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# taz.de -- Entschleunigung auf der Berlinale: „Das Nichtstun ist ein großes…
> Von der Schönheit der Zeitverschwendung und der Kritik an Normen: Ein
> Gespräch mit dem Filmemacher Julian Pörksen auf der Berlinale.
Bild: Julian Pörksen beschäftigt sich gerne mit dysfunktionalen Figuren
Ein Mann steigt auf dem morgendlichen Weg in den Alltag von seinem Fahrrad
herunter und driftet von da ab als Fußgänger, Hitchhiker, Schnorrer und
seltsamer Gast in lauter sanfte verschmitzte Abenteuer. Julian Pörksens
Film „Whatever happens next“ (nach einer Zeile von John Cage) feiert in
der Perspektive Deutsches Kino Premiere. Zu unserem Gespräch im Berlinale
Hotspot Stadtklause, in der es mitunter ziemlich laut wird, ist er aus Köln
angereist, wo er als Theaterdramaturg arbeitet. Er nimmt sich Zeit, über
die Chancen nachzudenken, die in der höflichen Verweigerung gängiger
Leistungsnormen liegen.
taz: Herr Pörksen, Paul Zeise (Sebastian Rudolph), der Aussteiger Ihres
Films, verliert sein letztes Geld, seinen Stoffbeutel und einmal sogar
seine Hose. Haben Sie sich diesen Unbehausten als glücklichen Menschen
vorgestellt?
Julian Pörsken: Diese Frage zieht sich durch den Film. Ich habe sie für
mich selbst nie beantworten wollen, sondern versucht, so zu erzählen, dass
man sie aus dem Kino mitnimmt. Jemand, der in größter Autonomie und
Freiheit durch die Welt geht, dabei mehr erlebt als andere Menschen, indem
er immer wieder Teil von fremden Biografien wird und dann wieder
verschwindet, der ist natürlich hochgradig ambivalent. Ich könnte keine
eindeutige Antwort auf die Frage geben.
Pauls Geschichte lebt von der Vorstellung, dass Menschen wohlmeinend
miteinander kommunizieren. Ist die optimistische Grundhaltung ein
dramaturgischer Kniff oder glauben Sie daran?
Außer einem Kniff ist es auch der Versuch, eine Figur zu erzählen, die sich
auf die Welt anders einlassen kann. Paul liefert sich mit einer größeren
Neugier und Offenheit dem aus, was auf ihn zukommt, und nimmt erst mal an,
was ihm geboten wird. Er pickt sich nicht die Rosinen heraus, sondern
beweist einmal zum Beispiel einem Komapatienten gegenüber eine merkwürdige
Treue, indem er ihn in den Tod begleitet. Obwohl er ihn nicht kennt und nie
mit ihm gesprochen hat, versucht er, in ein stummes Gespräch mit ihm zu
kommen.
Ihre Hauptfigur Paul hat mich an Pier Paolo Pasolinis Film „Teorema“
erinnert. Da löst ein Fremder wie ein transzendenter Passagier
unausgesprochene Sehnsüchte in den anderen aus.
An einen Engel haben wir nicht gedacht, aber es entstand bei den
Schauspielern und mir die Frage, was für ein Film das eigentlich ist, weder
ein realistischer Film noch ein reines Märchen. Man befindet sich
dazwischen. Der Typ hat ja unglaubliches Glück, es geschieht ihm viel
Gutes. Zumindest am Anfang ist er sehr im Fluss, auf der Höhe seiner Kunst,
wenn es denn eine Kunst ist, wie er durch die Welt geht. Vielleicht geht es
um magischen Realismus, wie man ihn bei lateinamerikanischen Autoren kennt.
Wir wollten eine Figur erschaffen, die Fragen nach dem Sinn des Ganzen
provoziert und zugleich eine Öffnung für die Geschichten ermöglicht, die er
erlebt. Er steigt aus der Realität aus und gehört dann seiner eigenen an.
Mich hat das an die wunderbare Figur des Taugenichts von Eichendorff
erinnert.
Ihr Held hat scheinbar kein Gedächtnis und keine Geschichte. Es gibt einen
Detektiv und die verlassene Ehefrau von Paul, die Fragmente davon erzählen.
Paul ist unbelastet und vollkommen sorglos, ihn interessiert nicht, wer er
war, nur der Augenblick der Begegnung mit der jeweils anderen Person. Aber
man spürt, dass er die Vergangenheit mit seiner Frau nicht ganz ablegen
kann.
Ist Ihr Film die Fortsetzung Ihres Buchs „Verschwende deine Zeit“?
Unbedingt. Mein erster Film ,„Sometimes we sit and think and sometimes we
just sit“, handelte von einem 50-Jährigen, der freiwillig in ein Altenheim
zieht, ein radikaler Aussteiger, der sich ganz der Passivität verschreibt.
