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# taz.de -- Werkschau des Künstlers Holger Czukay: Anarchist am Schneidetisch
> Endlich das fällige Denkmal gesetzt: Über die Werkschau „Cinema“ des 20…
> verstorbenen Kölner Musikers und Can-Masterminds Holger Czukay.
Bild: Holger Czukay auf Tour in Südostasien, 1983
Als der Kölner Musiker Holger Czukay im September 2017 verstarb, merkten
auch jene, die bis dato wenig mit dem Œuvre des Can-Masterminds anfangen
konnten, dass eine Lichtgestalt gegangen war. Ebenso wie beim Tod seines
Bandkollegen Jaki Liebezeit, dem Can-Drummer, wenige Monate zuvor, konnte
man sich angesichts der vielen Nachrufe ein Bild davon machen, wie prägend
der Einfluss von Czukay und Can auf die internationale Popmusik gewesen
war.
„Holger wollte unbedingt selbst nachschauen, was er denn an Material hatte,
also kraxelte er – betagt, wie er war – die Wendeltreppe zu seinem Studio
hoch und ich musste von unten nachhelfen; richtig schieben sogar.“ So
berichtet Hendrik Otremba von dem ersten Treffen mit Holger Czukay in
Weilerswist bei Köln, wo Czukay seit den Tagen von Can ein altes Kino als
Studio nutzte und bewohnte.
Otremba selber ist nicht etwa Labelchef, sondern einer der interessantesten
Autoren des Landes (wie sein Debütroman „Über uns der Schaum“ beweist) und
Mitglied der Post-Punk-Band Messer. „Ursprünglich sollte Czukays
anstehender 80. Geburtstag zum Anlass genommen werden, um eine
Retrospektive zu seinem Gesamtwerk zu veröffentlichen. Da man um meine
Affinität zu Can und Holgers Schaffen, als Musiker wie auch als Hörer,
wusste, lud mich Grönland Records ein.“
## Herbie kann auch Archivpflege
Herbert Grönemeyers Label, hat sich dankenswerterweise auf die
(Wieder-)Veröffentlichung von Krautrock und Elektronika spezialisiert. Das
nun dort ein aus fünf Alben bestehendes Czukay-Boxset namens „Cinema“
erscheinen würde, bot sich an: Es ist ein Ritt durch sechs Jahrzehnte, der
versucht, möglichst alle bleibenden Besonderheiten im Soloschaffen Czukays
darzustellen und die Unterschiede zu Can herauszuarbeiten.
Gleichwohl stellt sich die Frage, inwiefern eine Box im höheren
Preissegment (der Kaufpreis überschreitet 100 Euro) eine Auseinandersetzung
mit dem Werk Czukays ermöglicht, oder doch eher eine Vergoldung darstellt.
„Dass Holger Czukay kurz vor der Fertigstellung der Box starb, war unser
Pech. Die Arbeit daran hatte schon lange vorher begonnen“, entkräftet
Hendrik Otremba den Verdacht des Sell-out.
Bei einem Musiker, dessen Solowerk, viel mehr jedoch seine Arbeit in der
Band Can, als Leuchtturm in der sonst mangelnden internationalen
Wahrnehmung deutscher Popmusik gelten darf, ist die Aufarbeitung naturgemäß
gut. Gerade Can muss ja neben den Düsseldorfer NEU! und Kraftwerk immer als
Gegenbeispiel herhalten, wenn man im Selbstmitleid versinkt ob der eigenen
Bedeutungslosigkeit in der Popgeschichte.
## Lasst das alte Narrativ endlich ruhen!
Allenthalben werden die Krautrocker der Siebziger hervorgeholt, wenn es
wieder heißt, die Wegbereitung von Techno respektive House zu zementieren.
Ein Narrativ, das man endlich mal ruhen lassen sollte.Beim Hören der Box
und betrachten der Fotos im Booklet ergeben sich dennoch logische
musikalische Erzählstränge. Durch ihren streng chronologischen Aufbau, dem
Weglassen der [1][Can-Stücke] – „die Band-Alben sind ja in letzter Zeit
bereits wiederveröffentlicht worden. Wir wollten da nicht in Konkurrenz
treten“, so Otremba – und der Hinzunahme etlicher Kooperationsprojekte
lässt sich sehr wohl eine faszinierende künstlerische Entwicklung
beschreiben.
„Cinema“ beginnt naturgemäß bei den musikalischen Anfängen. Czukay
debütierte beim jazzigen Holger Schüring Quintett und zu hören gibt es ein
bis dato unveröffentlichtes Stück aus dem Jahre 1960. Von da hangelt sich
die Box dann zur Technical Space Composer’s Crew vor, einem Studienprojekt
Czukays, das er – während er noch bei Karlheinz Stockhausen studierte –
nächtens mit Rolf Dammers aufnahm. Die Geburt des deutschen Pop aus dem
Geiste der E-Musik, sozusagen.
