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# taz.de -- Berliner Schöffenwahl 2018: Im Namen des Volkes
> Jens Wiechmann spricht seit zehn Jahren Recht, obwohl er kein Jurist ist.
> Er ist einer von 6.000 Schöffen in Berlin.
Bild: Jens Wiechmann, 49, ist auch eine Art Klassensprecher der Schöff:innen i…
Zwei Stunden bevor Jens Wiechmann den 29-jährigen T. ins Gefängnis schicken
wird, trinkt er einen Milchkaffee. Er sitzt in der Spree-Kantine von
Europas größtem Strafgericht, Kirchstraße 6, Berlin-Moabit. Wiechmann
drückt die Nr. 3 des Kaffeeautomaten und wartet, bis die Maschine
durchgelaufen ist. „Jibt schlechteren Kaffee in Berlin“, sagt er, geht zur
Kasse, legt einen 10-Euro-Schein auf den Tresen und haut mit der rechten
Hand auf die silberne Klingel, damit ihn jemand abkassiert. Wiechmann kennt
sich hier aus. Er ist öfter hier.
Jens Wiechmann ist 49 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Kindern,
deren Geburtsdaten er sich auf den Unterarm tätowieren ließ. Er trägt eine
dunkle Jeanshose und ein braunes Hemd. Sein Bart ist blond, genauso wie
sein schütteres Haar. Früher war Wiechmann in der Poststelle der Bundeswehr
beschäftigt, heute ist er ein Richter. Und das, obwohl er kein Jurist ist.
Das Gesetz will es so. In Deutschland sollen nicht nur studierte
Jurist:innen, sondern auch Bürger:innen auf der Richterbank sitzen. Sie
sollen dafür sorgen, dass Urteile auch wirklich „im Namen des Volkes“
gefällt werden. Sie sind ein Erbe der politischen Aufklärung, ein
moralisches Gegengewicht zur Obrigkeit. Ihre Stimme ist deswegen genauso
viel wert wie die der Berufsrichter:innen. Sind sie sich einmal nicht
einig, wird das Strafmaß miteinander verhandelt.
60.000 Schöff:innen gibt es in Deutschland, 6.000 davon in Berlin. Geld
gibt es für die Arbeit nur in Form einer Aufwandsentschädigung: Sechs Euro
die Stunde und Übernahme der Fahrtkosten. Das Schöffenamt ist wie das
Wahlhelfer:innenamt ein verpflichtendes Ehrenamt, in das man auf fünf Jahre
gewählt wird. In Berlin das nächste Mal in diesem Sommer, im Rest von
Deutschland etwas später.
## Nicht genug Freiwillige in Großstädten
Das größte Problem dabei: Gibt es nicht genug Schöff:innen, die sich
freiwillig melden, wird der Rest aus dem Melderegister der Kommunen
gezogen. Theoretisch kann es damit jede:n deutsche:n Staatsbürger:in
zwischen 25 Jahren und 69 Jahren treffen. Vor allem in Großstädten melden
sich meist zu wenig Schöff:innen freiwillig. In Berlin mussten in den
Bezirken Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg über die Hälfte der
Schöff:innen aus dem Melderegister gezogen werden. In Treptow-Köpenick
wiederum kein einziger. Wiechmann ist einer der Freiwilligen dort.
Zwischen Wiechmanns Zuhause und dem Gericht in Moabit liegen 30 Kilometer.
Rein in den Bus 169, dann in die S3 bis Bellevue, danach nochmal 15 Minuten
laufen. Drei Stunden Weg sind das an einem Verhandlungstag, dazu kommen im
Schnitt ein bis drei Stunden Prozess. Manchmal ist das Schöffenamt ein
Vollzeitjob. „Wenn es richtig anstrengend wird, liege ich manchmal den
ganzen nächsten Tag im Bett“, sagt Wiechmann. Seit sieben Jahren weiß er,
dass er unheilbar an Multipler Sklerose erkrankt ist.
„Wegen meiner Krankheit würde ich das Amt aber nicht aufgeben“, sagt er.
