# taz.de -- Bilanz eines Berliner Flüchtlingshelfers: „Wir wollen jetzt ein … | |
> Zwei Jahre engagierte sich Holger Michel als Freiwilliger in der | |
> Notunterkunft im Rathaus Wilmersdorf. Nun will er ein Nachbarschaftshaus | |
> aufbauen. | |
Bild: Geflüchteter im einstigen Rathaus Wilmersdorf | |
taz: Herr Michel, Ende November sind die letzten Bewohner aus der | |
Notunterkunft im ehemaligen Rathaus Wilmersdorf ausgezogen. Haben sie jetzt | |
ihr altes Leben zurück? | |
Holger Michel: Es ist ein großer Einschnitt. Ich habe zweieinhalb Jahre | |
dort viel Zeit verbracht, und plötzlich gibt es die Unterkunft nicht mehr. | |
Aber die Menschen sind ja nicht weg. Sie haben weitere Fragen, aber wir | |
können nicht mehr sagen, wir treffen uns im Haus, denn sie sind jetzt auf | |
fünfzehn Unterkünfte verteilt. Bis zur Finckensteinallee in Steglitz | |
bräuchte ich eineinhalb Stunden, da fahre ich nicht eben mal rüber. Wir | |
sind immer noch ansprechbar, per Facebook und Handy, und das wird genutzt. | |
Was wir ja auch wollen, nur manchmal weiß ich nicht, wie ich das machen | |
soll. | |
Und wie reagieren Sie auf Anfragen aus der Finckensteinallee? | |
Wir informieren teilweise das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten. | |
Wenn zum Beispiel drei Menschen in einem Zimmer untergebracht sind, das nur | |
für zwei vorgesehen ist. Das funktioniert meistens. Außerdem bauen wir zu | |
den Heimleitungen Kontakt auf. Aber es ist aufwendiger: Früher war es ein | |
Anruf, jetzt müssen wir oft fünf Leute anrufen. | |
Als es im September 2015 eröffnete, war das Rathaus Wilmersdorf eine Art | |
Vorzeigeunterkunft in Berlin. Gegen Ende gab es einen Fernsehbericht, der | |
die Unterkunft mit Zwangsprostitution und Prostitution von Minderjährigen | |
in Verbindung brachte. | |
Es gab zwei Tiefpunkte. Der erste war der Protest von Bewohnern im Mai. Den | |
Protest fand ich grundsätzlich gerechtfertigt und nachvollziehbar, weil das | |
LAF den Leuten immer gesagt hat, sie würden drei Monate bleiben, und | |
nachher waren sie eineinhalb Jahre dort. Das ist ja kein Zustand, wenn sich | |
800 Menschen 50 Toiletten teilen. Aber wir haben uns danach auch gefragt, | |
was wir hätten anders machen können. | |
Und die Vorwürfe aus dem Fernsehbeitrag? | |
Es hat uns verletzt, dass wir als Freiwillige uns plötzlich rechtfertigen | |
sollten. Es gab ja das Interview in der taz, wo es hieß, dass die | |
Freiwilligen davon gewusst und weggeschaut hätten. Das hat uns wirklich | |
getroffen. Wir haben heftige Kämpfe mit Trägern und Behörden in diesem Haus | |
geführt, warum sollten wir denn gerade weggucken, wenn Minderjährige auf | |
den Strich geschickt werden? Der Vorwurf war bösartig und absurd. Nach | |
unserem jetzigen Kenntnisstand werden sich die Vorwürfe als haltlos | |
erweisen. Dass es Prostitution unter Geflüchteten gibt, ist bekannt, und | |
wir können nicht garantieren, dass es das auch bei unseren Bewohnern nicht | |
gab, aber nicht als systematische Vermittlung. Wir warten auf den Bericht | |
vom LKA, weil wir das Kapitel abschließen möchten. | |
Jetzt haben Sie einen Monat Erfahrung mit telefonischer Beratung. Wie geht | |
es weiter? | |
Wir haben als Initiative vor vier Monaten einen neuen Verein gegründet, | |
Nachbarschafft (sic) e. V., und übernehmen nun als Träger die sogenannte | |
Revierunterkunft, das große, leer stehende Haus am Schölerpark in | |
Wilmersdorf, um ein Haus der Nachbarschaft aufzubauen. Aus dem Masterplan | |
