# taz.de -- Debatte Zukunft der Arbeit: Das Lebenselixier des Kapitalismus | |
> Ehrenamtliche Arbeit ist nicht die schöne neue Welt des Miteinanders. | |
> Engagierte übernehmen notwendige Aufgaben, der Staat spart Geld. | |
Bild: Ohne ehrenamtliche Mitarbeit geht es meistens nicht: Sprachlernklasse der… | |
Helfen hat Konjunktur. Ehrenamtliche verteilen Lebensmittel, organisieren | |
Rechtsberatung für Geflüchtete, engagieren sich in der Pflege und kümmern | |
sich um benachteiligte Familien. „Du bist unersetzlich!“ heißt die neue | |
Kampagne des für das Ehrenamt zuständigen Ministeriums, das uns ermöglicht, | |
endlich per Mausklick mal so richtig „Danke“ zu sagen. Danke dafür, dass | |
Engagierte existenziell notwendige Aufgaben übernehmen, die sich eines der | |
wohlhabendsten Länder lieber nichts kosten lassen möchte. | |
Ehrenamtliche Hilfe hat den Nimbus eines frisch gebackenen Apfelkuchens – | |
alle mögen es, so wunderbar günstig, freiwillig und gemeinsinnig. In der | |
öffentlichen Debatte über die Flüchtlingshilfe und die Politik der Essener | |
Tafel hat dieses Bild erste Risse bekommen. Es ist höchste Zeit, den Blick | |
auf die Fallstricke und die politische Ökonomie des Helfens zu richten. | |
Seit Ende der 1990er Jahre beobachten wir einen Umbau des Sozialstaats, bei | |
dem es nicht nur um Kosteneinsparungen, sondern um den ideologisch | |
motivierten Übergang von der staatlichen Versorgung zur staatlich | |
angeleiteten Selbstsorge geht. Wir erleben die Umdeutung der sozialen Frage | |
zu einer Frage der fürsorglichen Gemeinschaft, die – weil es weniger | |
altertümlich klingt – als Caring Community Karriere macht. Der Wandel der | |
Sozialpolitik ist aber nicht allein dafür verantwortlich, dass private | |
Hilfe an Bedeutung gewinnt: In Zeiten, da immer weniger Frauen ganztägig | |
und unbezahlt als Ressource der Sozialpolitik zur Verfügung stehen, da | |
Geflüchtete auf Unterstützung angewiesen sind und die Zahl der | |
Pflegebedürftigen in die Höhe schnellt – in diesen Zeiten ist die Nachfrage | |
nach freiwilliger Hilfe besonders groß. | |
Der Staat übernimmt aktiv die Regie der Freiwilligengesellschaft, ruft den | |
Bundesfreiwilligendienst ins Leben, verabschiedet ein | |
Ehrenamtsstärkungsgesetz und setzt in der Pflegepolitik auf ehrenamtliche | |
Hilfe. CDU, CSU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag der Förderung des | |
Engagements verschrieben, wünschen sich im ländlichen Raum Bürgerbusse | |
statt öffentlichem Nahverkehr und streben eine Engagement-Erziehung an | |
Schulen an. | |
## Unbezahlte Sorgearbeit | |
Anders als im Neoliberalismus à la Reagan und Thatcher, der nur das | |
Individuum und seine Familie kannte („There is no such thing as | |
society.“), entsteht ein Community-Kapitalismus, der die „Ressource | |
Gemeinschaft“ ausbeutet und das Potenzial von Nachbarschaften, Gemeinden | |
und Freiwilligen entdeckt. Das Interesse an dieser Ressource ist mehr als | |
eine politische Laune: Feministische AutorInnen weisen seit Langem auf die | |
fundamentale Bedeutung unbezahlter Sorgearbeit im Kapitalismus hin, der als | |
reine Marktwirtschaft nicht überlebensfähig ist. Im Zeitalter der | |
Post-Hausfrau richtet sich der spähende Blick auf neue Akteure, die die | |
Sorgelücken in der Kinderbetreuung, Bildung und Pflege schließen sollen. | |
