# taz.de -- Medien und Zensur in der Türkei: „Der Zug ist noch nicht abgefah… | |
> Fatih Polat, Chefredakteur des Oppositionsblatts „Evrensel“, kritisiert | |
> Zensur und juristische Repression gegen Medien und Journalisten in der | |
> Türkei. | |
Bild: Demonstration vor der türkischen Botschaft in Berlin gegen die Inhaftier… | |
taz: Ihre Zeitung ist eine der letzten in der Türkei, die man als | |
oppositionelles Medium bezeichnen kann. Was zeichnet die Evrensel aus? | |
Fatih Polat: Wir finden den Begriff „oppositionelle Zeitung“ problematisch, | |
weil er den Eindruck erweckt, die Zeitung sei zuerst dazu da, um zu | |
opponieren. In unseren Augen ergänzt sich die Berichterstattung von | |
Journalisten, die in den regierungsnahen Medien arbeiten, und unsere | |
journalistische Arbeit. Wir distanzieren uns auf jeden Fall von | |
parteiischem Journalismus. Wir versuchen, die Wahrheit mehrdimensional | |
darzustellen. | |
Das ist dieser Tage gar nicht so einfach. Zu Beginn der Offensive der | |
türkischen Armee um die Region Afrin gab der Innenminister eine | |
15-Punkte-Liste an Medieneigentümer heraus, die erläuterte, wie über den | |
Einmarsch in Syrien zu berichten sei. | |
So ein Briefing herauszugeben ist ein Zeichen von Zensur und Kontrolle. Das | |
bedeutet, Nachrichten aus einer Quelle zu bringen. Es gibt Zeitungen, die | |
freiwillig einseitig berichten. Aber es gibt auch Medienorgane, die in | |
ihrer Berichterstattung nur kurdische Quellen zu Wort kommen lassen. Das | |
ist propagandistische Berichterstattung. Es gibt weiterhin Journalistinnen | |
und Journalisten, die versuchen, ihre Arbeit ordentlich zu machen, aber sie | |
stehen unter Druck. | |
Durch die Regierung? | |
Nicht nur. Auch die Zeitungen, die einseitig berichten, schädigen die | |
Pressefreiheit. Sie bringen jeden Tag Schlagzeilen, die sich für den Krieg | |
aussprechen. Wenn wir eine Schlagzeile veröffentlichen, die sich gegen die | |
Festnahme der Mitglieder der Ärztekammer ausspricht, werden wir zur | |
Zielscheibe. | |
Ist es im Ausnahmezustand schwieriger, an Quellen zu kommen? | |
Auf jeden Fall. Menschen, die sich in der heutigen Türkei gegen den Krieg | |
aussprechen und Frieden fordern, werden festgenommen, darunter | |
Gewerkschafter und Parteimitglieder. Es handelt sich um eine breite | |
Operation im Inneren, während der Angriff auf Afrin fortdauert. Die | |
Menschen werden nervös, wenn man ihnen auf der Straße ein Mikrofon | |
entgegenstreckt. Sich offen für den Frieden auszusprechen ist für viele | |
dieser Tage nicht einfach. | |
In diesen Zeiten wird man schnell als Terrorunterstützer angeklagt, wenn | |
man sich für den Frieden ausspricht. Ist das ein anderer Weg, die Presse | |
auf Linie zu bringen? | |
Es werden Verfahren gegen Journalisten wegen des Vorwurfs der | |
„Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ eingeleitet. Das ist ein | |
abstruser Vorwurf. Das zu sagen heißt: „Ich habe keinen einzigen Beweis | |
gefunden, der dich belasten könnte. Aber ich bin entschlossen, dich mit | |
einer abstrusen Begründung festzunehmen.“ Aber dass es so unpräzise ist, | |
ist auch Ausdruck der Zensur durch die Regierung. Die abstrusen Vorwürfe | |
sind eine große Gefahr. Solange es in einem Land Regulierungen wie das | |
Terrorbekämpfungsgesetz gibt, kann man auf keinen Fall von Pressefreiheit | |
sprechen. | |
Dieses Gesetz ist so unpräzise formuliert, dass es abstruse Vorwürfe bei | |
der Unterstützung von Terrorismus ermöglicht. Was sind die häufigsten | |
Anklagepunkte gegen Kollegen? | |
Drei unserer Kollegen wurden festgenommen, weil sie über die E-Mails des | |
Energieministers und Schwiegersohns des Präsidenten, Berat Albayrak, | |
berichtet haben. Nachdem sie eine Weile im Gefängnis waren, wurden sie zwar | |
freigelassen, aber die Ermittlungen gehen trotzdem weiter. Wenn wir über | |
eine Person berichten, die dem Präsidenten nahesteht, kann daraus ein | |
Klagegrund entstehen. Wenn wir über Streiks in großen Firmen berichten, | |
bekommen wir häufig Widerrufs- oder Entschädigungsklagen. | |
Wurden Sie auch selbst angeklagt? | |
Gegen mich wurden beispielsweise Ermittlungen wegen Beleidigung des | |
Präsidenten eingeleitet, weil ich in meiner Kolumne über das „Black Sea | |
Journalistenkollektiv“ geschrieben habe. Deren Mitglieder beschäftigen sich | |
mit den Off-Shore-Konten des Präsidenten und seines nahen Umfelds auf | |
Malta. Ich habe bereits ausgesagt. Aber es ist immer noch nicht klar, ob | |
ein Verfahren gegen mich eröffnet wird. Wir haben darüber berichtet, dass | |
der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu schwerwiegende Aussagen in Bezug | |
auf die Paradise Papers gemacht hat. Auch dafür wurden Ermittlungen gegen | |
mich eingeleitet. | |
