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# taz.de -- Deniz Yücel über die Absurdität der Haft: Klagt mich endlich an
> 270 Tage ist Welt-Korrespondent Deniz Yücel in Haft, ohne Anklageschrift.
> Er hat eine Einzelzelle, muss allein Fußball spielen und seinen Strom
> selber zahlen.
Bild: Als Deniz Yücel noch Meer sehen konnte
Doris Akrap darüber, wie [1][dieses Interview] entstand: „Am Dienstag sind
es neun Monate, die Deniz hinter Gittern verbringt. Als ich ihn das letzte
Mal in Istanbul besuchte, im Oktober 2016, musste er ins Krankenhaus, weil
ihm der Blinddarm entfernt wurde. Als ich ihn das letzte Mal sah, am 27.
Februar im Justizpalast von Istanbul, wurde ihm die Freiheit genommen. Nach
zweiwöchigem Polizeigewahrsam wurde er von sechs Wärtern vor das Büro des
Staatsanwalts geführt. Der Haftrichter entschied in dieser Nacht, Deniz
müsse in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe: Terrorpropaganda und
Volksverhetzung. Die Begründung: zwei Texte, die in der „Welt“ publiziert
wurden. Seitdem habe ich mit Deniz nicht mehr gesprochen.
Ich kenne ihn seit dem Abitur in den frühen Neunzigern. Als ich 2003 mein
erstes Interview für eine seriöse Zeitung führte (für die Jungle World, mit
dem türkisch-deutschen Rapper Killa Hakan) war Deniz mein Redakteur. Sein
wichtigster Rat: „Interviews sind auch ein Text. Du musst versuchen, eine
Geschichte zu erzählen“. Seitdem habe ich einige Interviews mit Leuten, die
irgendwas mit der Türkei zu tun haben, geführt. „Langsam hast du genug
zusammen für ein Buch: Doris’ lustige Türken-Interviews“, sagte Deniz
irgendwann. Ein Interview mit ihm selbst, weil er im Gefängnis sitzt, war
darin nie vorgesehen.
Dieses Interview ist auf ungewöhnliche Weise entstanden. Meine Fragen habe
ich schriftlich über Deniz’ Anwälte gestellt und Deniz hat sie über die
Anwälte schriftlich beantwortet. Meine Rückfragen und seine Antworten dazu
gingen dann auf demselben Weg noch zwei Mal hin und her. Dazwischen lagen
jeweils mehrere Tage.
Meine Fragen, so hoffe ich, sind auch die Fragen, die Leser interessieren,
die Deniz nicht so gut kennen. Sicher bleiben tausend Fragen offen. Vor
allem die, die ich nicht stellen konnte, weil er sie nicht beantworten
kann: Deniz, wann wirst du das Meer sehen?“
taz am wochenende: Deniz, wie geht es dir?
Deniz Yücel: Och, ganz okay. Danke der Nachfrage. Obwohl noch immer keine
Anklageschrift vorliegt, weiß ich ja, weshalb ich eingesperrt bin: weil
ich, so meine ich mir einbilden zu können, meinen Job als Journalist
ordentlich gemacht habe. Und obwohl ich in Einzelhaft sitze, weiß ich, dank
der vielen Menschen, die sich für mich und für meine inhaftierten Kollegen
einsetzen, dass ich nicht alleine bin. Das hilft mir sehr.
Du hast im Juni in der Welt [2][beschrieben], dass es auch im Knast so was
wie ein Wochenende gibt. Alltag im Gefängnis – wie sieht der bei dir aus:
Gehst du jeden Abend um die gleiche Uhrzeit schlafen? Fragen die Wärter
dich morgens, wie es dir geht? Schneidest du so wie Paulie in deinem
Lieblingsfilm „Goodfellas“ den Knoblauch mit der Rasierklinge?
Silivri Nr. 9 ist ein Hochsicherheitsgefängnis; es gibt hier nichts, das du
aus „Die Verurteilten“ oder „Orange Is the New Black“ kennst – keinen
gemeinsamen Hofgang, keine Gemeinschaftsduschen, keinen Essenssaal. Und
natürlich keine Rasierklingen. Es kommt auch niemand, um abends das Licht
abzuschalten, sodass ich wie gewohnt spät zu Bett gehe; meistens gegen zwei
Uhr nachts. Dafür muss ich den Strom selber bezahlen.
