| # taz.de -- Familiennachzug in Deutschland: Ein letzter Funke Hoffnung | |
| > Die syrische Familie Haj Ali leidet unter dem ausgesetzten | |
| > Familiennachzug. Die Mutter ist mit vier Kindern in der Türkei, der Vater | |
| > mit dreien in Northeim. | |
| Bild: Die Familie hofft, dass die Mutter mit den restlichen Kindern bald auch i… | |
| Northeim taz | Die Kinder liegen auf dem Bauch auf dem weichen hellgrünen | |
| Teppich. Im Fernsehen läuft ein arabischer Trickfilm. Die drei Brüder | |
| schauen teilnahmslos zu. Zubeir (9), Fermis (8) und Murad (6) kichern nicht | |
| über die einfach gezeichneten Figuren im Fernsehen. Sie lächeln nicht | |
| einmal – und das wird in den folgenden fünf Stunden dieses Besuchs so | |
| bleiben. | |
| Es ist Dienstagnachmittag. Draußen regnet es. Die Jungs haben noch ihre | |
| Schlafanzüge mit Schneemännern und Autos darauf an. Seitdem ein Facharzt | |
| der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus dem niedersächsischen Northeim sie | |
| für schulunfähig erklärt hat, ist das ein typischer Tag. „Sie spielen | |
| nicht“, sagt Samir Faziki. Der junge Mann sitzt auf dem blauen Ledersofa | |
| und hebt hilflos die Hände. | |
| Faziki ist ein Erziehungsbeistand vom Jugendamt der Stadt Northeim, | |
| nördlich von Göttingen. Hierher sind die Jungs mit ihrem Vater Maher Haj | |
| Ali aus dem syrischen Bürgerkrieg geflüchtet und leben jetzt in einer | |
| Altbauwohnung. | |
| Faziki soll die Jungs dazu motivieren, dass sie rausgehen, lernen, Spaß | |
| haben, aber das klappt nicht. „Für sie wäre es wie ein Verrat, wenn sie | |
| jetzt spielen würden“, sagt Faziki. | |
| Die Kinder protestieren. Sie kämpfen auf ihre Weise dagegen an, dass ihre | |
| Mutter und ihre vier anderen Geschwister nicht bei ihnen sein dürfen. Das | |
| verhindert der deutsche Staat. | |
| ## Halbgarer politischer Kompromiss | |
| In den Sondierungsverhandlungen, als noch gar nicht klar war, ob Union und | |
| SPD gemeinsam regieren würden, waren sich die Parteien schon in einer Sache | |
| einig: Sie setzten den Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem | |
| Schutzstatus noch bis August dieses Jahres aus. Danach dürfen 1.000 | |
| Menschen pro Monat nachgeholt werden. Wie diese ausgewählt werden, ist noch | |
| unklar. | |
| Horst Seehofer (CSU), der damals noch nicht Innenminister war, hatte | |
| argumentiert, dass ohne die Obergrenze eine „massive Zuwanderung“ drohe und | |
| die „Integrationsfähigkeit Deutschlands total überfordert wäre“. Die SPD | |
| schluckte diese Kröte, und die Familie Haj Ali wurde Opfer eines halbgaren | |
| politischen Kompromisses. | |
| Die Kinder haben ihre Mutter seit Oktober 2015 nicht mehr gesehen, nur mit | |
| ihr telefoniert. Sie sitzt mit vier Kindern in Izmir in der Türkei fest, | |
| die jüngste Tochter, Malven, ist erst auf der Flucht zur Welt gekommen. | |
| „Ich habe meine Schwester noch nie gesehen“, sagt Zubeir mit leiser Stimme | |
| und dann lauter: „Kann das sein?“ | |
| Seine langen Haare fallen ihm ins Gesicht. Er ist mit neun Jahren der | |
| Älteste der Brüder. „Ich kann nicht mehr“, sagt er in gutem Deutsch. „I… | |
| heißt es, sie kommt noch ein Jahr später, noch ein Jahr später. Ich will | |
| meine Mama haben.“ | |
| In der Schule war die Situation zuletzt unerträglich für ihn. Er sah, wenn | |
| andere Kinder von ihren Müttern zur Schule gebracht wurden. „Ich bin dann | |
| traurig“, sagt Zubeir. „Ich will niemanden sehen, der mit seiner Mutter | |
| zusammen ist. Ich hab keine Lust auf das.“ | |
| ## Ein neues Zuhause | |
| Die Situation eskalierte. „Alle drei Kinder zeigen provokatives Verhalten | |
| und äußern, dass sie so nicht mehr leben wollen“, heißt es in einem Bericht | |
| der Schulleiterin der Ganztagsschule, in die Zubier, Fermes und Murad | |
| gingen, der der taz vorliegt. Sie setzten sich gefährlichen Situationen | |
| aus, kletterten auf Fensterbretter oder Treppenbrüstungen, um ihrer | |
| Forderung Nachdruck zu verleihen. „Sie äußern, dass sie damit erreichen | |
