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# taz.de -- Essay von Deniz Yücels Anwalt: Die Justiz ist das Problem
> Die türkische Verfassung kennt ein weitgefasstes Recht auf
> Meinungsfreiheit. Warum übergehen viele Gerichte diese Grundsätze
> einfach?
Bild: Zurzeit nicht in der Türkei: Justizia
Fairerweise muss gleich zu Anfang klargestellt werden, dass die türkische
Justiz über die gesamte Geschichte der Republik hinweg einige schlechte
Praktiken hervorgebracht hat. Die Justiz als staatliche Gewalt wurde
durchgehend von einem nationalistischen, militaristischen und
staatsfixierten Geist beherrscht. Wir finden in der Justizpraxis der
Vergangenheit apodiktische Urteile wie „Es gibt keine Kurden“. Daneben
finden wir drakonische Strafen für Journalist*innen und Intellektuelle, die
behauptet haben, dass es einen Völkermord an den Armeniern durchaus gegeben
haben könnte.
Als in den 90er Jahren eine hohe Zahl von Intellektuellen – darunter auch
viele Journalist*innen – ermordet wurde, gingen diese Fälle als „Morde
unbekannter Täter“ in die Literatur ein, da weder die Ermittlungsbehörden
noch die Justiz an der Aufklärung der Taten interessiert waren. Vielmehr
legten sie einen eisernen Verfolgungs- und Bestrafungswillen gegen eben
diese Intellektuellen an den Tag. Das ist allgemein bekannt. Doch gab es
auch Ausnahmen, in denen sich Gerichte schützend vor die Meinungsfreiheit
stellten.
Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 ist vieles schlimmer geworden. Als
neue Amtsbezeichnung wurden die „Friedensstrafrichter“ eingeführt, deren
Aufgabenbereich sich auf Haftbefehle konzentriert. In hoher Zahl wurden
Journalist*innen, Schriftsteller*innen, Politiker*innen und
Intellektuelle inhaftiert. Blogs und Medien wurden als Firmen mit ihrem
gesamten Vermögen von diesen Gerichten konfisziert, zahllose Internetseiten
gesperrt, unter anderem Wikipedia.
## Erfundene Vorwüfe kommen am Abend
Leider geht niemand straffrei aus, der die türkische Justiz kritisiert.
Daher ist die Formulierung, dass in der Türkei „die Meinungsfreiheit
eingeschränkt“ werde, meiner Meinung mittlerweile nicht mehr ausreichend.
[1][Dutzende von Journalist*innen und Politiker*innen sitzen seit Monaten
in Untersuchungshaft], in den meisten Fällen nicht nur ohne Anklageschrift,
sondern ohne dass sie jemals einen offiziellen Tatvorwurf mitgeteilt
bekommen hätten.
Und wenn dann jemand eine Anklageschrift erhält, das Gerichtsverfahren
eröffnet wird und im Zuge der mündlichen Verhandlung eine Haftentlassung
beschlossen wird, dann kommen am Abend desselben Tages erfundene Vorwürfe
hinzu, die als Begründung einer umgehenden erneuten Inhaftierung herhalten
müssen.
Auch wenn die türkische Verfassung im Kern ein Produkt der Militärjunta aus
dem Jahr 1982 ist, kennt sie doch in vielen Bereichen ein weitgefasstes
Recht auf Meinungsfreiheit für Journalist*innen und Politiker*innen. Doch
unter dem Einfluss des heutigen politischen Klimas wenden viele türkische
Gerichte diese Grundsätze nicht an oder sehen zumindest großzügig über sie
hinweg. Die Verfassung wird ebenso ignoriert wie die Europäische
Menschenrechtskommission, die eigentlich den Status einer übergeordneten
Rechtsnorm genießt. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte werden nicht umgesetzt. Menschen werden ohne Rechtsgrundlage
gefangen gehalten.
Diese Entwicklung hat bei vielen Menschen den Eindruck erweckt, dass
kritisch denkende Bürger*innen durch die Hand der Justiz nach rein
politischen Erwägungen bestraft werden. Es gibt eine Reihe von Indizien,
die diesen Eindruck zu bestätigen scheinen.
## FreeMehmet, FreeŞahin
Im Falle der beiden Publizisten Mehmet Altan und Şahin Alpay beispielsweise
hat das türkische Verfassungsgericht in seinem Urteil die Unrechtmäßigkeit
der Inhaftierung festgestellt. Dieses Urteil wird jedoch nicht anerkannt.
Vielmehr hat die türkische Regierung in ihren Einlassungen zu den
Individualbeschwerden, die beide Publizisten beim Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte eingereicht haben, offen zugegeben, dass ihrer Meinung
nach das Verfassungsgericht keine Befugnis habe und nur das unterste
Gericht entscheiden dürfe, ob jemand aus der Haft entlassen werde oder
nicht.
