# taz.de -- Carsharing in Berlin: Jetzt mal langsam | |
> Die Abrechnung nach Minuten macht Carsharing-Nutzer zu Rasern, sagen | |
> Kritiker. Ein Start-up versucht es jetzt mit einem anderen Prinzip und | |
> rechnet nach Kilometern ab. | |
Bild: Zeit ist Geld bei der Carsharing-Abrechnung nach Minuten | |
Vor wenigen Tagen war es mal wieder so weit: Der Fahrer eines BMW aus der | |
Flotte des Carsharing-Anbieters DriveNow nahm einem Taxi auf der Potsdamer | |
Straße die Vorfahrt, das konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und krachte | |
in die Beifahrerseite des Leihwagens. Totalschaden auf beiden Seiten, | |
immerhin keine nennenswerten Verletzungen bei den Beteiligten. | |
Angeblich alles andere als ein Einzelfall: Immer öfter seien | |
Carsharing-Autos in schwere, manchmal sogar tödliche Unfälle verwickelt, | |
behaupten Kritiker wie der Betreiber des Watchblogs antidrivenowblog. Er | |
trägt aus den Medien Vorfälle in ganz Deutschland zusammen, für Berlin hat | |
er in diesem Jahr schon fünf gesammelt, über 40 in den vergangenen vier | |
Jahren. Manchmal ist Alkohol im Spiel, fast immer aber wird zu schnell | |
gefahren. | |
Für den antidrivenowblog ist klar: Die Unfälle sind die Folge von | |
„aggressivem und rücksichtslosem Verhalten“, und schuld daran soll das | |
Tarifmodell des „Free Floating“ sein, also des stationslosen | |
Verleihprinzips von car2go (Mercedes-Benz) und DriveNow (BMW). Das | |
Anbieter-Oligopol, das mittlerweile kurz vor der Fusion steht, unterhält | |
zurzeit rund 2.500 Pkws auf Berlins Straßen. Ob Smart oder A-Klasse, Mini | |
oder BMW 1 – wer sie mietet, zahlt pro Minute. Dass das die Fahrenden mehr | |
oder weniger stark unter Stress setzt, können wohl die meisten bezeugen, | |
die einmal ein solches Auto gebucht haben. Es ist wie bei einer Taxifahrt – | |
nur dass man selbst aufs Gaspedal treten kann. | |
## Keine offiziellen Zahlen | |
Offizielle Zahlen, wie viele Carsharing-Fahrzeuge in Unfälle verwickelt | |
sind, gibt es keine. Die Anbieter hüten sich, solche zu veröffentlichen, | |
die Polizei führt darüber keine Statistik – und hat es auch nicht vor. | |
„Jeder Fahrzeugführer weiß um seine Pflichten, und Eile ist keine | |
Entschuldigung für einen Unfall“, sagt Behördensprecher Martin Halweg. | |
Grundsätzlich hätten Faktoren wie Alkoholkonsum weitaus gravierendere | |
Folgen im Straßenverkehr. | |
Ein Risiko stellt aus der Sicht der Kritiker auch die hohe Motorisierung | |
der Pkws aus den süddeutschen Fahrzeugschmieden dar. Der Smart mag noch | |
harmlos sein, bei den größeren Modellen aus Stuttgart sieht es schon anders | |
aus. Nicht von ungefähr wirbt car2go mit Gaspedal-Lyrik: „Lust auf Dynamik | |
und unverkennbaren Style? Mit der Mercedes-Benz A-Klasse sind du und deine | |
Freunde stilecht und sportlich unterwegs“, heißt es auf der Website. „Steig | |
ein für ein spritziges Fahrerlebnis auf deinem Weg durch die Stadt.“ | |
Ähnliches gilt für den bayerischen (Noch-)Konkurrenten. | |
Einer macht es jetzt anders: Mit der Abrechnung nach gefahrenen Kilometern | |
verspricht das Carsharing-Start-up drive by Zufriedenheit auf allen Seiten: | |
Die FahrerInnen können Kosten gelassen im Voraus kalkulieren, die übrigen | |
Verkehrsteilnehmer müssen keine Zeit-ist-Geld-Raserei befürchten. Für das | |
Jungunternehmen, das er 2016 gegründet hat, hat Geschäftsführer Timo | |