Besonders beliebt: fitte RuheständlerInnen, die ihre freie Zeit nicht auf | |
Reisen, sondern als Grüne Dame im Krankenhaus oder als Nachmittagsbetreuung | |
in der Ganztagsschule verbringen. Aber auch Langzeitarbeitslose rücken ins | |
Blickfeld: In der SPD wird die Idee eines „solidarischen Grundeinkommens“ | |
ventiliert, das diejenigen erhalten sollen, die im ALG-II-Bezug | |
gemeinnützigen Tätigkeiten nachgehen. Faktisch ist dies ein Vorschlag zur | |
Etablierung einer staatlich subventionierten Schatten-Hilfeökonomie. | |
Anders als der radikale Neoliberalismus ist der Community-Kapitalismus für | |
unterschiedlichste Akteure attraktiv – und womöglich gerade deshalb | |
erfolgreich: Nicht nur Regierungen und politische Parteien pushen die | |
Ressource Gemeinschaft, auch für Wohlfahrtsverbände, Kirchengemeinden und | |
alternative, kapitalismuskritische Bewegungen ist etwas dabei. Caring | |
Communities sind aber keine schöne neue Welt des Miteinanders jenseits des | |
Kapitalismus, sondern sein kostengünstiges Lebenselixier. | |
Die Caritas Deutschland bringt es unverhohlen auf den Punkt: | |
„Bürgerschaftliches Engagement ist systemrelevant, nachhaltig und erbringt | |
eine ausgezeichnete Rendite – ohne Risiko. Ein klare Kaufempfehlung.“ Was | |
auf den ersten Blick so begrüßenswert klingt, basiert auf dem Abbau | |
sozialer Rechte, der Ausbeutung unbezahlter Arbeit und belebt Formen | |
karitativen Helfens, die durch persönliche Abhängigkeit, Ungewissheit und | |
Hierarchien zwischen vermeintlich Wohltätigen und Hilfsbedürftigen geprägt | |
sind. | |
## Abbau des Sozialstaates | |
Der politische Diskurs kennt nur eine Problematisierung von Engagement – | |
die Überforderung der Engagierten, die gerade in der Flüchtlingsdebatte | |
gerne als Beleg für die vermeintlich erreichte Grenze der Belastbarkeit | |
instrumentalisiert wird. Geldwerte Aufwandsentschädigungen und | |
Qualifizierungsangebote für Engagierte sind politische Antworten auf die | |
diagnostizierte Überforderung. Beides ist ein zweischneidiges Schwert: Das | |
Ehrenamt wird mancherorts zum Vehikel für informelle Tätigkeiten im | |
Graubereich zwischen Erwerbsarbeit und Engagement, in dem arbeits- und | |
tarifrechtliche Standards nicht gelten und Freiwillige ohne Ausbildung | |
quasiprofessionelle Aufgaben erfüllen. Die strukturell überforderte Hilfe | |
ist dabei nicht nur eine staatlicherseits ausgebeutete Hilfe, sie ist immer | |
häufiger auch eine prekäre Hilfe, die mit niedrigen Aufwandsentschädigungen | |
für Langzeitarbeitslose und arme RuheständlerInnen das Überleben sichert. | |
Ohnmächtig ist die engagierte Hilfe aber nicht. Die Abwehr der | |
Überforderung kann exkludierende Formen annehmen, wie im Fall der Essener | |
Tafel, die zwischenzeitlich die Bedürftigkeit über den deutschen Pass | |
bestimmte. Vielversprechend hingegen ist das rebellische Engagement: | |
Rebellisches Engagement hilft, springt ein, schließt Versorgungslücken, | |
aber es nutzt das Engagement politisch, um ebendiesen Umstand zu | |
skandalisieren. „Es ist uns keine Ehre!“ proklamieren zum Beispiel die | |
Medibüros, die ehrenamtlich medizinische Versorgung für Geflüchtete | |
organisieren. Sie helfen und sie kämpfen zugleich. Für eine solidarische | |
Gesundheitsversorgung für alle. | |
17 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Silke van Dyk | |
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