Wie bitte? Aber Miete musst du nicht bezahlen?
Nee, nur Strom. Einmal im Monat kommt die Rechnung. Die Aufseher schließen
morgens die Tür zu meinem kleinen Hof, nehmen Anträge und Einkaufslisten
entgegen und schauen natürlich nach, ob noch alle da sind. Dann sind sie
immer in Eile, ebenso, wenn sie abends zum Abschließen und Nachschauen
kommen. Bei anderen Gelegenheiten plaudern wir schon, etwa wenn sie mich
zum Anwaltsgespräch begleiten. Wenn ich mir aus den wöchentlichen Einkäufen
im Knastladen etwas Warmes zu essen zubereiten oder das Gefängnisessen
aufbessern möchte, bleibt mir nur der Dampf aus dem Wasserkocher und ein
Gurkenglas. Hier würden auch Paulies Kochkünste an ihre Grenzen stoßen.
Apropos: Wenn du selber als Geisel genommen wirst, vergeht dir die Lust auf
Mafiageschichten.
Als du am 1. März ins Gefängnis von Silivri überstellt wurdest, sagte mir
dein Anwalt Veysel Ok, dass es dir dort besser gehen werde als in dem
Schmuddelknast Metris in Istanbul: „[3][Er kann dort Freunde finden.]“ Hast
du welche gefunden?
Meine Anwälte leisten unter auch für sie persönlich schwierigen Bedingungen
großartige Arbeit. Aber Veysel konnte nicht ahnen, dass ich in Einzelhaft
kommen würde. Dafür gibt es nämlich sonst kein anderes Beispiel; in
Istanbul bin ich der einzige Journalist in Einzelhaft. Normalerweise
bedeutet Einzelhaft übrigens auch keine völlige Isolation, es gibt Sport in
größeren Gruppen, und für einige Stunden in der Woche kann man sich mit
anderen Gefangenen seiner Wahl zusammenschließen lassen. Mit dem
Ausnahmezustand wurden diese Dinge abgeschafft. Immerhin: Seit Mai werden
im Gefängnis Silivri Nr. 9 die Gefangenen in Einzelhaft für eine Stunde in
der Woche auf den kleinen Sportplatz gelassen.
Du kannst jetzt also Fußball spielen?
Nein. Denn anders als meine Nachbarn – meist ehemalige Richter und
Polizeioffiziere – bin ich sogar dort alleine. Vorteil: Ich verlasse den
Platz stets als Sieger – könnte auch für den HSV oder die türkische
Nationalmannschaft ein interessantes Modell sein. Ich glaube, stattdessen
habe ich draußen viele neue Freunde gefunden. Hier drinnen aber nur einen:
den Richter in der Nachbarzelle, mit dem ich mich brüllend von Hof zu Hof
unterhalten kann, ohne dass wir uns je sehen würden.
Ist der Richter noch da?
Ja. Er hat zwölf Monate auf seine Anklageschrift gewartet und weitere vier
auf die Prozesseröffnung. Eines muss ich dazu sagen: Ich halte nicht alle
4.500 Richter und Staatsanwälte, die seit dem Putschversuch entlassen
wurden und von denen etwa die Hälfte verhaftet wurde, für unschuldig. So
manche haben sich als Anhänger der Gülen-Organisation in den politischen
Verfahren des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht und gehören tatsächlich auf
die Anklagebank – zusammen mit den Verantwortlichen in der Regierung, die
diese Prozesse gefördert und unterstützt haben. Anderseits sitzen viele
Richter in Haft, die mit alledem nichts zu tun hatten. Das gilt auch für
meinen Nachbarn.
Du wartest seit über acht Monaten auf deine Anklageschrift. Sind die
Staatsanwälte überfordert oder lassen sie sich absichtlich Zeit?