Um diese Trennung – jener zwischen unterhaltender und ernster Musik – ging
es Czukay schon; der Drang, sie zu nivellieren, klingt aber bereits aus
diesen frühen Arbeiten heraus. Kurator Otremba erkennt noch einen weiteren
Trademark-Sound quer durch alle Schaffensjahrzehnte: „das Czunkeln“, wie er
es tauft. Die stets jugendliche Befeuerung auch experimentellerer Ansätze,
das Humorige, wird gepaart mit dem, was Czukay selbst mal
„Kulturarbeitertum“ nannte. So entsteht der Eindruck, das Schwere als
Leichtes produziert zu bekommen.
## Hochtechnische Klangmontagen
Hochtechnische Klangmontagen vereinen Avantgarde-Pop mit banalen
Radioklängen des Alltags. Trotz aller Schöngeistigkeit bleibt das bis
zuletzt Proletarische (im besten Sinne) auch immer Holger Czukays Musik
inhärent. Dabei habe ihn, so Otremba, das Politische als Teil der Musik gar
nicht so interessiert – vor allen Dingen das Sloganhafte sei nie sein Fall
gewesen. Doch kann man auch eher beiläufig einen Anarchisten zwischen den
Klängen erkennen. Czukays Ansatz, im Studio möglichst viel aufzunehmen, und
sei es auch das noch so banalste Geräusch, enthebt die Musik ihres
weihevollen Status. Erst im Schneideprozess – den Czukay, wie Otremba
bestätigt, unvergleichlich beherrscht habe – wurde aus dem Anarchisten ein
Architekt.
Das war sowohl bei Can der Fall, wo er als leidlich begabter
Instrumentalist meist die Aufnahmen (mit-)dirigierte, als auch im späteren
Solo- und Kooperationswerk. 1984 veröffentlichte Czukay das Album [2][„Der
Osten ist rot“], 1987 folgte „Rome Remains Rome“. Hier kündigt sich das
Spätwerk an, das auch Platz auf der Box findet. Sind diese beiden Werke
noch auf Flohmärkten und in gut sortierten Plattenläden zu finden, wird es
mit den späteren Alben dann kniffliger. Czukay stellte die Musik als
Lebensinhalt nie ein, das beweisen die vier Aufnahmen, die zwischen 2007
und 2014 entstanden sind und den meisten HörerInnen das erste Mal
präsentiert werden.
Auch dem hohen Alter wollte sich Czukay nicht beugen. Den Erwartungen, wie
man sich als Alter zu verhalten habe, schon gar nicht. Das hat trotz aller
Kooperationslust auch immer wieder zu Konflikten geführt, so bleibt zu
vermuten. Die wenigsten musikalischen Partnerschaften waren von langer
Dauer. Eine der rühmlichen Ausnahmen ist dabei die (nicht nur musikalische)
Freundschaft, die Czukay mit Can-Drummer Jaki Liebezeit verband. So darf
auch gerne das Album „Full Circle“, das die beiden gemeinsam mit dem
britischen Bassisten (und Post-Punk-Pionier) Jah Wobble 1982 aufnahmen, als
Kern der gesamten Box angesehen werden.
## How much are they?
Vielleicht war man dem Schulterschluss aus experimenteller („Full Circle
R.P.S.“) und pointierter („How Much Are They?“) Popmusik nie näher als zu
jener Zeit. Vor allen Dingen der großartige Song [3][„How Much Are They?]“
ist angesiedelt zwischen verschiedenen Polen, die alle Anfang der Achtziger
zum Sound der Subkulturen gehörten. Dub-Einflüsse, nichtquantisiertes
Post-Punk-Rumpeln – das auch heute noch jeden DJ in den Wahnsinn treiben
kann – treffen hier auf Funk und Proto-Electro-Boogie. Mit fast kindlicher
Neugier müssen sich die drei Musiker damals dem Stück genähert haben. Hier
kommen Sampling, Over-Dubbing und Live-Action so eng zusammen, dass es
müßig wäre, zu erkunden, wer wann was gespielt hat. Das macht auch 35 Jahre
nach Erscheinen den enormen Reiz dieses Stücks aus.
Trotz sorgfältig und fein zusammengestelltem Booklet verrät die Musik auf
„Cinema“ selbst immer noch am meisten über den Künstler. Das versteht die
Box darzustellen; dem Freigeist Holger Czukay wird hier ein Denkmal
gesetzt, das er sicher gerne noch in den Händen gehalten hätte. Selbst wenn
ihm Meriten wenig bedeutet haben mögen.
6 Apr 2018
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=XC---hQcPQ0
[2] https://www.youtube.com/watch?v=jGHhSlPJRCI
[3] https://www.youtube.com/watch?v=Wo54P5Z6vhg
## AUTOREN
Lars Fleischmann
## TAGS
Köln
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