# taz.de -- Deniz Yücel seit einem Jahr in Haft: Wir zählen die Tage rückwä… | |
> Wie waren die letzten zwölf Monate für Deniz Yücels Freunde und | |
> Unterstützer? Und wie ist es, in dieser Situation ein Buch mit ihm | |
> herauszugeben? | |
Bild: Eine von zahlreichen Aktionen der letzten 365 Tage: Auf dem Dach der taz … | |
Das Buch eines Autors herauszugeben, der im Gefängnis sitzt, ist nicht frei | |
von Komik. Schon gar nicht, wenn man es mit einem Autor zu tun hat, der | |
über die Frage, ob in diesem oder jenem Satz Semikolon, Klammer oder | |
Gedankenstrich zu setzen sei, genauso intensiv diskutieren will, wie | |
darüber, ob es angemessener ist, von einer „Spaltung“ oder einer „Trennu… | |
der Gesellschaft zu schreiben. | |
Was unter normalen Umständen normal wäre, wird bizarr, wenn man den Autor | |
weder sehen noch mit ihm telefonieren oder mailen kann und er auch keinen | |
Zugang zu einem Briefkasten hat. Für die „Diskussion“ über Auswahl und | |
Änderungen der Texte für sein Buch müssen Autor wie Herausgeberin und | |
Verlag darauf warten, dass ein Anwalt den Autor besuchen kann. Denn nur | |
dieser kann dem Inhaftierten Unterlagen zeigen und Anmerkungen | |
entgegennehmen und sie zurückübermitteln. | |
„Doppeltes Leerzeichen auf Seite 183, 3. Absatz“, lautete eine wochenlang | |
wiederholte, weiter nicht kommentierte Notiz des Autors unter den hunderten | |
Notizen. Ein Detail, was nicht weiter der Erwähnung wert wäre, säße der | |
Autor nicht in Einzelhaft in einem Hochsicherheitsgefängnis und wäre es | |
nicht mindestens so aufwendig, diese Mitteilung an den Empfänger zu bringen | |
wie ein Gabelflug von Istanbul zu den Galapagos-Inseln. | |
Man hätte denken können, das doppelte Leerzeichen habe der Inhaftierte | |
hinter all den drängenderen Sorgen längst vergessen. Ein Detail, was mich | |
irre machte, denn ich fand einfach kein doppeltes Leerzeichen auf Seite | |
183, 3. Absatz. Die Absatzangabe stimmte offenbar nicht. Es musste aber | |
irgendwo ein Leerzeichen zu viel sein, denn der Autor ist ein großer Pedant | |
und keine noch so kleine Ungenauigkeit entgeht ihm, auch nicht der | |
türkische Punkt auf dem großen I in Istanbul oder Ilkay. | |
Ich verfluchte den Autor und seine Pedanterie und dass ich meine Zeit mit | |
der Suche nach einem doppelten Leerzeichen verschwendete, anstatt mich | |
darauf zu konzentrieren, wie ich ihm meine Argumente für diesen und jenen | |
Text so kurz und pointiert wie möglich darlegen könnte. Denn die | |
„Diskussion“ über einen in das Buch aufzunehmenden Text wollte ich pro | |
Mitteilung auch nicht länger als nötig machen. Längere Ausführungen hätten | |
– ich kenne den Autor gut – die Debatte über die Auswahl nur verlängert. | |
## Auf alle Fälle vorbereitet | |
Oft lautete eine seiner Anmerkungen: „Bitte hierzu Änderungen aus den 400 | |
eingeben“. Mit den 400 meinte er den aus über 400 handgeschriebenen Seiten | |
bestehenden Anmerkungsapparat, den er seinen Anwälten mitgegeben hatte, als | |
wir das Buchprojekt begannen. Hier waren allerlei Informationen und | |
Diskussionspunkte versammelt, was Vorauswahl der Texte, | |
Überschriftenvarianten und andere im Verlauf der Produktion möglicherweise | |
auftauchenden Fragen betraf. Selbst für den Fall, dass die türkische | |