Türkische Staatsanwälte haben in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie
beides können: sowohl seriöse Anklageschriften als auch fantastische
Literatur. In den Verfahren gegen die unmittelbar am Putschversuch
beteiligten Militärs und Zivilisten haben sie – soweit ich das aus der
Medienberichterstattung beurteilen kann – nicht nur überzeugende Beweise
für die individuelle Tatbeteiligung vorgelegt, sondern auch für die
federführende Rolle der Gülen-Organisation. Dennoch sind viele Fragen im
Zusammenhang mit dem Putschversuch unklar. Grob gilt: Je mehr sich die
Anklageschriften von den Vorgängen in jener Nacht entfernen, umso dünner
werden sie. In den Anklageschriften gegen Journalisten, oppositionelle
Politiker und kurdische oder linke Aktivisten zählen rechtsstaatliche
Prinzipien oder bloß Logik und Vernunft wenig. Die Fantasie ist so groß wie
die Schamgrenze niedrig. An Überforderung kann es also nicht liegen.
Allerdings liegt die Initiative auch nicht bei der Staatsanwaltschaft. Ein
Wort vom Chef und Anklageschrift, Prozesseröffnung und Freilassung laufen
in Rekordzeit, wie wir das bei Peter Steudtner und den anderen
Menschenrechtsaktivisten gesehen haben.
Du meinst, Freilassung ist Chefsache?
Ja. Schließlich hatte sich der Staatspräsident öffentlich zum Chefankläger
aufgeschwungen. Dasselbe hat er bei mir gemacht, bei den
Oppositionspolitikern, bei Selahattin Demirtaş, und zuletzt beim
Unternehmer und Bürgerrechtler [4][Osman Kavala].
Sind die Spatzen, die im Frühjahr in deinem Hof genistet haben, noch da?
Die Spatzen haben ihr Nest in der Sicherheit eines
Hochsicherheitsgefängnisses gebaut. Und als die Brut groß genug wurde, sind
sie ausgeflogen. Die sind ja nicht doof, die Spatzen.
Sind die Wärter überrascht, dass du immer noch da bist?
Silivri Nr.9 ist eine Art Promiknast; die meisten Häftlinge, für die sich
eine größere Öffentlichkeit interessiert, sitzen hier. Vor ein paar Jahren
waren hier İlker Başbuğ, der vormalige Generalstabschef der türkischen
Armee, und andere ranghohe Militärs inhaftiert. Heute sitzt hier zum
Beispiel Hüseyin Avni Mutlu, während der Gezi-Proteste 2013 Gouverneur
von Istanbul. Ich glaube, die Aufseher in Silivri Nr. 9 wundern sich über
gar nichts und haben noch mehr als alle übrigen Bürgerinnen und Bürger
dieses Landes folgende Wahrheit verinnerlicht: Das hier ist Türkiye, hier
kann jederzeit alles passieren. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die
Aufseher Angst haben, etwas falsch zu machen. Ein Angstregime richtet sich
nicht allein gegen Kritiker, sondern umfasst auch die Angehörigen des
Unterdrückungsapparats. Vollzugsbeamte, Richter, hohe Beamte, sogar
Regierungspolitiker – jeder hat Angst. Nur einer nicht. Oder besser: Er hat
noch mehr Angst als alle anderen, weil er weiß, was ihm blüht, falls er die
Macht verlieren sollte. Und darum unterwirft er eine ganze Gesellschaft
seinem Angstregime.
Im Juli hast du [5][in einem Text] für die Welt geschrieben:
„Türkei-Korrespondent müsste man jetzt sein.“ Wie viel von dem, was
deutsche Medien über die Türkei schreiben, kriegst du mit?
Ich freue mich, dass die deutsche Öffentlichkeit weiterhin so großen Anteil
an den Geschehnissen in der Türkei nimmt. Und ich bin meiner Zeitung, der
Welt, und den Kolleginnen und Kollegen in allen deutschen Redaktionen
dankbar, die mich nicht vergessen. Die deutschen Medien verfolge ich eher
indirekt über die türkischen. Meine Anwälte bringen mir manchmal wichtige
Artikel mit.
Von den Zeitungen, die du derzeit abonniert hast: Welche hat den besten
Sportteil?
