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# taz.de -- Plädoyer für Männergleichstellungspolitik: Diese Lücke namens M…
> Unsere Gleichstellungspolitik ignoriert die Probleme von Männern. Das ist
> gefährlich, denn Antifeministen füllen das Vakuum.
Bild: Männer verdienen zwar mehr Geld, sterben aber meist früher
[1][Frauen verdienen im Durchschnitt 21 Prozent weniger als Männer], ihr
Gesamteinkommen im Lebensverlauf ist 49 Prozent niedriger, sie haben um 53
Prozent geringere Rentenansprüche. Das Gefälle zwischen den Geschlechtern
ist in Deutschland also noch immer groß. Und trotzdem spielten während der
langen Verhandlungen über die Regierungsbildung Gender-Fragen mal wieder
keine Rolle, sie tauchen folgerichtig auch im Koalitionsvertrag nur
beiläufig auf. Auch der neuen SPD-Familienministerin Franziska Giffey, die
formal zuständig ist, wird kein allzu großes Interesse an
Gleichstellungspolitik nachgesagt. Dabei ist das vermeintliche Gedöns ein
zentrales Thema.
„Gap“, das englische Wort für „Kluft“ oder „Lücke“, ist denn auch…
oft verwendeter Begriff im Zweiten Gleichstellungsbericht, den eine
Sachverständigenkommission vorlegte und den das alte Kabinett noch auf den
letzten Drücker kurz vor der Bundestagswahl verabschiedete.
Vom Gender Pay Gap ist darin die Rede, und, ebenso anglizistisch, vom
Gender Lifetime Earnings Gap oder vom Gender Pension Gap. Bei so vielen
Lücken, die es in den nächsten Jahren zu füllen gilt, kann man nur hoffen,
dass die Familienministerin sich den Bericht aufmerksam durchliest. Formal
müsste Giffey auch noch in dieser Legislaturperiode den nächsten Bericht
zum Thema in Auftrag geben. Sollte es dazu kommen, wäre es wichtig, den
Blick zu weiten.
Denn die Kommission konzentriert sich in ihrer Sichtweise allzu sehr auf
Erwerbsarbeit und daraus abgeleitete sozialpolitische Ansprüche sowie auf
das Steuer-, Ehe- und Familienrecht. Andere Politikfelder kommen kaum vor.
Und noch ein Aspekt kommt entschieden zu kurz: Die Schattenseiten liegen in
einigen Bereichen sogar auf der anderen Seite, das heißt, bei den Männern.
## Geschlechterpolitik darf nicht einseitig sein
Eine umfassende, moderne Geschlechterpolitik darf daher nicht nur einseitig
als Frauenförderungspolitik gedacht werden, sondern auch als Männerpolitik.
Deshalb hier eine Wortkreation, die nicht im Bericht steht, aber eigentlich
hineingehören würde: der Gender Life Expectation Gap. Männer haben in
Deutschland eine über fünf Jahre kürzere Lebenserwartung als Frauen.
Die Klosterstudie des Demografen Marc Luy, der die vergleichbaren
Biografien von Nonnen und Mönchen untersucht hat, ergibt einen biologisch
bedingten Geschlechterunterschied von nur einem Jahr. Alles andere ist
soziale Konstruktion, hat mit der Art zu tun, wie Männer leben, arbeiten,
mit ihrem Körper umgehen. Sie gehen seltener zum Arzt, sie haben ruinöse
Jobs in der (Schwer-)Industrie und auch in prekären Dienstleistungen; sie
ernähren sich ungesünder, rauchen und trinken mehr. „Männer weinen
heimlich, Männer kriegen ’nen Herzinfarkt,“ hieß das in der Kurzfassung b…
Herbert Grönemeyer.