„Es ist meine letzte Verbindung ins Berufsleben“. Wiechmann, der Fleißige,
verkörpert vielleicht auch deswegen eine Art Klassensprecher der
Schöff:innen in Deutschland: Er doziert, berät, bringt bei. Und das
zusätzlich zu den etwa 12 Prozessen, die jede:r Schöff:in im Jahr
verhandelt.
Eigentlich hätte er in der nächsten Legislatur pausieren müssen. Der
Bundestag hob diese „Zwangspause“ jedoch im Juni 2017 auf. „Könnte also
klappen mit ’ner dritten Runde“, sagt Wiechmann. Im September wird er
Bescheid wissen, dann verschickt der Bezirk Treptow-Köpenick wieder die
Briefe mit den Zusagen.
## Puls von 120 und leuchtende Augen
Den ersten dicken Brief bekam Wiechmann im Herbst 2008. In der Lokalpresse
hatte er eine Anzeige gelesen, in der nach ehrenamtlichen Richter:innen
gesucht wurde. Im Februar 2009 betrat er das erste Mal den Gerichtssaal des
Landgerichts in der Turmstraße 91: Wilhelminischer Bau mit ausladenden
Holztreppen und weißen Marmorsäulen. „Als ich da reinkam und wusste: Ich
gehöre jetzt die nächsten fünf Jahre dazu, hatte ich 'nen Puls von 120 und
leuchtende Augen“, schwärmt er.
Seinen ersten Fall verhandelte er schon sehr bald, im Februar 2009. Auch
daran erinnert er sich ganz genau. „Das war an einem Montag um 9:30 Uhr“:
Ein schon öfter straffällig gewordener Mann schoss mit einer Pistole
viermal auf einen anderen Mann, stieg in ein Taxi und fuhr weg. Er traf den
Mann nicht, die Anklage lautete trotzdem auf versuchten Totschlag. „Als
juristischer Neuling hab' ich da sofort gesagt: Wenn jemand mit der Pistole
auf jemanden schießt, dann ist das doch ein Mordversuch und kein versuchter
Totschlag“.
Die Richterin erklärte Wiechmann dann aber den Unterschied zwischen Mord
und Totschlag. Denn wie die Berufsrichter:innen muss man auch als Schöff:in
immer im Einklang mit dem Gesetz handeln. Und nach dem deutschen
Strafgesetz braucht es für Mord in Deutschland einen niederen Beweggrund
wie Habgier oder sexuelle Befriedigung. Das traf auf den Angeklagten nicht
zu, zumindest konnte man ihm es nicht nachweisen, wie die beiden Schöffen
und die Richterin in der Urteilsberatung feststellten.
„Solche Urteilsberatungen sind wie kleine Diskussionsrunden, in denen
Schöffen und Richter darüber sprechen, wie man bestimmte Beweise einordnet
und Aussagen verstanden hat“, erklärt Wiechmann. Die Funktion der
Schöff:innen dabei: Menschlich urteilen, mit der eigenen Lebenserfahrung
argumentieren und so einer möglichen „Betriebsblindheit“ der Richter:innen
entgegenwirken, wie Wiechmann sagt. Das Urteil im ersten Fall:
Siebeneinhalb Jahre Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung. „Das
erste Mal über einen Menschen urteilen, das vergisst man nicht“, sagt
Wiechmann leise.
## Die „U-Bahn-Treter“ vom Schlesischen Tor
Der Fall, den Wiechmann an diesem Apriltag in Raum 1002 vor dem Amtsgericht
verhandelt, ist einer von den größeren: Im Mai 2015 kommt ein Italiener von
einer Party. Er steht am U-Bahnhof Schlesisches Tor, als der Angeklagte W.
auf ihn zurennt und ihm mit der Faust ins Gesicht schlägt. Der Italiener
knallt mit dem Hinterkopf auf den Boden und bleibt dort regungslos liegen.
Dann kommt der zweite Angeklagte T. dazu, der auf das Opfer eintritt.