Unabhängig von der politischen Ausrichtung und egal, ob sie nur eine oder
gleich fünf Sportseiten haben – die türkischen Zeitungen sind alle sehr
fußballistisch, wie es mein Freund und früherer Tischnachbar Jan Feddersen
formulieren würde. Sportfeuilleton, das ich gerne lese, gibt es so gut wie
gar nicht. Dafür habe ich die 11 Freunde, die mir mein Freund Imran
regelmäßig schickt. Die gefällt sogar der „Bildungskommission“, die alle
Druckwerke überprüft, die mir geschickt werden. Die einzige deutsche
Zeitung, die ich regelmäßig erhalte, ist die taz. (Dass ich jemals in den
Genuss eines taz-Knastabos kommen würde, hätte ich auch nicht gedacht,
vielen Dank dafür. Und liebe taz-Leserinnen und -Leser, vielen Dank für
[6][die Geburtstagsgrüße]!) Außerdem schickt mir Chefredakteur Tim Wolff
regelmäßig die Titanic. Beim ersten Mal waren die Aufseher sehr
misstrauisch. Ich habe dann gesagt: „Das sind ein paar Jungs aus Frankfurt,
die machen immer so Witze.“ Das hat die Wärter überzeugt. Seither läuft die
Übergabe reibungslos.
Du hast dir von deiner Schwester Ilkay vor ein paar Monaten Leo Tolstois
„Krieg und Frieden“ mitbringen lassen. Hast du extra dick bestellt, weil
man nie weiß, wie lang so ein Gefängnisaufenthalt dauern kann?
So ungefähr. Allerdings muss ich gestehen, dass ich das Buch noch immer
nicht angefangen habe zu lesen. Vielleicht ein Fehler. Denn womöglich
verhält es sich so wie mit der Zigarette beim Warten auf den Bus: Zündest
du sie dir an, kommt er sicher.
Die mächtigsten Krieger, heißt es in „Krieg und Frieden“, sind Zeit und
Geduld. Du musst sehr viel Zeit rumkriegen und Geduld aufbringen. Was an
deiner Situation in der Einzelhaft macht dir am meisten Sorgen?
Isolationshaft ist Folter. Auch wenn ich eigentlich guter Dinge bin, kann
ich nicht absehen, welche langfristigen Folgen das haben wird. Nur eine
Folge ahne ich bereits: Ich werde jeden vollquatschen, der mir über den Weg
läuft. Am meisten wird das natürlich Dilek ausbaden müssen. Dabei tut sie
jetzt schon so unendlich viel für mich. Und ich glaube, diese
Haftbedingungen haben auf alle eine ähnliche Wirkung, auch auf weniger
gesprächige Menschen.
Trotzdem: Immer wieder fragen mich Leute, ob Einzelhaft gerade für jemanden
wie dich, der so gerne redet, besonders hart ist.
Das wirst du mir vielleicht nicht glauben, aber ich habe mal gelernt: Man
muss ja nicht immer reden. Ansonsten schreibe ich lange Texte. Anfang
kommenden Jahres wird in der Edition Nautilus mein neues Buch erscheinen.
Titel: „Wir sind nicht zum Spaß hier“. Eine Auswahl aus meinen Texten in
der Welt, der taz und der Jungle World. Dazu zwei neue Beiträge und einen
Beitrag von meiner Frau Dilek.
Und du hast ja noch deine Anwälte, richtig?
Oh ja. Und zum Glück unterlagen meine Gespräche mit den Anwälten nie
irgendwelchen Beschränkungen. Zu mir kommen nicht nur meine eigenen,
sondern auch Anwälte, die hier andere Mandanten betreuen, setzen mich
regelmäßig auf ihre Besuchslisten. Und manche fahren nur aus Solidarität
achtzig Kilometer nach Silivri, auch wenn sie im engeren Sinne mit keiner
Verteidigung betraut sind. Die Anwälte sind die stillen Heldinnen und
Helden dieser Epoche der türkischen Geschichte. Soweit mir bekannt, hat die
schwierigsten Haftbedingungen der Journalist Nedim Türfent zu ertragen. Der
Mitarbeiter der inzwischen per Erlass geschlossenen prokurdischen
Nachrichtenagentur Diha sitzt seit 17 Monaten im Gefängnis, ein Jahr davon
in Einzelhaft; lange Zeit bekam er weder Zeitungen noch Bücher. Für seinen
Fall würde ich mir eine größere internationale Aufmerksamkeit wünschen. Der
nächste Prozesstag ist am 17. November in Hakkari im äußersten Südosten des
Landes. #FreeNedim.