In den deutschen Medien wird häufig geschrieben, dass es in der Türkei kaum | |
noch kritische Berichterstattung gibt. Was antworten Sie als ein | |
Journalist, der bei einer kleinen, unabhängigen Zeitung mit einer Auflage | |
von nur 5.500 Exemplaren jeden Tag viel riskiert? | |
Was die Repressionen angeht, stimmt das. Wir erleben im Journalismus die | |
Repressionen einer Postputsch-Phase. Andererseits tut man vielen | |
Journalisten Unrecht, wenn man behauptet, dass es keine kritische | |
Berichterstattung mehr gibt. Denn im Moment sind 150 Journalisten | |
inhaftiert, gegen viele von uns laufen Ermittlungen und Verfahren. Es gibt | |
viele Kollegen, die für Medien wie Evrensel, BirGün, Cumhuriyet, Özgürlük�… | |
Demokrasi und unabhängige Internetportale eine sehr lebendige | |
Berichterstattung leisten. Von außen sieht es düsterer aus, aber im Land | |
finden wir einen Weg zu berichten. In der Türkei ist der Zug noch nicht | |
abgefahren. | |
Die Verteidigungsreden von angeklagten Journalisten wie Ahmet Şık und Murat | |
Sabuncu wirken fast wie Lektionen in Sachen Journalismus. Şık hat darin | |
selbst Anklage gegen den Staat erhoben und von einer Jagd auf die Meinungs- | |
und Pressefreiheit gesprochen. | |
Absolut. Die Verteidigungsreden von Ahmet Şık, Murat Sabuncu, Ahmet und | |
Mehmet Altan sind sehr starke Statements, die die Politik der Regierung | |
kritisieren und die Meinungsfreiheit im Journalismus verteidigen. Man | |
könnte sie als Buch veröffentlichen. | |
Kann man noch von unabhängiger journalistischer Arbeit sprechen, wenn die | |
unabhängige Presse ständig dazu gezwungen ist, über Inhaftierungen, | |
Freilassungen, Anklagen und Anhörungen von festgenommenen Journalisten zu | |
berichten? | |
Ja. Es gibt immer noch die Möglichkeit unabhängiger Berichterstattung. In | |
der Türkei gibt es seit einem Jahrhundert sowohl verschiedene Formen von | |
Zensur als auch Kämpfe für die Pressefreiheit. Das ist der Weg, auf dem | |
sich der Journalismus weiterentwickelt. Der Journalismus lebt. Es gibt uns | |
und die Journalisten, die in anderen Medien, auch den regierungsnahen, ihre | |
Arbeit ordentlich zu machen versuchen und deshalb entlassen werden. Es gibt | |
eine Leidenschaft für Journalismus, auch wenn unser Spielraum begrenzt ist | |
und wir schweren Repressionen ausgesetzt sind. | |
Wie erhalten Sie Ihre Leidenschaft aufrecht? | |
Die Wahrheit findet immer einen Weg an die Öffentlichkeit. Selbst in der | |
schwierigsten Phase ist es wichtig zu sagen, dass es weitergeht. In diesem | |
Land wollen breite Teile der Bevölkerung Demokratie, Freiheit und Frieden. | |
Ich erinnere daran, dass beim Referendum für das Präsidentschaftssystem im | |
April 2017 50 Prozent mit Nein gestimmt haben. Wir sind ihr Sprachrohr. Wir | |
haben als Journalisten eine Verantwortung für die Gesellschaft. | |
Journalismus sollte nicht im Dienst der Regierenden, sondern der Regierten | |
stehen. | |
Haben Sie in Ihrer jahrzehntelangen Arbeit als Journalist schon schlechtere | |
Zeiten erlebt? | |
Das sind jetzt mit die schlimmsten Zeiten. Noch schlimmer war es eigentlich | |
nur in den 1990er Jahren, als es im Kurdenkonflikt zu heftigen Gefechten | |
kam. Damals wurden zahlreiche Journalisten Opfer politischer Morde. | |
Wie der Journalist Metin Göktepe, der für die Evrensel arbeitete und 1996 | |
von Polizisten getötet wurde. | |
Ja. Heute aber geht es um Gerichtsverfahren. Nie zuvor gab es so viele | |
Ermittlungsverfahren gegen Journalisten. Journalisten werden verurteilt, | |
ohne dass es rechtlich abgedeckt wäre oder dass die Anklageschrift | |
zureichende Beweise enthielte. Deshalb sprechen wir hier von einem | |
schwerwiegenden Unrecht. Deniz Yücel zum Beispiel ist seit zwölf Monaten | |
ohne Anklageschrift in Untersuchungshaft. Deniz Yücel – ich habe ihn vor | |
Kurzem interviewt – ist ein Indikator dafür, dass es in der Türkei | |
Journalisten gibt, die ihre Arbeit machen wollen und sich dem Druck nicht | |
beugen. | |
Können Sie auch eigene Themen setzen oder sind Sie nur noch mit der | |
Gerichtsberichterstattung beschäftigt? | |
Die Regierung erhält den Druck aufrecht und verhindert, dass das Leben zur | |
Normalität zurückkehrt. Aber natürlich schreiben wir auch über andere | |
Themen. Allein, die Repressionen wirken sich auch auf diese Themen aus. Wir | |
schreiben aber auch über die Proteste gegen die geplanten Atomkraftwerke, | |
über die Kämpfe der Künstler und des Kunstsektors, aber ebenfalls über | |
einen schönen, neuen Gedichtband oder Roman. Das machen wir auch, um zu | |
demonstrieren, dass das Leben weitergeht. Diese Art von Berichterstattung | |
ist eine Art von Anstrengung, die Verhältnisse zu verändern. | |
13 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Kimmerle | |
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