gibt es Geld für den Umbau, und wir hoffen, dass die Bauarbeiten ab Februar | |
abgeschlossen sind. Dort soll es Sprachkurse, Sozial- und Rechtsberatung, | |
Freizeit- und Sportangebote geben. Was uns wichtig ist: Es ist kein Haus | |
für Geflüchtete. Es ist ein Haus für alle. | |
Nicht mehr Flüchtlingshilfe? Warum nicht? | |
Wir haben uns lange Zeit auf die Unterschiede und die besonderen | |
Bedürfnisse von Geflüchteten konzentriert, aber Integration bedeutet, dass | |
alle den gleichen Zugang haben sollen. Viele Kinder brauchen Nachhilfe, | |
viele ältere Menschen brauchen Möglichkeiten, sich einzubringen. Natürlich | |
wird das Haus eine Anlaufstelle für unsere ehemaligen Bewohner, weil die | |
uns kennen, und es ist nicht weit vom Fehrbelliner Platz. Aber es ist ganz | |
explizit ein Haus der Nachbarschaft, wo alle Menschen zusammenkommen | |
können. | |
Wer engagiert sich dort? | |
Viele der früheren Freiwilligen aus dem Rathaus, die weiter aktiv sein | |
wollen. Ehrenamt braucht Räume. Diesen Raum hat uns der Bezirk jetzt | |
gegeben, und ich finde, wir bräuchten viel mehr Räume für Initiativen in | |
Berlin. Wir werden das auch nicht allein machen, sondern die Plattform | |
bieten. Mit zwei Organisationen planen wir ein Projekt zu Antisemitismus, | |
der 1. FC Wilmersdorf und die benachbarte Auenkirche sind enge Partner. | |
Wie weit sind Sie dort eingebunden und wie schaffen Sie das neben Ihrem | |
Beruf? | |
Ich bin Vorsitzender vom Verein und werde das, was ich die letzten zwei | |
Jahre gemacht habe, weitermachen. Ich werde weiterhin keine Freizeit haben. | |
Aber es macht ja auch Spaß. Es ist eine riesige Herausforderung, aber auch | |
ein Kompliment an uns, dass wir so ein großes Projekt übertragen bekommen. | |
Freiwillige haben Geflüchtete erst mit Notversorgung unterstützt, dann zu | |
Behörden begleitet. Welche Bedürfnisse haben die Menschen, die nun schon | |
zwei Jahre hier leben? | |
Die Bedürfnisse sind andere, wir sprechen von Phasen der Integration. Jetzt | |
haben wir Sachen wie Verschuldung, weil man in Deutschland sehr schnell | |
Verträge unterschreiben kann, und wir dann dabei helfen, diese Verträge | |
wieder aufzulösen. Beim Kauf einer Waschmaschine gibt es etwa 100 Euro | |
Rabatt und dazu einen 24-monatigen Stromvertrag. | |
Huch? | |
Ja, so habe ich auch geguckt. Dann hat jemand plötzlich drei Stromverträge. | |
Trotz der drei Stromverträge – irgendwann wird Hilfe überflüssig, oder? | |
Ja, das Ziel ist Gleichberechtigung und Unabhängigkeit. Eine ehemalige | |
Bewohnerin sagte mir, dass sie richtig angekommen sei, als sie das erste | |
Mal Steuern gezahlt hat. Viele arbeiten jetzt oder haben Ausbildungen. Was | |
wir aber immer mehr merken, ist, dass der Begriff „Flüchtling“ ein | |
Schimpfwort auf den Schulhöfen wird. Auf der einen Seite „Du Jude“ und „… | |
Schwuchtel“, aber eben auch „Du Flüchtling, geh zurück!“. Wir haben den | |
Kampf gegen Antisemitismus, der auch Geflüchtete aus den arabischen Ländern | |
betrifft, und gleichzeitig die Frage, wie wir junge Menschen dafür | |
sensibilisieren können, warum jemand hergekommen ist. Das wird eine große | |
Aufgabe. Vor zwei Jahren haben wir es mit der großen Hilfsbereitschaft | |
geschafft, das anders zu besetzen, inzwischen merke ich, wie eine neue | |
Antiflüchtlingsstimmung entsteht. Wir haben also weiterhin genug zu tun. | |
4 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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