# taz.de -- Stiftung fürs Lesen in Bogotá: Kolumbiens Herr der Bücher | |
> José Alberto Gutiérrez ist von Beruf Müllmann. Seine Leidenschaft aber | |
> gilt den Büchern. In Bogotá fischt er sie aus dem Müll. | |
Bild: José Alberto Gutiérrez vor seinen Schätzchen, den Büchern | |
Bogotá taz | Die dunkelblaue Weste mit dem aufgestickten Schriftzug „Fuerza | |
de Las Palabras“ hängt in dem schmalen Flur an der Garderobe. José Alberto | |
Gutiérrez legt sein Schlüsselbund auf die Kommode, die darunter steht, und | |
weist den Weg in das kleine, von Bücherregalen gesäumte Wohnzimmer, wo ein | |
paar Kisten stehen. Eng ist es, und der 54-jährige stämmige Mann zuckt | |
entschuldigend mit den Schultern: „Wir kommen mit dem Registrieren der | |
Bücher kaum hinterher. Unsere Stiftung ist nun mal meine Familie“, sagt | |
Gutiérrez. | |
Fuerza de la Palabra, die Kraft des Wortes, heißt die kleine Stiftung, die | |
der Mann mit dem buschigen Schnauzer und der hohen Stirn vor rund zehn | |
Jahren gegründet hat. „Unser Ziel ist es, dort Bibliotheken aufzubauen, wo | |
sie gebraucht werden, in den ärmeren Vierteln der Stadt. Wir liefern dafür | |
die Bücher“, sagt er. | |
Gutiérrez ist von Beruf Müllmann. Die grüne Jacke mit dem Logo des | |
städtischen Unternehmens Aguas de Bogotá hängt gleich neben der blauen | |
Weste an der Garderobe. Die grüne Arbeitshose und das gleichfarbige T-Shirt | |
des Unternehmens hat Gutiérrez schon an, denn es dämmert bereits und gegen | |
21 Uhr muss er sich auf den Weg zur Arbeit machen. „Ab 22 Uhr sitze ich am | |
Steuer eines Lkw und fahre durch die Straßen, wo die Kollegen den Abfall | |
einsammeln.“ | |
## 30.000 Bücher zu Hause | |
Seit gut 25 Jahren ist das sein Job, und zu den Büchern ist er letztlich | |
durch seine Mutter gekommen. Die lebt nur ein paar Straßen entfernt von dem | |
kleinen zweistöckigen Haus in La Nueva Gloria, einem Stadtteil im Süden | |
Bogotás, und hat ihrem Kind abends immer Gedichte oder Kurzgeschichten | |
vorgelesen. „Das hat mir eine neue Welt eröffnet. Über die Bücher habe ich | |
etwas von der Welt kennengelernt, habe Spaß am Lesen gefunden“, erinnert | |
sich der Familienvater. Der hat seine Begeisterung für alles Gedruckte an | |
seine drei Kinder weitergegeben und irgendwann dann auch an die Kinder und | |
Jugendlichen aus dem umliegenden Straßen in La Nueva Gloria. Ein typisches | |
Arbeiterviertel, wo die Eltern entweder alleinerziehend oder beide | |
berufstätig sind. Für die Kinder bleibt kaum Zeit. | |
„Viele hängen vor dem Fernseher oder am Smartphone“, schildert Gutiérrez | |
die Verhältnisse. Lesen bleibt folgerichtig auf der Strecke, und das in | |
einem Land, das mit Gabriel García Márquez, Álvaro Mutis oder dem derzeit | |
hochgelobten Juan Gabriel Vásquez Schriftsteller von internationalem Rang | |
vorzuweisen hat. Das passt Gutiérrez ganz und gar nicht und so hat er im | |
Erdgeschoss seines kleinen zweistöckigen Hauses in der Straße 47 A eine | |
Bibliothek eingerichtet. | |
„Alles begann mit ‚Anna Karenina‘ von Leo Tolstoi. Das war mein erstes | |
Buch, das ich vor etwa zwanzig Jahren aus dem Müll klaubte. Ich traute | |
meinen Augen nicht, denn das Buch war unbeschädigt. Wer weiß, vielleicht | |
sogar ungelesen – ein Frevel.“ Damals kaufte Gutiérrez seine Bücher noch | |
auf dem Flohmarkt in der Einkaufsmeile „Séptima“ im Zentrum von Bogotá und | |
wäre nie auf die Idee gekommen, ein Buch in den Müll zu werfen. | |
Fortan schärfte er seinen Kollegen ein, alles gut erhaltene Gedruckte aus | |
dem Müll der Hauptstadt zu fischen. Seitdem erklingt immer wieder der Ruf | |
„Don José, libros“, wenn er am Lenkrad des Lkw mit der grün-weißen | |
Lackierung von Aguas de Bogotá sitzt. Dann klettert er entweder aus der | |
Fahrerkabine und inspiziert, was die Kollegen gefunden haben, oder sie | |
reichen es ihm gleich. Ein Grund, weshalb sich im Erdgeschoss seines | |
