lohnendes Ziel von Kriminellen. | |
„Eine Anwendung wie die elektronische Patientenakte wäre ein großer | |
Datenschatz, der mit Sicherheit Begehrlichkeiten wecken würde“, sagt sie. | |
Für Aufsehen sorgte 2014 ein Cyber-Angriff auf eine US-amerikanische | |
Personalbehörde, bei dem mehrere Millionen Datensätze gestohlen wurden. | |
2017 legte eine Erpressungssoftware Großbritanniens Gesundheitssystem lahm, | |
und Anfang des Jahres attackierten unbekannte Hacker mehrere Krankenhäuser | |
in Norwegen. | |
Das Gesundheitsministerium trug diesen Bedenken zum Teil schon Rechnung. So | |
wacht das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) über | |
die TI. Auch würden alle intimen Gesundheitsinformationen über das | |
sogenannte Zwei-Schlüssel-Prinzip gesichert sein. Lediglich die | |
Notfalldaten sollen auf der Karte selbst hinterlegt werden, größere | |
Datenmengen dagegen verteilt auf Praxen und Kliniken lagern. Auch solle | |
kein Generalschlüssel existieren. | |
Doch in Datenschutzkreisen gelten diese Maßnahmen weiterhin nicht als | |
ausreichend. Denn der Anfang des Jahres bekannt gewordene Cyber-Angriff auf | |
das interne Verbindungsnetz der Bundesministerien nährte auch hierzulande | |
große Zweifel an der Fähigkeit der Behörden, sensible Daten zu schützen. | |
Zudem zählt die TI nicht einmal als besonders schutzwürdige „kritische | |
Infrastruktur“ nach dem aktuellen BSI-Gesetz. | |
## Kassen wollen eigene Akten entwickeln | |
Der Verein „Freie Ärzteschaft“ sieht die TI grundsätzlich als problematis… | |
an. Denn Ärztinnen und Ärzte könnten so nicht mehr sicherstellen, dass die | |
bei ihnen erhobenen Daten auch wirklich vertraulich behandelt würden, heißt | |
es in einer Erklärung des Vereins. Dies stelle in der Folge einen Bruch mit | |
ihrem Berufsethos dar. „Wir lehnen einen Zwangsanschluss an eine | |
Kasseninfrastruktur ab, weil wir unsere ärztliche Schweigepflicht den | |
Patienten gegenüber nicht aufgeben wollen,“ so der Verein. Er hat unlängst | |
zu einem Boykott der Anbindung an die TI aufgerufen. | |
Für Furore sorgte auch der Vorstoß einer Dortmunder Medizin-Informatikerin, | |
die erhobenen Daten der Forschung zugänglich zu machen. Gesundheitsdaten | |
böten demnach ein großes Potenzial, um Risikofaktoren seltener Krankheiten | |
zu ermitteln. Aus Datenschutzperspektive besteht jedoch das Risiko, dass | |
die Informationen in falsche Hände gelangen oder eine Auswertung zu | |
Benachteiligungen Einzelner führen könnte. | |
„Die Big-Data-Analyse von Gesundheitsdaten ist eine ständige | |
Gratwanderung“, sagt Czeschik. Denn selbst wenn die gewonnenen Daten | |
anonymisiert verwendet würden, so könne diese Anonymisierung in der Regel | |
auch wieder rückgängig gemacht werden. | |
Dass die Regierung das Projekt elektronische Gesundheitskarte nun | |
anscheinend begraben will, wirft Fragen über den zukünftigen | |
Digitalisierungskurs im Gesundheitswesen auf. Denn einzelne Krankenkassen | |
arbeiten bereits an der Entwicklung eigener Akten. Ob diese Vorstöße | |
allerdings wie vorgesehen irgendwann in die Telematik-Infrastruktur | |
integriert werden könnten, steht nach Merkels Äußerungen nun auf der Kippe | |
– und die alternativen Akten der Krankenkassen könnten selbst Modell stehen | |
für die Bereitstellung der sensiblen Gesundheitsdaten. | |
## Pilotprojekt in Mecklenburg-Vorpommern | |
Seit November 2017 läuft ein solches Pilotprojekt in | |
Mecklenburg-Vorpommern. Dort werden Praxen und Kliniken miteinander | |