Ich interessiere mich schon länger dafür, wie jemand aufhören will zu
funktionieren und nicht mehr teilhaben will an einer Lebensweise, die mit
Konsum, Leistung, Erfolg und einer sinnleeren Idee des Fortkommens zu tun
hat. Ich habe mich mit freiwillig dysfunktionalen Figuren beschäftigt. Der
passive Mann in meinem ersten Film macht alle verrückt und löst dadurch
eine unglaubliche Betriebsamkeit aus. Seine Untätigkeit versuchen die
anderen immer zu kompensieren. Das Nichtstun ist ein großes Tabu. Mein Buch
war ein Essay über Zeitverschwendung und die verschiedenen Modi, die Zeit
unproduktiv zu nutzen. Da liegt eine große Schönheit verborgen.
Ist das Ihre Vision oder ist es ironisch gemeint?
Das Buch wurde als Ratgeber missverstanden, aber es formuliert Kritik an
den Normen, die uns stark in unserer Vorstellung darüber bestimmen, was ein
gutes Leben ist. Ich versuche, ein paar Modi der Unterbrechung zu
entwickeln, mit denen man sanft aus dem Gewohnten aussteigen kann. Der
Flaneur zum Beispiel ist für meinen neuen Film wichtig als einer, der sich
sozusagen ins Gehen verliert und nicht mehr fragt, ob die Erfahrung nützt.
Das Gehen an sich ist in „Whatever happens next“ wichtig.
Reisen oder die Seele baumeln lassen sind gängige Ratschläge. Was
unterscheidet Ihre Haltung?
Yoga, Seminare und Ratgeber haben das Ziel, letztlich die Produktivität zu
steigern. Die Auszeit dient der Regeneration für den Wiedereinstieg. Ich
versuche, Momente zu beschreiben, in denen sich jemand tatsächlich von der
Norm abwendet und aufbricht.
Sie führen einen von der Ehefrau engagierten Privatdetektiv ein, auch ein
Loner, eigentlich eine Spiegel-Figur zu Paul.
Ich habe überlegt, wie ich eine Geschichte über jemand, der kein Ziel hat,
erzählen kann. Alles ist möglich, weil man mit der Figur in jede Situation
hineinkommt. Die Willkür darin wollte ich durch eine Figur abfedern, die
versucht zu verstehen und an- und abgestoßen ist von dem Aussteiger. Der
Privatdetektiv erliegt Paul ein Stück weit, aber auch dessen Frau. Da
entsteht parallel eine komische Doppelbewegung.
Wie kann ein Privatdetektiv einen Mann finden, der kein Handy und keine
Kreditkarte benutzt?
Wenn mein Film von der Poesie des Zufalls handelt, muss ich auch eine große
Zufallskonstruktion herstellen, die den Moment der Begegnung absurd
herstellt. Das war die Kiel-Situation. Erst unterhält er sich mit jemand
über die Stadt Kiel, von der behauptet wird, es sei die furchtbarste Stadt,
die es gibt. Das erzählt jemand dem Detektiv, während Paul eine Frau
trifft, die ausgerechnet nach Kiel will und ihn mitnimmt.
Sie zeigen die erotischen Annäherungen sehr dezent.
Ich bin ein großer Fan von Höflichkeit und Freundlichkeit. Eine heitere
Figur wie Paul ist im Zweifel viel radikaler und herausfordernder als ein
Punk, der sich wütend artikuliert. Bei erotischen Szenen langweilt es mich,
wenn sie sofort lesbar sind. Das Kino kann alles zeigen, ist aber besonders
schön, wenn es andeutet.
Warum verschlägt es Ihren Helden ausgerechnet nach Polen?
Die Reise sollte ihn in ein Land bringen, dessen Sprache er nicht spricht.
Der Topos des Aussteigers ist in Deutschland seit der Romantik mit Italien
verbunden. Die Frage war, welches Land ihn herausfordern würde. Da wir in
Ostdeutschland gedreht haben, lag Polen nah.
Sie erzählen mit viel Sinn für Entschleunigung.
Ja, denn die Geschichte beschreibt die Schönheit von Nuancen, die man nicht
wahrnimmt, wenn man von Plotpoint zu Plotpoint strampelt. Der Film
etabliert einen anderen Modus der Wahrnehmung. Wir zeigen eine banale
Unterbrechung, wenn Paul morgens vom Weg abweicht, vom Fahrrad steigt und
geht. Erst später erschließt sich, dass der kleine Akt eine große
Weichenstellung war.
21 Feb 2018
## AUTOREN
Claudia Lenssen
## TAGS
Schwerpunkt Berlinale
Tunix-Kongress
Normen
Perspektive Deutsches Kino
Entschleunigung
Uber
Neu im Kino
Spielfilm
Dokumentarfilm
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