# taz.de -- Kommentar Tafeln in Deutschland: Das System Tafel ist am Ende | |
> Rund 1,5 Millionen Menschen nutzen das Hilfsangebot in Deutschland. Es | |
> muss sich als Bewegung verstehen und Forderungen an die Politik stellen. | |
Bild: Wer darf zur Essener Tafel? Der Ausschluss von Menschen ohne deutschen Pa… | |
Was sind Almosen? Ein Weniger? Ein Mehr? Oder sind sie in Wirklichkeit gar | |
nichts, null, niente? Gar nichts, verteilt auf viele, ist gar nichts für | |
alle. | |
Solchen Fragen müssen sich die Tafeln, denen beim Almosenverteilen nun die | |
Verteilungsgerechtigkeit um die Ohren fliegt, endlich stellen. Das System | |
Tafel baut auf der Umverteilung des Mangels auf. Aus anderer Perspektive | |
auch auf der Umverteilung des Mülls der Wegwerfgesellschaft und der | |
Gewissensbisse der Reichen. Almosen-arithmetisch sind das Negativposten. | |
Halt, nicht nur Leute von den Tafeln, sondern alle, die den Sozialstaat | |
verteidigen wollen, sollten Almosen nicht länger als Positivposten | |
betrachten, der den Riss zwischen Arm und Reich kittet. Denn dass in der | |
Ruhrgebietsstadt Essen jetzt nur noch Neubedürftige mit deutschem Pass in | |
den Genuss von Weggeworfenem kommen sollen, zeigt, dass die Idee von | |
gerechter Verteilung aus dem Ruder läuft, endgültig. Weil es plötzlich | |
Menschen geben soll, die es weniger wert sind, wenig vom Weniger zu | |
bekommen. Diesen Umstand nun den Tafeln anzulasten kommt einigen in der | |
Politik sehr zupass. Aber die Tafeln sind nur das Symptom, die Ursache | |
liegt anderswo. | |
Noch mal zum Verständnis: [1][Die Tafel in Essen erklärte], dass durch die | |
vielen Flüchtlinge „der Anteil ausländischer Mitbürger bei unseren Kunden | |
auf 75 Prozent angestiegen“ sei, und verfügte, dass nur noch „Kunden mit | |
deutschem Personalausweis“ neu aufgenommen werden. Das habe nichts mit | |
Rassismus zu tun, so der Vorsitzende der Essener Tafel, Jörg Sartor (auch | |
wenn Rechte applaudieren). Vielmehr gehe es darum, dass wieder gerecht | |
verteilt werde, dass alleinerziehende und ältere Frauen sich nicht von | |
jungen, fremdsprachigen Männern abschrecken lassen. | |
Sartor wird nun zu Unrecht beschimpft, macht er doch nur deutlich, dass | |
etwas auch bei uns passiert, was man eigentlich aus Krisengebieten kennt: | |
Wenn Hilfsgüter verteilt werden, bekommen die Stärksten oft mehr von den | |
Almosen ab. Und das bedeutet doch: Deutschland ist Krisengebiet; eine | |
gerechte Verteilung ist unmöglich und das System Tafel ist am Ende. | |
## Neoliberale Logik | |
Vor 25 Jahren wurde die erste Tafel in Berlin nach amerikanischem Vorbild | |
gegründet. Ursprünglich, wie die Initiatorin Sabine Werth betont, um | |
genießbare Lebensmittel, die sonst im Müll landen würden, einer sinnvollen | |
Verwendung zuzuführen. Dass die gefundene Lösung, nämlich die Verteilung an | |
Arme, den Abbau des Sozialstaats versüßt, kritisierten Leute wie der | |
Politikprofessor Peter Grottian schon bald. | |
Dass neoliberale Organisationen wie die Bertelsmann-Stiftung, McKinsey, der | |
Bundesverband der Deutschen Industrie die Tafeln loben, auf der anderen | |
Seite aber alles tun, um den Sozialstaat weiter zu beschneiden, gibt den | |
Kritikern recht. Armutsbekämpfung wird immer weniger als Aufgabe der | |
Gesellschaft angesehen, sondern als Aufgabe von Ehrenamtlichen, und am | |
Ende, so die neoliberale Logik, liegt sie in der Verantwortung von jedem | |
selbst. | |
In Deutschland werden jährlich mehr als 11 Millionen Tonnen Lebensmittel | |
weggeworfen. Ein Bruchteil dessen wird von den bundesweit über 900 Tafeln | |
eingesammelt und verteilt. Etwa 1,5 Millionen Arme nutzen das Angebot. (Vor | |
zehn Jahren waren es halb so viele.) 60.000 Ehrenamtliche halten das System | |
am Laufen. | |
Das sind Wahnsinnszahlen. Es zeigt: Es gibt viele Bedürftige, viel | |
Überschuss und viele Helfende. Wer also sagt, dass das System der Tafeln | |
gescheitert ist, muss wissen, dass er die Ehrenamtlichen in ihrem ethischen | |
Denken verletzt und jene bedroht, die die Almosen brauchen. | |
## Bundesverdienstkreuze reichen nicht | |
Wer das Erfolgsmodell Tafeln kritisiert, muss deshalb Vorschläge machen, | |
wie ihr Potenzial besser genutzt werden kann, ohne nur die Erodierung des | |
Sozialstaats zu kaschieren. Vorschläge, die stattdessen die Tafeln dabei | |
unterstützen, ihre Stärke so auszuspielen, dass sie der sozialen | |
Verantwortung des Staates damit wieder auf die Sprünge helfen. | |
Wie? Indem sich die Tafeln als Bewegung verstehen, die Forderungen nicht an | |
ihr Klientel, sondern an die Politik richtet. Aus den 1,5 Millionen Kunden | |
müssen 1,5 Millionen Demonstranten werden. Sie fordern, dass ein | |
Gemeinwesen, das die Tafeln braucht, um Armut zu kaschieren, als Erstes die | |
Ehrenamtlichen entlohnen muss. (Bundesverdienstkreuze reichen nicht.) | |
Sie fordern, dass die konservativen Thinktanks wie die Bertelsmann Stiftung | |
oder McKinsey, die das Wirken der Tafeln positiv werten, unentgeltlich | |
Konzepte entwickeln, wie die Tafeln aus dem Almosenverteilungskreislauf | |
herauskommen können, ohne das Potenzial der freiwilligen HelferInnen zu | |
verlieren. Sie sollen die Frage beantworten, welche gesellschaftlich | |
sinnstiftende Arbeit diese stattdessen machen können. | |
Sie fordern, dass die Lebensmittelüberproduktion eingedämmt wird und den | |
Produzenten faire Preise bezahlt werden, damit die Discounter durch ihr | |
Preisdumping nicht noch die Armut schaffen, von der sie deshalb | |
profitieren, weil sich der Warenkorb, an dem sich Hartz IV orientiert, auf | |
Discounterpreise bezieht. Und sie fordern, dass die Politik aufhört, | |
Reichtum zu fördern, statt Armut zu bekämpfen. | |
Wer solche Vorschläge macht, begibt sich aufs Glatteis. Aber das passt zum | |
Wetter. | |
2 Mar 2018 | |
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[1] /Essener-Tafel-nimmt-nur-Deutsche-auf/!5487000 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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