Aber auch die Situation von Taner Kılıç, dem Präsidenten der türkischen
Sektion von Amnesty International, wirft ein ungutes Licht auf den Zustand
der türkischen Justiz. In dem Strafverfahren, das in Deutschland mit dem
Namen Peter Steudtner in Verbindung gebracht wird, müssen sich 11
Menschenrechtsaktivist*innen vor Gericht verantworten, die im Sommer
festgenommen wurden. Der Rechtsanwalt und Amnesty-Sektionspräsident Taner
Kılıç ist der Einzige von ihnen, der weiterhin in Untersuchungshaft
gehalten wird.
Am 31. Januar ordnete ein Istanbuler Strafgericht seine Haftentlassung an.
Doch der Staatsanwalt legte Widerspruch ein und die übergeordnete
Strafkammer gab ihm recht und erließ einen neuen Haftbefehl gegen Kılıç. Am
1. Februar wurde er wieder inhaftiert. Eigentlich war es im türkischen
Recht nicht vorgesehen, dass ein Staatsanwalt gegen eine richterlich
angeordnete Haftentlassung Widerspruch einlegen kann. Doch im Dezember
wurde diese Praxis durch das Exekutivdekret Nummer 656 legalisiert.
Ein anderes Handicap der Justizmechanismen ist, dass sie Hate Speech und
Meinungsfreiheit andauernd durcheinanderbringen. Wenn man in der Türkei
Gedanken zum Ausdruck bringt, die sich von den Gedanken der Herrschenden
unterscheiden, wenn man die Positionen von Minderheitengruppen vertritt und
verbreiten möchte, muss man mit einer Reihe rechtlicher und
außerrechtlicher Interventionen rechnen.
Wenn Kurd*innen, Armenier*innen, Homosexuelle, Alevit*innen und andere
Minderheitengruppen Hate Speech ausgesetzt sind, wird dies in der Regel von
Gerichten als legitimer Ausdruck von Meinungsfreiheit gewertet. Als im
vergangenen Jahr eine ultranationalistische und hyperkonservative Gruppe
verhindern wollte, dass der LGBTI Pride in Istanbul stattfinden kann,
wurden nicht nur die Worte, sondern auch die Taten dieser Gruppe von der
Istanbuler Staatsanwaltschaft als Meinungsfreiheit gewertet. Wenn aber ein
Mensch abweichende Gedanken ausdrückt, kann schon ein Artikel, eine
mündliche Äußerung oder ein Tweet ausreichen, um einen Haftbefehl zu
erwirken.
## Ein schnellerer und mutigerer Umgang
Als am 20. Januar die türkische Armee im Rahmen der „Operation Olivenzweig“
in Afrin einmarschierte, wurden viele Personen festgenommen oder gar
inhaftiert, die die Militäroperation kritisierten. Das betraf nicht nur
Journalist*innen und Politiker*innen, sondern auch hochrangige Mediziner
aus den Reihen der türkischen Ärztekammer ebenso wie stinknormale
Nutzer*innen sozialer Medien. Kurz gesagt: Die Justiz ist in der Türkei
nicht mehr wie in der Vergangenheit ein problembehafteter, aber
funktionierender Mechanismus, sondern zu einer Hauptquelle unserer Probleme
geworden.
Wenn es in der Türkei so schlimm aussieht, wie steht es da um den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? Die vor über einem Jahr
eingereichten Beschwerden von inhaftierten Journalist*innen und
Politiker*innen sind bisher noch nicht entschieden worden. Die Brüder Ahmet
und Mehmet Altan, das Cumhuriyet-Verfahren, Nazlı Ilıcak, [2][Deniz Yücel]
und auch Selahattin Demirtaş müssen noch auf die langsam mahlenden Mühlen
der Menschenrechtsrichter warten.
Unterdessen wird für diese Woche ein Urteil im Prozess gegen die Brüder
Altan erwartet: Höchstwahrscheinlich lebenslängliche Haftstrafe für beide.
Die Individualbeschwerden von Tausenden von Menschen, die per Dekret aus
dem öffentlichen Dienst gefeuert wurden, erklärte der Gerichtshof für
Menschenrechte sogar für unzulässig, da der innere Rechtsweg in der Türkei
noch nicht ausgeschöpft sei. Das bedeutet, dass all diese Menschen sich
jetzt noch jahrelang mit den Rechtsinstanzen in der Türkei abmühen müssen.
Zunächst ist nämlich eine von der Regierung eingerichtete Kommission
zuständig, die bisher nur sehr wenige der über 100.000 Beschwerden
überhaupt bearbeitet hat.
Man könnte also sagen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
nicht unbeteiligt daran ist, dass die Justiz in der Türkei zu einer
Problemproduktionsmaschine verkommen ist. Letztendlich glaube ich aber,
dass wir keine andere Wahl haben, als dafür zu kämpfen, dass das geltende
Recht wieder in der Justizpraxis Anwendung findet. Doch dafür muss nicht
nur der juristische Kampf in der Türkei weitergehen. Auch Straßburg muss
effektiver, schneller und mutiger mit den türkischen Beschwerden umgehen.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
14 Feb 2018
## LINKS
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## AUTOREN
Veysel Ok
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