| # taz.de -- Inklusives Bandprojekt: Auf Station 17 | |
| > Ein Besuch im Hamburger Proberaum der neunköpfigen Krautrock-Truppe zeigt | |
| > eine gar nicht mal so ungewöhnliche Rockband. | |
| Bild: Station 17 ist eine Band, die sich stets im Wandel befindet – hier in d… | |
| Silvano scheint bloß auf jemanden gewartet zu haben, dem er seine | |
| Geschichte erzählen kann. Hier, im Eingangsbereich eines zweistöckigen | |
| Hauses in einem Hamburger Hinterhof. „Ich bin Sinti, ich hab’ne Psychose.“ | |
| Silvano grinst. | |
| In einem Atemzug wird er es schaffen, sein persönliches Schicksal | |
| auszubreiten und gleichzeitig vom bevorstehenden HSV-Spiel zu berichten. Es | |
| sprudelt aus dem kleinen Mann mit Cap und Schnauzbart heraus: Er sei | |
| Musiker, würde singen und Gitarre spielen. Am liebsten Elvis. Silvano | |
| lacht. Er ist angestellter Künstler bei dem inklusiven Netzwerk Barner 16. | |
| Im Stadtteil Altona produzieren 80 feste und freie Mitarbeiter mit und ohne | |
| Handicaps Musik, entwickeln Tanzperformances und Kurzfilme, fertigen | |
| Textildrucke an und digitalisieren alte Schallplatten und VHS-Kassetten. | |
| Das hauseigene Musiklabel 17records ist Heimat von Bands wie The Living | |
| Music Box und Turiazz. Und dann ist da noch das Aushängeschild: Station 17. | |
| Gerade ist das neue Album „Blick“ erschienen. Silvano ist nicht darauf zu | |
| hören, auch wenn er es dem Besucher glaubhaft machen will. | |
| Station 17 ist ein mehr oder weniger festes Kollektiv, seit drei Jahren | |
| spielt die aktuelle Besetzung zusammen. Fünf Musiker mit Handicap, vier | |
| ohne. Es ist Freitagmittag, Probetag in Altona. Durch die Dachfenster des | |
| Atriums der Barner 16 scheint die Sonne. „Stop – Hier wird gearbeitet“, | |
| steht handgepinselt auf der Tür des mit Instrumenten zugestellten | |
| Proberaums. | |
| Gegenteil von gönnerisch | |
| Christian Fleck drückt einen Schalter und taucht das Studio in | |
| dunkellilafarbenes Licht. Fleck, seit 13 Jahren bei Station 17, startet | |
| einen Beat mit einem alten Sequencer. Ernesto Schnettler setzt mit einer | |
| betörend glimmenden E-Gitarre ein, weitere Keyboards kommen dazu. | |
| „Sternenteleskop“ spielen Station 17 sonst anders; auf dem Album ist | |
| Elektronik-Produzent Ulrich Schnauss als Gast dabei, seit einigen Jahren | |
| Mitglied von Tangerine Dream. | |
| Ähnlich wie bei den besten Tracks der deutschen New-Age-Pioniere öffnet | |
| sich in dem Song eine entrückte Ambient-Welt voller sanft pluckernder | |
| Sounds. Zwar fehlt die Hälfte von Station 17 an diesem Freitag | |
| grippebedingt, dennoch ist es beeindruckend, mit welcher Gelassenheit | |
| Fleck, Schnettler, Sebastian Stuber und Hauke Röh ihre psychedelisch | |
| verträumte Jamsession durchziehen. „Wir sind eigentlich eine unfassbar | |
| laute Band“, sagt Bassist und Produzent Röh. | |
| Station 17 ging 1988 aus der Wohngruppe 17 der Evangelischen Stiftung | |
| Alsterdorf hervor. Nach sieben Alben hat das Kollektiv zwar noch nicht die | |
| Charts erobert, doch auf seine Art die obere deutsche Pop-Liga erreicht: Es | |
| gab Kooperationen mit Fettes Brot, Stereo Total und DJ Koze und Auftritte | |
| bei großen Rock-Festivals wie dem Hurricane; Joachim Gauck lud sie für ein | |
| Konzert ins Schloss Bellevue. | |
| „Jenseits von gönnerischem Gutmenschentum und vorführender Freakshow müssen | |
| Station 17 ihre eigene künstlerische Sprache finden“, forderte Mark Chung, | |
| Förderer der Band und einstmals Bassist bei den Einstürzenden Neubauten, | |
| Anfang der 1990er Jahre. Anno 2017 hat die Band Haltung und stabile | |
| Besetzung längst gefunden. „Das sind alles richtig gute Musiker“, sagt | |
| Produzent Christian Fleck. Bestes Beispiel: „Le Coeur Léger, Le Sentiment | |
| d’un Travail Bien Fait“, der siebenminütige Opener des neuen Albums | |
| „Blick“. | |
| „Geil verspult“ | |
| Ein repetitiver Bass, das Wabern monotoner Synthesizer, die Trompete spielt | |
| eine Melodie, die vage an das James-Bond-Thema erinnert, dazu | |
| tribalistische Trommeln. So weit, so spacig, aber was Marc Huntenburg, ein | |
| Künstler mit Down-Syndrom, darüber legt, ist schlicht sensationell. Ein | |
| dunkel gemurmelter, gesäuselter Sprechgesang voller Fantasieworte, mal | |
| nasal, mal abgründig und basslastig. | |
| Wie es sonst nur frühe Songs der deutschen Rocklegende Can mit Sänger Damo | |
