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# taz.de -- SPD-Politikerin Andrea Nahles: Die Boxerin
> Die SPD beweist dieser Tage wieder ihr Talent zur Selbstzerfleischung.
> Wird es Andrea Nahles gelingen, die Partei aus der Krise zu führen?
Bild: Die Hoffnung der Sozialdemokratie: Andrea Nahles
Sie wiegt sich in den Schultern wie eine Boxerin im Ring. Sie hebt die
Stimme, brüllt, trommelt mit beiden Händen auf das Redepult, sodass es
wackelt. Sie klopft sich heftig auf die Brust, links, da, wo das Herz
schlägt. Sie macht sich breit, füllt den Raum, lehnt sich aufs Pult und
starrt mit grimmigen Augen über das Mikrofon in den Saal. Andrea Nahles
gehört zu den Menschen, die mit ihrem Körper Macht demonstrieren. Die will
was, nämlich nach ganz oben.
Sieben Minuten, pure Energie. Mit ihrer Rede rettet sie im Januar auf dem
SPD-Parteitag die Große Koalition. Manchmal erinnert Nahles an Herbert
Wehner, den legendären Zuchtmeister der SPD-Fraktion in den 70ern.
Nahles argumentiert so schneidend wie Wehner, sie strahlt seine unbedingte
Entschiedenheit aus und, ja, auch seine Brutalität. Nach dem Auftritt
witzelt ein Satire-Portal, die Delegierten hätten aus purer Angst für die
Koalition gestimmt. Ja, da könnte was dran sein.
Andrea Nahles, 47, ist nun, kurz gesagt, die Hoffnung der Sozialdemokratie.
Die SPD, die gerade wieder ihr Talent zur Selbstzerfleischung demonstriert:
Erst sägt Martin Schulz Sigmar Gabriel ab, [1][dann verzichtet er zwei Tage
später überraschend doch aufs Außenministerium]. Diese Partei wird schon
bald von Nahles geführt werden. Vielleicht kämpft sie 2021 ums Kanzleramt.
Dabei ist sie zweifellos beides, ein Signal für eine Erneuerung, denn
schließlich stand noch nie eine Frau an der Spitze in der 154-jährigen
Geschichte der Sozialdemokratie, aber ein Apparatschik ist sie auch. Kaum
jemand steckt so tief drin in den Verästelungen der Partei wie sie. Kann
Nahles die SPD retten?
Die Aufgaben der künftigen Vorsitzenden sind groß. Nahles, Katholikin,
geboren in der Eifel, der Vater Maurermeister, die Mutter
Finanzangestellte, muss eine Antwort auf die Dauerkrise der
Nicht-mehr-Volkspartei finden. Sie muss eine stimmige Politik für
zersplitterte Wählermilieus mit unterschiedlichsten Interessen erfinden.
Und, nicht zuletzt, die ermattete SPD profilieren – gegen die
Hauptkonkurrentin, Merkels mittige CDU. Nahles muss Boxerin sein, aber auch
die Ärztin, die sorgfältig eine Therapie plant.
## Sie überlegt und sagt dann zu
Wie schwierig das ist, ist Nahles sehr bewusst. Sie hat den Delegierten in
Bonn ins Gesicht gesagt, dass die SPD keine Antworten auf wichtige
Zukunftsfragen habe. Diese Diagnose stimmt schon mal. Als Martin Schulz,
der Gescheiterte, sie nach dem Parteitag fragt, ob sie den Vorsitz
übernehmen wolle, muss sie erst überlegen. Da ist die Verantwortung, die
Größe der Aufgabe und ihre Tochter Ella Maria, sieben Jahre alt. Dann sagte
sie zu.