Nührich seine frühere Tätigkeit als Projektmanager bei Toyota und Audi an | |
den Nagel gehängt. Der 35-Jährige zeichnet von sich das Bild eines | |
Überzeugungstäters, dem es wichtiger ist, ein cleveres Geschäftsmodell mit | |
positiven gesellschaftlichen Effekten zu entwickeln, als üppige Bezüge | |
einzustreichen. | |
## Auch Transporter | |
Seit 2017 ist drive by in Berlin aktiv, anfangs nur mit einer Handvoll | |
Autos, inzwischen mit 100 Pkws und 15 Transportern – letzteres ein | |
Alleinstellungsmerkmal, auf das Nührich gerne hinweist. Bis Mitte April | |
sollen es 125 Pkws und 20 Transporter sein, bis Jahresende soll sich die | |
derzeitige Anzahl mehr als verdoppeln. Nührich betont, sein Team und er | |
hätten ein echtes Interesse daran, dass letztendlich weniger Autos | |
unterwegs seien: „Für uns ist das Carsharing kein Marketinginstrument.“ | |
Kein großer Hersteller steht hinter dem Start-up, das mit Audis, Fiats und | |
Renaults auf den Straßen vertreten ist. | |
Welches Abrechnungsmodell das entspanntere ist, liegt auf der Hand – mit | |
welchem man billiger fährt, nicht unbedingt. 2,76 Euro koste eine Fahrt vom | |
Potsdamer Platz zum Alex in der Rush Hour, rechnet drive by auf seiner | |
Website vor, im Minutentarif von car2go müsse man dagegen für dieselbe | |
Strecke 4,39 Euro berappen. Wenn die Strecke leer ist, beispielsweise nach | |
dem spätabendlichen Kinobesuch, dürfte das Verhältnis allerdings schon | |
wieder anders aussehen. | |
Drive by ist nicht der erste Player auf dem Carsharingmarkt, der es mit dem | |
Prinzip „miles not minutes“ versucht: Der kleine Anbieter „Spotcar“ hat… | |
2015 mit einer Flotte von 100 Pkws aus dem Hause Opel die Konkurrenz zu den | |
beiden großen Free-Floatern angetreten, hielt sich aber nicht lange auf dem | |
Berliner Markt. Die größte Herausforderung auch für drive by dürfte es | |
sein, eine kritische Dichte zu erreichen: Auf dem Stadtplan in der App sind | |
die Lücken zwischen den einzelnen Fahrzeugstandorten oft noch so groß, dass | |
der Fußmarsch bis zur Autotür länger dauern könnte als die anschließende | |
Fahrt. | |
Wie soll das für potenzielle Kunden eine verlockende Alternative sein, wenn | |
spätestens an der übernächsten Ecke der künftige Quasi-Monopolist | |
car2go–DriveNow wartet? Nührich will das nicht problematisieren: „Wir | |
funktionieren da ein Stück weit in Verbund mit den anderen Anbietern. Viele | |
Kunden nutzen mehrere Services und gucken eben, welches Fahrzeug gerade in | |
der Nähe ist.“ | |
Weil niemand mit drive by rasen muss, um sein Portemonnaie zu schonen, geht | |
das Unternehmen noch ein Wagnis ein: Im Gegensatz zu den beiden Großen, die | |
einen einjährigen Führerscheinbesitz zur Voraussetzung erheben, können hier | |
auch absolute Fahranfänger am Leihsystem teilnehmen. Dafür soll es eine | |
Kooperation mit Fahrschulen geben: „Mit Ersten haben wir Gespräche | |
geführt“, so Nührich. Fahrschüler, die dann im Unterricht für die | |
Besonderheiten des Carsharings sensibilisiert worden sind, sollen einen | |
Promotion-Code für einen verbilligten Einstieg bei drive by erhalten. Ob | |
das auf Dauer so bleiben kann, will Nührich nicht garantieren: „Wir | |
probieren das jetzt erst einmal aus.“ | |
9 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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