| möchten, dass wir ihre Mutter nach Deutschland holen.“ | |
| Faziki erklärt das so: „Sie denken, die Schule könne etwas machen und will | |
| nur nicht.“ Er versuche den Kindern zu erklären, dass die Lehrer nichts | |
| unternehmen könnten, genau wie er selbst und auch die ehrenamtliche | |
| Unterstützerin der Familie nicht. | |
| Dabei sah bis Mai 2017 noch alles ziemlich gut aus: Die Kinder gingen zur | |
| Schule, fanden Freunde und lernten Deutsch. Auch der Vater, Maher Haj Ali, | |
| besuchte einen Sprachkurs. Er machte aus der Wohnung ein Zuhause. In den | |
| Regalen im Wohnzimmer stehen Glasbilderrahmen mit den Fotos aller Kinder. | |
| Über dem Fernseher kleben schwarz-silberne Wandtattoos in Herzform. | |
| Die Familie kam im November 2015 nach Deutschland. Erst im Januar 2017 | |
| entschied das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass die Haj Alis | |
| nicht den vollen, sondern nur den subsidiären Flüchtlingsstatus bekommen. | |
| Der Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz ist aber seit | |
| dem Asylpaket vom 17. März 2016 ausgesetzt. | |
| Haj Ali klagte dagegen, dass ihm das Bundesamt für Migration und | |
| Flüchtlinge (Bamf) nicht den vollen Flüchtlingsstatus zuerkannt hatte, | |
| sondern nur den subsidiären. Das Verwaltungsgericht Göttingen gab ihm im | |
| April 2017 recht. Anerkannte Flüchtlinge haben ein Recht auf | |
| Familiennachzug. | |
| ## Ruhelos und depressiv | |
| „Da war hier Halligalli“, sagt Kerstin Munzinger. Die ehrenamtliche | |
| Helferin unterstützt die Familie schon seit zwei Jahren. „Wir haben | |
| gefeiert“, erinnert sie sich. Da dachten sie noch, die vierwöchige | |
| Widerspruchsfrist gegen das Urteil wäre reine Formsache und die Familie | |
| bald wieder vereint. Doch drei Tage vor Ablauf legte das Bamf Widerspruch | |
| ein – und bekam vom Oberverwaltungsgericht recht. „Seitdem ist die Stimmung | |
| dramatisch gekippt“, sagt Munzinger, eine 55-jährige Northeimerin, die als | |
| Gartenbauingenieurin arbeitet. „Ab diesem Zeitpunkt ging es für alle so | |
| richtig den Bach runter.“ | |
| Maher Haj Ali vergaß Termine und wurde immer ruheloser, am Ende depressiv. | |
| Die Kinder bekamen regelmäßig heftige Albträume, ständig taten ihnen der | |
| Kopf weh. „Sie sind schon mehrfach in der Schule eingeschlafen“, heißt es | |
| im Bericht der Schulleiterin. | |
| Wenig später erklärt ein Arzt die Kinder für schulunfähig. „Der Vater als | |
| auch die Kinder brechen unter der Last der Sorge um die Mutter mit ihren | |
| Kindern zunehmend zusammen“, schreibt der Psychiater. Seither kommt eine | |
| Lehrerin für ein paar Stunden am Tag, um mit den Kindern Deutsch und Mathe | |
| zu üben, aber die Probleme sind dieselben wie in der Schule. | |
| Maher Haj Ali, ein sportlicher Typ mit ordentlich frisierten Haaren und | |
| silbernen Ringen an den Fingern, schickt die Kinder aus dem Raum und öffnet | |
| ein Fenster, bevor er sich eine Zigarette ansteckt. Er sieht erschöpft aus. | |
| Zwischen seinen Augenbrauen hat sich eine tiefe Falte in die Haut gegraben. | |
| Ein Arzt stellte eine schwere Depression bei ihm fest. Jetzt nimmt er | |
| Antidepressiva. „Es gibt keine guten Tage, nur weniger schlimme“, sagt Haj | |
| Ali auf Arabisch. Faziki übersetzt für ihn. | |
| Die Kinder vermissen nicht nur ihre Mutter, auch ihre Flucht allein hätte | |
| ausgereicht, um einen Menschen zu traumatisieren. In der syrischen Stadt | |
| Amuda hatte Haj Ali als Maler und Taxifahrer gearbeitet. Doch durch den | |
| Bürgerkrieg wurde der Ort abgeschnitten. „Erst kamen keine Lebensmittel | |
| mehr rein, dann gab es auch kein Benzin mehr.“ | |
| ## „Mit einem Bein im Boot, mit dem anderen im Grab“ | |
| Er floh in den Irak, holte auch seine Familie in das Zeltlager im | |
| kurdischen Autonomiegebiet im Regierungsbezirk Dahuk nach. Von Deutschland | |
| hat Haj Ali schon lange geträumt. „Ich bin mit dem Wissen aufgewachsen, | |
| dass Deutschland den Kurden Asyl gibt“, sagt er. Auch seine Mutter lebte da | |