Regierung einen Uniformzwang für politische Gefangene einführen würde, | |
hatte der Autor Ideen, wie es dann mit der Erstellung des Buchs weitergehen | |
könnte. | |
Warum ich dennoch nicht verzweifelte, wenn ich diese elende doppelte | |
Leerzeichen oder eine kurze Anmerkung in den 400 Seiten nicht fand, auf die | |
er mich immer wieder kommentarlos in seinen Anmerkungen hinwies, lag allein | |
daran, dass ich wusste, dass der Autor mit derselben Pedanterie, mit der er | |
formale Fragen behandelte, auch die inhaltlichen Fragen seiner Texte | |
behandelt hatte. | |
Auf die Idee für das Buch kam er, weil er gehört hatte, dass bei den | |
Lesungen seiner Texte, die der Freundeskreis #FreeDeniz in Zusammenarbeit | |
mit dem Festsaal Berlin, dem Schauspiel Frankfurt, den Münchner | |
Kammerspielen, dem Uebel&Gefährlich in Hamburg und dem WDR in Köln das Jahr | |
über organisiert hatte, Hunderte nicht reinkamen. Dann sollen sie seine | |
Texte wenigstens in Buchform nachlesen können. Schließlich waren es seine | |
Texte, die – wenigstens sieht es die türkische Justiz so – ihn in diese | |
Situation gebracht hatten. | |
Als Deniz am 14. Februar 2017 auf das Polizeipräsidium in Istanbul ging, um | |
zu erfahren, warum gegen ihn ermittelt werde, wusste man dort zunächst von | |
nichts. Man hielt ihn vorsichtshalber trotzdem in Gewahrsam. Zwei Wochen | |
später erfuhr der Journalist während einer Anhörung durch den Staatsanwalt, | |
dass ihm einige seiner veröffentlichten Korrespondentenberichte als | |
„Terrorpropaganda“ und „Volksverhetzung“ ausgelegt wurden, weswegen der | |
Haftrichter ihn am 27. Februar 2017 in Untersuchungshaft schickte. Seitdem | |
hat Deniz sein Leben in einer Gefängniszelle des | |
Hochsicherheitsgefängnisses von Silivri verbracht. | |
## Journalistenpreise oder Knast | |
Zwei dieser als „Beweise“ der Anklage geltenden Texte sind nun, ein Jahr | |
später, in dem am 14. Februar erscheinenden Buch „Wir sind ja nicht zum | |
Spaß hier“ nachgedruckt: das Interview mit dem Vizechef der PKK ([1][„Ja, | |
es gab interne Hinrichtungen“]) und die Geschichte über den Machtausbau des | |
türkischen Staatspräsidenten („Der Putschist“). In anderen Ländern kriegt | |
man für solche Texte Journalistenpreise. In der aktuellen Türkei kriegt man | |
dafür Knast. | |
Für [2][seine Fußball-WM-Kolumne „Vuvuzela“] wurde Deniz Yücel 2011 der | |
Kurt-Tucholsky-Preis verliehen. Seit er im Gefängnis ist, hat man ihm | |
weitere deutsche Journalistenpreise in Abwesenheit verliehen, darunter den | |
Theodor-Wolff-Preis. Fürs „Dummrumsitzen“, wie der inhaftierte Autor [3][es | |
in seiner unverwechselbaren Offenherzigkeit formulierte]. | |
Das stimmt natürlich nicht ganz. Er hat die Preise zwar auch als Geste der | |
Solidarität erhalten. Aber auch, weil in allen seinen Texten etwas | |
durchschimmert, was niemand übersehen kann: So leidenschaftlich sind sie im | |
Eintreten für Gerechtigkeit, so präzise in der Beschreibung der | |
Widersprüche, die eine klare Trennung von Gut und Böse unterlaufen. Yücels | |
Reportagen, Porträts, Interviews und Analysen aus der Türkei gehören in | |
ihrer Genauigkeit und mit ihrer Perspektive zu den differenziertesten | |
journalistischen Beiträgen über dieses Land, das neben Deniz Hunderte | |
weitere Journalisten, Beamte, Akademiker und Zivilisten unter ähnlich | |