Womöglich Schlimmeres kann erst ein Zeuge verhindern, der T. anschreit und
ihn wegziehen kann. W. und T. waren zum Tatzeitpunkt beide auf Drogen, das
bestätigt der Gerichtsmediziner. Eine Videokamera filmt das Geschehen. In
den Medien werden die beiden Angeklagten deswegen später als
„U-Bahn-Treter“ bekannt, die erst durch eine Öffentlichkeitsfahndung
gefasst werden können. Der Vater von W. hatte seinen Sohn im Fernsehen
erkannt und ihm zugeredet, sich zu stellen. W. befolgte diesen Rat, meldete
sich bei der Polizei und brachte auch T. dazu. W. wurde so zum Kronzeugen.
Die Verhandlung findet in einem höchstens 30 Quadratmeter großen Raum
statt, der mit seinem grünen Teppichboden und den schwarzen Stühlen eher an
ein großes Büro als an einen Gerichtssaal erinnert. Während der ganzen
Beweisaufnahme sagt Wiechmann kein Wort. Obwohl er es dürfte, stellt er
keine Fragen. Dafür notiert er viel. Seine Aufmerksamkeit gilt immer denen,
die sprechen, noch mehr aber denen, die schweigen. Seit Beginn der
Verhandlung sitzen die Angeklagten mit gesenkten Köpfen hintereinander und
sagen ebenfalls nichts. Auch von ihrem letzten Wort machen sie keinen
Gebrauch.
Wiechmann, der jetzt eine Brille trägt, achtet darauf besonders. Man sieht
es an seinen Augen, die in der Verhandlung jedes Detail fixieren, das etwas
erzählen könnte. Den Angeklagten schaut er direkt in die Augen. Als bei
einem Prozess einmal der Anführer einer Bande auf der Anklagebank saß,
bemerkte Wiechmann, wie sich dieser während der Verhandlung mit seinen
Jungs verständigte. Ganz versteckt hatten die ihre Hand erst auf die Brust
und dann zum Mund geführt. Der Angeklagte hatte es gesehen und mit gleicher
Bewegung darauf geantwortet. Da wusste Wiechmann: Der bereut hier gar
nichts.
## Der Fall mit den 13 Kilo Heroin
Um 14 Uhr, nach etwa zwei Stunden Verhandlung und Urteilsbesprechung,
verliest die Richterin zu Wiechmanns Linken das Urteil über W. und T. Es
lautet: zehn Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung für den Angeklagten W.,
zwei Jahre und drei Monate für den Angeklagten T. Über zwei Jahre, das
bedeutet Knast. Ein hartes Urteil, das weiß Wiechmann. „Gegen dieses Urteil
können Sie binnen einer Woche Berufung einlegen“, sagt die Richterin. Die
Verhandlung ist beendet.
Wiechmann verlässt mit seinem Schöffenkollegen Herrn Engel als letzter den
Saal. „Ach Mensch“, sagt er zu ihm, „Der W. ist echt so einer, der zur
falschen Zeit am falschen Ort war, das tut einem richtig leid“. Der andere
Schöffe nickt, Wiechmann fährt fort: „Es tut mir auch leid für den T., der
hat sich seit 2015 ja total verändert, aber auf jemanden eintreten, der
schon am Boden liegt, das ist echt nochmal 'ne andere Nummer, und
vorbestraft war er da auch schon“, sagt er. Wieder nickt der andere
Schöffe. Man ist sich einig, das eben gefällte Urteil ist angemessen. Auch
wenn es hart ist.
Draußen vor dem Aufzug steht der Rechtsanwalt des Angeklagten W. „Ah,
Sie!“, sagt er zu Wiechmann, als beide einsteigen.„Wir hatten schon mal das
Vergnügen, oder?“„Jau, hatten wir“„Wo war das noch gleich?“„Die 13…
Heroin“„Ich erinnere mich!“
Draußen vor dem Amtsgericht nickt der Rechtsanwalt Wiechmann noch einmal
zu: „Bis zum nächsten Mal!“, ruft er. Wiechmann lächelt. Sein nächster
Prozess ist schon für den nächsten Tag angesetzt.
24 Apr 2018
## AUTOREN
Katharina Meyer zu Eppendorf
## TAGS
Gerichtsprozess
Gericht
Bestechung
Niedersachsen
Rechtstextreme
Stephan von Dassel
Gewalt
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
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