Mittwochabend, das Foyer der Berliner SPD-Zentrale: Nahles lächelt, neben
ihr Schulz und der bronzene Willy Brandt, der bedächtig die Hand habt. Es
ist Nahles’ großer Moment, Schulz verkündet seinen Rückzug. Er lobt sie,
sagt, sie sei die richtige Person, um die SPD zu erneuern. Nahles lobt
zurück, das muss sie tun. Sie werde mit Schulz gemeinsam für die Koalition
werben, er seit bestens geeignet für den Außenministerposten – ja, zu dem
Zeitpunkt klammerte er sich noch an den Posten. Die Aufgabe sei, als Team
zu agieren. „Das soll der Stil sein.“ Ein Journalist fragt, was sie besser
könne als Schulz? „Stricken.“ Nahles grinst.
Nahles haut gerne mal einen blöden Spruch raus. „Auf die Fresse“,
„Bätschi“, das Pippi-Langstrumpf-Lied im Parlament, solche Sachen. Sie ist
in manchen Momenten so echt und unverstellt, wie man es selten bei
Politikern findet. 2012, nach der gewonnenen Wahl in Nordrhein-Westfalen,
hüpft sie wie ein Flummi auf einem Flur des Willy-Brandt-Hauses herum.
Reißt die Arme hoch, ballt die Fäuste. Nahles kann sich sehr ehrlich
freuen.
Doch von der derben Rhetorik darf man sich nicht täuschen lassen. Nahles
wird den Vorsitz viel professioneller managen als Schulz, der die SPD nun
von seinem erratischen Wirken erlöst. Nahles achtet sehr genau darauf, was
sie sagt. Auf Absprachen mit ihr könne man sich verlassen, heißt es sogar
in der Union. In ihrem ersten Fernsehinterview als designierte Chefin
argumentiert sie gelassen, freundlich, staatsfraulich – und ehrlich. Ihr
größter Fehler? „Dass ich einmal, ja, einen Parteivorsitzenden gestürzt
habe – unbeabsichtigt.“
2005 war das, nach der Abwahl der Schröder-Regierung. Nahles kandidiert
gegen den Willen von Parteichef Franz Müntefering für das Amt der
Generalsekretärin. Sie sieht es nicht ein, den Männern den Vortritt zu
lassen. Im Parteivorstand setzt sie sich gegen Münteferings Kandidaten Kajo
Wasserhövel durch – und stürzt die SPD in eine tiefe Krise. Der gekränkte
Müntefering tritt zurück. Innerhalb weniger Stunden mutiert die
Hoffnungsträgerin der SPD-Linken, die die Hartz-Gesetze kritisiert hat, von
der Hoffnungsträgerin zum Sündenbock.
## Patriarchale Reflexe
Nahles hat gelernt, ihren Ehrgeiz und ihre Ungeduld zu beherrschen. Ihr
hing ja lange das Image der schrillen, nicht ganz ernst zu nehmenden
Parteilinken an. Aber solche Schablonen sagen mehr über patriarchale
Reflexe als über Nahles. Nach ihrer Bonner Rede staunt die Bild-Zeitung
über den „einzigen echten Kerl“ in der SPD. Eine erste Lehre, die man aus
der Nahles-Story ziehen kann, ist diese: Wenn eine Frau sich männlich
konnotierte Machtgesten traut, führt das auch im Jahr 2018 noch zu
erheblichen Irritationen. Eine zweite: Frauen werden länger und
hartnäckiger unterschätzt als Männer.
Denn Nahles arbeitet früh und konsequent an ihrem Aufstieg. Als
Juso-Vorsitzende, da noch mit wilden Locken und ovalen Brillengläsern,
brüllt sie 1997, die „Neoliberalen in der SPD von Clement bis Schröder“
müssten politisch kaltgestellt werden. Aber sie legt in diesen Jahren
gleichzeitig das Fundament für ihre Karriere – und sammelt Kontakte. Nahles
ist in der Partei bestens vernetzt, hält Tuchfühlung zu GenossInnen ihrer
Alterskohorte, die in Landesverbänden und wichtigen SPD-Bezirken
aufstiegen. Nahles, sagen Sozialdemokraten, kenne die Partei besser als
ihre Vorgänger Schulz oder Gabriel. Respekt schimmert da durch. Und ein
bisschen Angst.