## Männlicher Körper als Maschine
Männer hatten in der Gesundheitspolitik lange keine Lobby. Die
Krankenkassen setzten klare Prioritäten: Die Vorsorge gegen Brustkrebs und
die regelmäßige gynäkologische Kontrolle des weiblichen Unterleibs waren
besonders unterstützenswert, sie galten als entscheidend für die
biologische Reproduktionsfähigkeit der Gesellschaft. Noch wichtiger war,
dass schon in den 1970er Jahren im Umfeld der Kampagnen gegen den
Paragrafen 218 eine Frauengesundheitsbewegung entstand. Die Aktivistinnen
kritisierten, dass Testreihen zu Medikamenten bisweilen nur mit männlichen
Probanden durchgeführt wurden. Sie verwiesen auf die Ignoranz der zu dieser
Zeit noch vorwiegend männlichen Ärzteschaft, die spezifisch weibliche
Symptomatiken einfach übersah.
Weibliche Initiativen haben dafür gesorgt, dass sich der Gender-Blick auf
die Medizin schärfte. Früh entstanden Selbsthilfezentren und Ansätze einer
Gesundheitsberichterstattung über Frauen, die bald auch von öffentlichen
Institutionen gefördert wurde. Eine Männergesundheitsbewegung gab es nie,
abgesehen von einzelnen Selbsthilfegruppen wie der Aids-Hilfe. Um die
Faktoren, die Männer krank machen, kümmerten sich weder Politik noch
Wissenschaft in ausreichendem Maße.
Erst nach der Jahrtausendwende verstärkten sich die Forderungen nach einer
geschlechtsspezifischen Prävention für Männer. Es dauerte aber noch bis
2014, ehe das Robert-Koch-Institut eine umfangreiche Studie zur
„Gesundheitlichen Lage der Männer in Deutschland“ vorlegte und so staatlich
unterstützt männliche Probleme und Versorgungsengpässe sichtbar machen
konnte.
Viele Männer betrachten ihren Körper als eine Maschine, die nur repariert
werden muss, wenn sie nicht mehr läuft. Sie missachten selbst massive
Warnsignale und vermeiden Vorsorge. Allerdings liegen auch die
Zugangsschwellen höher: Für Mammografien etwa werden Frauen gezielt
angeschrieben, die Kosten selbstverständlich von den Kassen übernommen.
Wollen sich Männer gegen Prostatakrebs schützen, müssen sie die
Untersuchung meist aus eigener Tasche bezahlen.
## Mehr Geld oder länger leben?
Dass Männer früher als Frauen sterben, ist schon seit Mitte des 18.
Jahrhunderts bekannt. Das ist jedoch kein Naturgesetz, sondern auf krank
machende gesellschaftliche Bedingungen und historische Geschlechternormen
zurückzuführen. Diese Erkenntnis müsste eigentlich einen gewichtigen
Stellenwert haben in einem Bericht zur Gleichstellung der Geschlechter, der
die „Lebensverlaufsperspektive“ zum Konzept erklärt. Dem ist aber nicht so.
Die Liste der Wortkreationen, die unbehandelte Lücken bezeichnen, lässt
sich daher ergänzen: um den Gender Suicide Gap, die dreimal höhere
männliche Selbstmordrate. Oder um den Gender Homeless Gap: Mehr Männer als
Frauen sind obdachlos, mit gravierenden gesundheitlichen Folgen. Sie sind
auch die Leidtragenden des Gender Work Accident Gap, verunglücken häufiger
am Arbeitsplatz, weil sie dort gefährliche Tätigkeiten zugewiesen bekommen
oder freiwillig übernehmen. Und der Gender Jail Gap macht darauf
aufmerksam, dass über 90 Prozent der Gefängnisinsassen männlich sind.
Ist es ein größeres Privileg, mehr Geld zu verdienen, als länger zu leben?
Eine dialogisch orientierte Geschlechterpolitik sollte vermeiden, in eine
unproduktive Hitparade der Benachteiligung einzusteigen. In seinem Buch
„Boys don’t cry“, das er nach dem plötzlichen Tod seines Vaters schrieb,
weist der britische Autor Jack Urwin auf die Folgen des von ihm als
„toxisch“ bezeichneten männlichen Verhaltens hin – ohne die Schuld dafür
bei den Frauen zu suchen. Für sein „brillantes, persönliches, nicht einmal
sexistisches“ Werk lobte ihn die Feministin Laurie Penny.