vernetzt, seit Anfang 2018 auch in zwei Berliner Krankenhausketten. Dort | |
sollen über das neue System bereits Behandlungstermine abgestimmt und | |
Labordaten übertragen werden. | |
Später dann ist geplant, dass Versicherte ihre Daten zusammen mit einem | |
Arzt oder einer Ärztin über ein Onlineportal verwalten. Die konkurrierende | |
Techniker Krankenkasse will dagegen noch in diesem Jahr ihre Patientenakte | |
in Form einer App-Erweiterung anbieten, über die Versicherte dann eigene | |
Daten etwa zu Impfungen, Medikamenten oder sogar die Daten ihrer | |
Fitness-Tracker in eine Cloud laden können. | |
Doch darüber, ob die sensiblen Gesundheitsdaten in Form von Apps besser | |
geschützt sind, bestehen Zweifel. Harsche Kritik kommt von der | |
Bundesbeauftragten für Datenschutz, Andrea Voßhoff. Für gesetzliche | |
Krankenkassen gebe es enge Schranken für das Sammeln solcher | |
Gesundheitsdaten. „In einer nach deutschen Datenschutzstandards derart | |
unsicheren Umgebung, mit der Apps verbunden sind, sollten sich | |
Krankenkassen […] ihrer Verantwortung gegenüber den Versicherten bewusst | |
sein“, schreibt sie in ihrem 25. Tätigkeitsbericht. Die Kassen versichern | |
derweil unisono, vorsichtig mit den Gesundheitsdaten umzugehen. | |
Es werde „den höchsten Datenschutzanforderungen Genüge getan“, so ein | |
AOK-Pressesprecher zur taz. Begleitet werde das AOK-Projekt von den | |
Landesdatenschutzbeauftragten Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, mit | |
denen es eine „umfassende Abstimmung“ gegeben hätte. | |
## Das Gesundheitsministerium versucht aufzuholen | |
Doch die Datenschutzbehörden können eine derartige Aussage nicht | |
bestätigen. Aus Schwerin heißt es, dass keine detaillierte Überprüfung | |
stattgefunden hätte. | |
Die Brandenburger Datenschutzbeauftragte war ebenfalls nur „beratend | |
tätig“, so ein Mitarbeiter, eine abschließende Bewertung erfolgte jedoch | |
nicht: „Wir gaben Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Transparenz des | |
Projekts gegenüber den Versicherten. Aber wir können nicht sagen, inwiefern | |
diese Vorschläge inzwischen berücksichtigt wurden.“ | |
Das Aufkommen der alternativen Patientenakten der Krankenversicherungen | |
versinnbildlicht den bisherigen Kurs der Regierung bei der Digitalisierung | |
des Gesundheitswesens. Denn die per Gesetz existierende Gematik entwickelte | |
sich zunehmend zur bloßen Koordinierungsstelle, während die Krankenkassen | |
voranpreschten und eigene Modelle entwickelten. | |
Das Gesundheitsministerium versucht nun aufzuholen. Spahns Haus erarbeitete | |
im März einen Verordnungsentwurf, der die Pflicht zu umfangreichen | |
Probeläufen neuer Anwendungen in Sachen Datenschutz und Praxistauglichkeit | |
herabsetzt. Der Entwurf, welcher der taz vorliegt, sieht vor, dass | |
Funktionen wie der elektronische Medikationsplan in Zukunft „unabhängig vom | |
starren Gerüst“ dieser Tests auf den Weg gebracht werden sollten. | |
Spahn brachte auch das im Koalitionsvertrag stehende „Bürgerportal“ ins | |
Spiel. Über dieses sollen BürgerInnen in Zukunft mit diversen Behörden | |
kommunizieren. Der Minister schlägt vor, auch Gesundheitsdaten auf diesem | |
Weg auszutauschen. Unklar ist, ob die Nutzung eines solchen Portals | |
verpflichtend sein soll und wie die Daten geschützt werden. Bis zur | |
Sommerpause will Spahn konkrete Pläne vorstellen. | |
13 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Kränzle | |
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