Wichtig wird in der SPD in Zukunft die Achse Nahles/Scholz sein. Nahles
harmoniert mit dem staubtrockenen Hamburger, der als Finanzminister und
Vizekanzler gehandelt wird. Beide sahen Schulz’ Kurs skeptisch, scheuten
aber vor dem offenen Machtkampf zurück. Das Schwielowsee-Trauma der SPD
wirkt noch, damals putschten wichtige Genossen den glücklosen Chef Kurt
Beck aus dem Amt.
Nun ist ein gesichtswahrender Deal gefunden: Schulz hat – zumindest nach
außen hin – [2][den Stab selbst an Nahles übergeben]. Ihr nutzt es, loyal
geblieben zu sein. Königsmörderinnen, das weiß sie, sind unbeliebt.
## In der CDU schätzen sie die Profis
Nahles und Scholz durchdringen Themen bis ins Detail. Nahles leitet zum
Beispiel ab 2004 die SPD-interne Arbeitsgruppe zur Bürgerversicherung. Sie
schmiedet das Brecheisen, mit dem die SPD seit Jahren (und bisher
erfolglos) die Zwei-Klassen-Medizin aushebeln will. Sie arbeitet sich nach
dem Müntefering-Debakel in der Bundestagsfraktion hoch, wird Fraktionsvize,
Schwerpunkt Arbeit und Soziales, dann ab 2009 Generalsekretärin. Dienen
unter Gabriel, das muss die Hölle gewesen sein. Aber Nahles erträgt die
Launen ihres Chefs und bügelt intern so manchen seiner Ausrutscher aus.
Wie strategisch, hartnäckig und zielstrebig Nahles sein kann, beweist sie
als Arbeitsministerin der vorherigen Großen Koalition. Sie setzt fast alle
Glanzprojekte der SPD durch, die Rente mit 63, den Mindestlohn, ein Gesetz
gegen den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen. Selbst Unionsleute
sprachen anerkennend von Nahles’ klug getakteter Agenda – in der CDU
schätzen sie Profis. Mit ihrem Fraktionschef-Kollegen Volker Kauder
versteht sie sich gut, im Bundestag sieht man immer wieder, wie sie die
Köpfe zusammenstecken, tuscheln, lachen. Was die ehemalige SPD-Linke und
Kauder verbindet, ist der christliche Glaube. Als Kind, in der Eifel, war
Nahles Messdienerin und Mitglied einer ökumenischen Jugendgruppe. Beides,
sagt sie, prägte ihren Wertekodex.
Nahles agiert ab jetzt in einer interessanten Ambivalenz. Als
Fraktionschefin organisiert sie die Regierungsgeschäfte mit, als
Parteichefin muss sie diese Logik brechen und die SPD maximal profilieren.
Nahles sieht sich selbst auch als Signal an die Koalitionsskeptiker in der
Partei. Im Foyer neben der Willy-Brandt-Statue wird sie gefragt, ob in der
SPD nicht mal wieder die Postendebatte die Inhalte überlagere. Es gehe
schon um beides, antwortet Nahles. Darum, was Erneuerung heiße – und um das
„Nicht weiter so“. Dafür brauche es einen Ort mit großer
Durchsetzungsstärke. Der Ort ist sie selbst.
Etwas verquast klingt das, aber es ist wahr: Nahles muss die Partei neu
erfinden. Sie, die gefühlt ewig dabei ist, muss das „Weiter so“ verhindern.
Ob ihr diese Ambivalenz gelingt, ist offen. Sie muss mit der Logik brechen,
die sie jahrzehntelang inhaliert hat. Aber, das sagen viele SPDler: Es gibt
in der Partei im Moment niemanden, der es besser könnte.
10 Feb 2018
## LINKS
[1] /Kommentar-Verzicht-von-Martin-Schulz/!5483608
[2] /Nahles-wird-neue-Parteichefin/!5483227
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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