| Suzuki vermochten, beschwört der Track eine surreale Voodoo-Atmosphäre | |
| herauf – eingefangen im Klassenzimmer einer ehemaligen Schule in der | |
| 900-Einwohner-Gemeinde Emmelsbüll-Horsbüll. Nur einen Maraca-Wurf von der | |
| Nordsee entfernt haben Station 17 „Blick“ im Sommer 2017 aufgenommen. | |
| „Es gab keinen Handyempfang und der Aufenthaltsraum war gleichzeitig | |
| Aufnahmestudio“, erzählt Hauke Röh, der ausgebildeter Erzieher ist und | |
| soziale Arbeit studiert. „Wir konnten uns ganz intensiv auf die Songs | |
| einlassen. Alles, was uns abgelenkt hat, waren die Gäste.“ | |
| Das „geil verspulte“ (O-Ton Röh) achte Album der Band ist auch das erste | |
| bei Bureau B. Die Gästeliste auf „Blick“ liest sich wie ein Who is Who des | |
| auf Elektronik und Avantgarde spezialisierten Labels: Pyrolator, Harald | |
| Grosskopf, Jean-Hervé Péron und Zappi Diermaier von Faust und als Produzent | |
| Schneider TM. Auf jedem der neun Songs ein anderer Gast, bekannte Figuren | |
| der deutschen Krautrock-Szene, dazu NDW-Größe Andreas Dorau. | |
| Inklusion heißt, nicht zwischen Kategorien zu unterscheiden | |
| „Wir haben nicht viel abgesprochen, einfach aufeinander gehört“, sagt | |
| Sebastian Stuber, mit 17 Jahren Bandzugehörigkeit der Dienstälteste bei | |
| Station 17. Der Mann am Synthesizer ist seh- und lernbehindert und verfügt | |
| über ein absolutes Gehör. Bassist Röh wundert sich noch immer über die | |
| Fähigkeit des Keyboarders, eine Tonart in Sekundenschnelle herauszuhören: | |
| „Als ich Sebastian kennenlernte, sagte er mir, dass ich in F-Dur und G-Moll | |
| spreche.“ | |
| Das Wort „Inklusion“ fällt erst nach einer Stunde Gespräch. Während im | |
| Proberaum aufgeräumt wird, sitzt Hauke Röh in der Literaturwerkstatt. | |
| „Inklusion heißt: Menschen mit Behinderung nehmen teil. Aber es bedeutet | |
| auch, nicht zwischen Kategorien wie Mann oder Frau, hetero- oder | |
| homosexuell zu unterscheiden. In dem Moment, in dem wir Musik machen, ist | |
| so ein Status total unerheblich.“ | |
| Und was ist mit dem unseligen Begriff „behindert“? Röh: „Ich spreche lie… | |
| von Menschen mit Behinderung. Das lässt offen, ob der Mensch behindert ist | |
| oder behindert wird. Diesen Status sucht man sich ja nicht selber aus.“ | |
| Was die Barner 16 in Europa einmalig macht: Alle sind als Künstler in einer | |
| Vier-Tage-Woche angestellt und können frei ihrer Kunst nachgehen. Für | |
| Stuber, Schnettler und die anderen Angestellten bedeutet das: Sie haben den | |
| Proberaum an mehreren Tagen in der Woche für sich. „Ein absoluter Luxus“, | |
| sagt Hauke Röh und scheint noch immer zu staunen. Als Mitglied der | |
| Punkrockband Schrottgrenze ist er andere Verhältnisse gewohnt. | |
| 18 Stunden Musik hat die Band aufgenommen | |
| Allerdings muss die Einrichtung die Löhne ihrer Beschäftigten selbst | |
| erwirtschaften. Deshalb gehen Station 17 auf Reisen. Neun plus x werden sie | |
| auf der bevorstehenden Tournee sein, als Gäste beim Gig am 6. April im | |
| Hamburger Kampnagel werden Jean-Hervé Péron, Zappi Diermaier und Andreas | |
| Spechtl von Ja, Panik erwartet. | |
| Noch mehr von solchen Avantgarde-Fummlern, deren Experimentierfreude sich | |
| so prächtig mit der Verspieltheit der neun Altonaer Musiker zusammenfügt, | |
| gibt es dann im Herbst: Das nächste Station-17-Album, mit weiteren Songs | |
| aus den letztjährigen Sessions, ist bereits fertig. Material gab es mehr | |
| als genug: 18 Stunden Musik hatte man an der Nordsee aufgenommen. | |
| Nach der Verabschiedung von den vier Bandmitgliedern wartet Silvano am | |
| Ausgang. Noch einmal erzählt er seine Lebensgeschichte im Eiltempo, grinst | |
| wieder, als er von seiner Krankheit berichtet. Erneut erwähnt er Elvis und | |
| macht mit den Händen eine Bewegung, als würde er einen Gitarrenakkord | |
| anschlagen. | |
| Ein eigenes Musikvideo, in dem Silvano zu melancholisch-jazzigen Klängen | |
| von den gewalttriefenden Meldungen der Tagespresse sprechsingt, gibt es | |
| schon: „Mörder“. Vielleicht wird Silvano ja tatsächlich auf dem | |
| übernächsten Station-17-Album zu hören sein. Doch in der Gegenwart zählen | |
| andere Dinge: Morgen spielt der HSV. | |
| 15 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Paersch | |
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