kleinen Hauses die Bücher nur so stapeln, der andere ist, dass Gutiérrez | |
als „Señor de los Libros“, als Herr der Bücher, landesweit bekannt geword… | |
ist und immer öfter Leute zu ihm kommen, um ihm Bücher zu überlassen. „Wir | |
haben rund 30.000 Bücher hier unten, zum Teil einfach nur aufgestapelt, | |
denn Platz ist knapp.“ | |
Das soll sich bald wieder ändern. Hin und wieder fährt Gutiérrez mit einem | |
von einem japanischen Autoproduzenten zur Verfügung gestellten Kleinbus in | |
Kleinstädte und kleine Dörfer, um kommunale Bibliotheken aufzubauen oder | |
deren Bestand zu ergänzen. „Das hilft im Kleinen. Doch das Problem ist | |
strukturell. Zum einen wird zu wenig in die Bildung investiert, zum anderen | |
trauen sich längst nicht alle in die Bibliotheken“, klagt Gutiérrez. | |
So gibt es in Bogotá zwar 19 öffentliche Bibliotheken, die wie die Virgilio | |
Barco im Zentrum Bogotás zwar toll ausgestattet sind, sich aber weit | |
entfernt von den ärmeren Stadtvierteln befinden. Zudem liegt die Virgilio | |
Barco im Ausgeh- und Restaurantviertel Chapinero, wo fein gespeist wird. | |
Was fehlt, so Gutiérrez, sind Bibliotheken in den ärmeren Stadtteilen. | |
Idealerweise wären sie auch gleich ausgestattet mit pädagogischen | |
Mitarbeitern, die mit Kindern und Jugendlichen lesen, Interessen wecken und | |
sie motivieren. | |
## 400 Bibliotheken beliefert | |
Genau so hat die Familie Gutiérrez angefangen. Die jüngste Tochter, eine | |
angehende Ingenieurin, hat den Kindern aus dem Stadtviertel an der derzeit | |
hinter Bücherstapeln verborgenen Tafel Nachhilfe gegeben, während | |
Gutiérrez selbst anderen Kindern im Nachbarraum vorlas. Es gab auch | |
Zeiten, in denen Freiwillige, zum Teil sogar aus dem Ausland, für die | |
Familienstiftung arbeiteten. Das soll zukünftig wieder so sein, denn | |
Gutiérrez träumt davon, in der Nachbarschaft ein Kulturzentrum zu | |
errichten, wo Bücher und Lesen im Mittelpunkt stehen. „Mit einer Werkstatt, | |
wo Bücher repariert werden, mit einer Bibliothek mit Räumen zum Vorlesen | |
und Platz für kleine Konferenzen und Seminare.“ Sein Konzept will er dieses | |
Jahr in Wien auf einer internationalen Konferenz der Bibliothekare | |
vorstellen und um Mittel bitten, denn bisher hat Kolumbiens „Herr der | |
Bücher“ keinerlei öffentliche Unterstützung erhalten. | |
„Die Politik drückt sich darum, sich mit Projekten von unten | |
auseinanderzusetzen. Es gibt nur wenige Politiker in Kolumbien, die einen | |
sozialpolitischen Ansatz verfolgen“, ärgert sich der Mann, der erst im | |
Sommer letzten Jahr sein Abitur nachgeholt hat. Mehr als zwei Klassen an | |
der Grundschule hatte Gutiérrez als Kind nicht absolviert. Früh musste er | |
zum Familieneinkommen beitragen. Alltag in Kolumbien. | |
Ungewöhnlich ist jedoch das langjährige Engagement des Bücherfans. Der | |
beliefert die durch seine Initiative entstandenen Stadtteilbibliotheken mit | |
dem Kleinbus. Rund 400 kommunalen Bibliotheken und Kulturzentren hat er | |
bisher Bücher vermacht. „Selbst in der Region von Aracataca, wo Gabriel | |
García Márquez geboren wurde, waren wir, weil es auch dort keine Bücher für | |
den Nachwuchs gab“, erklärt Gutiérrez. Das ist über achthundert Kilometer | |
von Bogotá entfernt. | |
Dann klingelt das Telefon, und Gutiérrez geht kurz vor die Haustür, um in | |
Ruhe zu sprechen. Wenig später tritt er mit einem breiten Grinsen wieder in | |
die überfüllte Bibliothek. „Wir haben eine kleine Spende für Benzin | |
erhalten. Nun können wir mit dem Bus die längst geplante Tour nach Cañón | |
del Combeima bei Ibagué machen“ freut er sich. | |
Der kleine Ort liegt rund 250 Kilometer südlich von Bogotá, und auf dem Weg | |
will der „Señor de los Libros“ noch ein paar andere Dörfer ansteuern, um | |
auch dort Bücher aus seiner rollenden Bibliothek zu verteilen. | |
23 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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