absurden Vorwürfen angeklagt und inhaftiert hat. | |
## Was falsch ist und was komisch | |
Trotzdem sollte dieses Buch von Deniz keines werden, das nur seine Beiträge | |
aus der Türkei versammelt, sondern eine Auswahl seiner Texte aus der Jungle | |
World, der taz und der Welt aus den vergangenen 13 Jahren. Die versammelten | |
Texte sollen zeigen, dass Deniz nicht nur da, wo Ungerechtigkeit und | |
Machtmissbrauch jedem halbwegs Zurechnungsfähigen auffallen, genau | |
beobachtet und präzise beschreibt, was falsch ist und was komisch. Das Buch | |
soll zeigen, dass er diese Fähigkeit auch da nicht vernachlässigt, wo es | |
vergleichsweise harmloser zugeht und wo die vermeintlich Verbündeten | |
sitzen, in Deutschland, bei den Linken, bei den Ökos, bei den Journalisten. | |
Deniz Yücel ist ein Fan. Des Fußballs. Oder des Fisches. Vor allem aber der | |
Menschen. Deswegen ist er so kompromisslos und heftig in seiner | |
Leidenschaft für sie, wie es nur Liebende sein können. Er glaubt an das | |
Einzige, an das zu glauben sich lohnt, an ein großes Wunder: Menschen | |
können sich verlieben. In einen anderen Menschen und in die Idee, dass das | |
Leben ein besseres wäre, lebten wir alle in Freiheit und Gleichheit. Wie | |
sonst könnte er noch mit so viel Empathie über die Bewohner des Landes | |
schreiben, das vor und nach ihm Tausende ihrer Freiheit beraubt hat? Wie | |
sonst könnte er über die Marotten der Deutschen so ironisch und beharrlich | |
schreiben, wenn ihm diese nicht so sehr am Herzen lägen? | |
Die Frage danach, wie schwer es ist, ein Jahr lang als | |
Feierabendbeschäftigung die Inhaftierung von Deniz als politisches Thema in | |
der Öffentlichkeit zu halten, werde ich dieser Tage als Teil des | |
Freundeskreises oft gefragt. Was soll ich dazu sagen, außer: Einfacher wird | |
es nicht. | |
## Es ist immer ein Tag weniger | |
Grundsätzlich hat sich jedoch seit einem Jahr nichts verändert. Jeder | |
wünscht sich jeden Tag, dass Deniz keinen Tag länger im Gefängnis | |
verbringen muss. Und es verhält sich so, wie Deniz es mal schrieb: Wir | |
zählen die Tage rückwärts. Es ist immer ein Tag weniger, den er und Dilek, | |
seine Ehefrau, sich nicht sehen. | |
Und so halten wir es auch in dem Kreis von Leuten, die anlässlich des | |
Erscheinens dieses Buchs am 14. Februar erneut eine [4][große Lesung im | |
Festsaal Kreuzberg] organisiert haben: Jeder Tag ist wieder ein Tag | |
weniger, den wir mit WhatsApp- und Signalchats, Korsoroutenplanung, | |
Vorbereitung von Solikonzerten wie am Brandenburger Tor und | |
Koordinationstreffen verbringen. | |
Es gibt nur einen Grund, Leute wie Deniz Yücel wegzusperren: Man will sie | |
zwingen, endlich die Klappe zu halten. Damit klar ist, dass daraus nichts | |
wird, machen wir weiter – und erscheint dieses Buch. Und auch, um zu | |
zeigen, dass Deniz käuflich ist. #FreeDeniz heißt jetzt #BuyDeniz. Aber nur | |
so lange der Vorrat reicht. | |
13 Feb 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.welt.de/politik/ausland/article145529312/Ja-es-gab-interne-Hinr… | |
[2] /!t5139216/ | |
[3] https://www.welt.de/politik/ausland/article165794085/Unterstuetzung-die-Gef… | |
[4] https://www.facebook.com/events/201981297211010/ | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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