| schon in Northeim. Das Ziel war also klar, aber das Geld fehlte. Denn um | |
| vom Irak über die türkische Grenze zu kommen, mussten sie Schlepper | |
| bezahlen. Die Familie trennte sich. | |
| Haj Ali machte sich mit Fermes und Murad auf den Weg über die Berge. Einen | |
| Teil der Strecke mussten sie laufen. „Da war eine Schlucht und darüber nur | |
| ein Brett“, sagt der Familienvater. „Da mussten wir rüber.“ Die Route | |
| führte über Schleichwege weiter. Sie schafften es. Ein Freund brachte | |
| Zubeir später nach. | |
| In der Türkei bezahlten die vier den nächsten Schlepper für die Überfahrt | |
| nach Griechenland. Das Schlauchboot war überfüllt, der Motor zu klein und | |
| das Wetter schlecht. Man braucht keinen Dolmetscher, um Haj Alis Gesten zu | |
| verstehen: Mit der Hand zeigt er, wie sich die Wellen aufgebaut haben und | |
| dann das Boot abrupt heruntergestürzt ist. | |
| „Wir hatten Angst, dass wir umkippen“, sagt er und zieht den sechsjährigen | |
| Murad zu sich heran. Er legt den Arm um dessen Oberkörper. „So habe ich ihn | |
| festgehalten. Die ganze Zeit.“ Die Kinder zitterten vor Kälte, weil das | |
| Wasser im Boot bis zu den Knien stand. Alle schöpften mit ihren Turnschuhen | |
| das Wasser heraus. Da ging auch noch der Motor aus. „Wir standen mit einem | |
| Bein im Boot und mit dem anderen im Grab“, sagt Haj Ali. | |
| Sie trieben ab, zurück zur türkischen Küste, als endlich jemand den Motor | |
| wieder zum Laufen bekam. Von Griechenland ging es in Bussen über die | |
| Balkanroute bis nach Österreich. Da folgte die größte Katastrophe. Haj Ali | |
| und die Kinder verloren sich in der Menschenmenge vor den Bussen Richtung | |
| Deutschland aus den Augen. Der Zufall rettete sie: Ein Fremder, von dessen | |
| Telefon Haj Ali seine Mutter in Northeim angerufen hatte, erkannte die | |
| Kinder. Er kontaktierte die Großmutter und brachte die Jungen zu ihr, bevor | |
| er weiterreiste. Erst Tage später konnten sie sich dort wieder in die Arme | |
| schließen. | |
| In Deutschland lieh sich Haj Ali überall Geld, damit seine Frau mit den | |
| Kindern in die Türkei reisen konnte. Sie müssten da jetzt mit sehr wenig | |
| Geld überleben, sagt die Helferin Kerstin Munzinger und redet sich dann | |
| über das deutsche Asylsystem in Rage. | |
| ## Die Zustimmung fehlt noch | |
| „Ich hätte das als Deutsche nicht für möglich gehalten.“ Sie meint, dass | |
| sich an der Situation nichts ändere, obwohl es den Kindern offensichtlich | |
| schlecht gehe. Die Helferin schreibt deshalb an Bundestagsabgeordnete und | |
| hält den Kontakt zu den Behörden sowie der Anwältin der Familie. „Aber | |
| diese dramatische Situation fällt hier komplett durchs Raster.“ Munzinger | |
| reibt sich auf, investiert einen Großteil ihrer Freizeit. Aufgeben will sie | |
| nicht – auch wenn sie sieht, dass Haj Ali den Mut verloren hat. | |
| Die 55-Jährige hat noch eine Hoffnung: Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes. | |
| Der besagt, dass Ausländern aus dringenden humanitären Gründen eine | |
| Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann. Diese dringenden Gründe müssen | |
| allerdings bei der Mutter und ihren Kindern in der Türkei vorliegen – dass | |
| die Kinder hier ihre Mutter vermissen, zählt nicht. Deshalb fieberten alle | |
| auf einen Termin der 32-jährigen Mutter im Generalkonsulat in Izmir hin. | |
| Ein paar Tage später kam tatsächlich eine Mail vom Auswärtigen Amt: Das | |
| Generalkonsulat Izmir sei gebeten worden, das Visumverfahren für die Frau | |
| und ihre Kinder durchzuführen, heißt es darin. Nun fehle nur noch die | |
| Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde. | |
| „Wir trauen uns noch nicht, uns zu freuen“, sagt Munzinger am Telefon. „W… | |
| wissen ja noch nicht, was wieder dazwischenkommen kann.“ Trotzdem schleicht | |
| sich die Hoffnung ein. Dieses Mal könnte es klappen. | |
| 28 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Andrea Scharpen | |
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