## Maskulinisten wollen Vakuum nutzen
Wenn Gleichstellungspolitik alle Männer für privilegiert, Frauen aber für
stets benachteiligt und daher förderungswürdig hält, macht sie sich
angreifbar. Diese Haltung prägt weitgehend auch den aktuellen Bericht der
Bundesregierung. In der Kurzfassung des Gutachtens gibt es immerhin ein
eigenes Themenblatt „Männer und Gleichstellung“. Darin empfiehlt die
(gemischtgeschlechtlich besetzte) Sachverständigengruppe, auch Strukturen
zu beseitigen, „die Männer aufgrund des Geschlechtes an der Verwirklichung
ihrer Lebensentwürfe hindern“. Erwähnt werden die überlangen Arbeitszeiten
im Beruf, das wachsende Engagement von Männern als Väter und bei der Pflege
von Angehörigen sowie die besonderen Schwierigkeiten der überwiegend
männlichen Geflüchteten.
Dass solche Aspekte zumindest auftauchen, wenn auch am Rande, ist ein
Fortschritt. Denn die meisten Debatten, erst recht in internationalen
Netzwerken und in der Förderpraxis der Europäischen Union, folgen weiter
der Devise „Gender means women“. So ist ein Vakuum entstanden, das
Maskulinisten versuchen zu nutzen.
Die vor allem in den Echokammern des Internets präsente antifeministische
„Männerrechtsbewegung“ inszeniert sich als Opfer weiblicher Emanzipation.
Sie behauptet, Frauen seien mittlerweile in nahezu jeder Lebenslage
privilegiert. Ein von der „Gender-Ideologie“ geprägter „Umerziehungsstaa…
würde Männer auf vielfältige Weise diskriminieren. Solche Thesen finden
Unterstützung bis in die bürgerlichen Leitmedien hinein, parlamentarisch
aufgegriffen werden sie vor allem von der AfD.
## Vertretung männlicher Interessen
Es ist gefährlich, beim Thema Gleichstellung ausschließlich auf weibliche
Gaps zu schauen. Die Männer-Leerstelle muss gefüllt, das
geschlechterpolitische Spektrum erweitert werden. Wer den Einfluss von
Maskulinisten eindämmen will, muss mehr tun, als die Vertreter einer
dialogisch orientierten Männerpolitik rhetorisch „miteinzubeziehen“. Denn
die Selbstvertretung männlicher Interessen hat, gerade in so offensichtlich
defizitären Feldern wie der Gesundheitspolitik, eine eigenständige
Legitimation.
Im Bundesforum Männer, vor acht Jahren als Pendant zum (erheblich länger
bestehenden und breiter aufgestellten) Deutschen Frauenrat gegründet,
arbeiten kirchliche Gruppen, Gewerkschafter, Sozialverbände, Jungenprojekte
und Väterinitiativen mit. Der Dachverband distanziert sich ausdrücklich von
antifeministischen Strömungen, kritisiert aber die Vernachlässigung
männlicher Anliegen. Nach der Wahl 2017 meldete er sich mit der
Stellungnahme „Männerpolitik gehört in den Koalitionsvertrag“ zu Wort.
Gefordert werden eine zweiwöchige Vaterschaftsfreistellung nach der Geburt
mit Lohnfortzahlung, die Familienarbeitszeit mit Rückkehrrecht auf
Vollzeit, der Abbau steuer- und sozialrechtlicher Anreize für das
traditionelle Ernährermodell sowie verbesserte Rahmenbedingungen für
pflegende Angehörige.
Zudem müssten „Eltern in Nachtrennungsfamilien weiterhin gemeinsam
Verantwortung übernehmen können“. Das Forum will die Position von
Scheidungsvätern „mehr in den Blick“ nehmen und das Wechselmodell, die
juristisch so bezeichnete paritätische Doppelresidenz, „als eine mögliche
Umgangs- und Betreuungsform neben anderen“ stärken. Diese vorsichtige, aber
parteiliche Formulierung ist auch eine Reaktion darauf, dass im Wahlkampf
neben der FDP nur die AfD [2][mehr Rechte für Trennungsväter] verlangte.
13 May 2018
## LINKS
[1] /Equal-Pay-Day-2017/!5390012
[2] /Maennerkongress-in-Duesseldorf/!5083685
## AUTOREN
Thomas Gesterkamp
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