Dein Anwalt hat in deinem Namen vor dem [7][Europäischen Gerichtshof] für
Menschenrechte Beschwerde über deine Inhaftierung eingelegt. Das Gericht
hat den Fall mit Vorrang behandelt und der Türkei eine letzte
Fristverlängerung für ihre Stellungnahme bis zum 28. November gewährt. Was
erhoffst du dir von diesem Gericht?
Nach all der Verschleppungstaktik der türkischen Seite hoffe ich, dass der
Gerichtshof nun zügig handelt. Also dass der Gerichtshof für die
überschaubare Anzahl von Journalisten und Abgeordneten, deren Klagen er
bevorzugt zu behandeln beschlossen und in deren Fällen er die türkische
Regierung zur Stellungnahme aufgefordert hat, ein Urteil zur Inhaftierung
spricht. Und danach werde ich gespannt sein, ob die türkische Regierung ein
Urteil aus Straßburg zur Haftentlassung befolgen wird. Das türkische
Verfassungsgericht hat sich ja komplett abgemeldet. In anderen aktuellen
Verfahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bislang
zugunsten der türkischen Regierung entschieden – etwa im Fall der
zehntausenden entlassenen Lehrer und anderer Beamter. Die hat man auf eine
Kommission in der Türkei verwiesen. Das hat viele türkische Oppositionelle
enttäuscht. Ich verstehe diese Enttäuschung. Doch ich weiß auch: Der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde gegründet, um einzelne
Menschenrechtsverletzungen zu korrigieren; nicht, um das Abdriften eines
Landes in den Faschismus aufzuhalten.
„Der Witz hat einen Bart. Beenden Sie diese Komödie“, hat Musa Kart, der
angeklagte Karikaturist der Cumhuriyet, in seiner Verteidigung [8][den
Richtern gesagt]. Als was, glaubst du, werden die derzeitigen
Gerichtsverfahren gegen Journalisten in der Türkei in die Geschichte
eingehen?
Als Schande. Wie die mit gefälschten Beweisen geführten Prozesse der
Gülenisten-Justiz in den Jahren 2007 bis 2011. Oder die Prozesse der
Militärjunta nach dem Putsch von 1980, in denen man mit systematischer
körperlicher Folter Geständnisse aus den Angeklagten herauszupressen
versuchte. Die Frage ist nicht, ob ein autoritäres Regime zusammenbricht;
die Frage ist, welche womöglich irreversiblen Schäden es bis dahin am
Schicksal Einzelner, an der Gesellschaft, an der Natur und am kulturellen
Erbe anrichtet.
Der beste Präsident wo gibt hat in einem Interview mit Giovanni di Lorenzo
in der Zeit [9][über die Deutschen gesagt]: „Sie gehen schlafen, Sie wachen
auf und sagen: Deniz“. Er hat recht. Sollten wir besser die Klappe halten,
damit er das Interesse an dir verliert?
Eine berechtigte Frage. Aber ich glaube, die Antwort lautet: nein. In den
letzten Monaten hat er sich kaum noch über mich geäußert. Trotzdem hat sich
an meiner Lage nichts verändert. Darüber, was in den Köpfen anderer Leute
vorgeht, können wir nur spekulieren. Aber ich weiß, wie es mir gehen würde,
wenn die Öffentlichkeit mich vergessen würde: nicht so gut.
Du hast kurz nach dem Putschversuch Ende Juli 2016 in der Welt [10][einen
Kommentar geschrieben], der den Titel trug: „Vielleicht fällt Erdoğans
Diktatur ja doch aus.“ Hast du dich geirrt?
Dilek meinte damals, ich würde die Dinge nur deshalb rosig sehen, weil ich
in sie verliebt sei. Das weise ich natürlich zurück – also nicht das
Verliebtsein, sondern dass ich mich in meinen politischen Einschätzungen
von solchen persönlichen Gefühlen leiten lasse. In diesem Text Anfang
August 2016 habe ich Indizien in aller Vorsicht zusammengetragen. Das Wort
„Vielleicht“ stand nicht zufällig in der Überschrift.
Anfang Oktober hast du in deiner Dankesbotschaft für den Leipziger Preis
für die Freiheit und Zukunft der Medien von einem „teilzeitfaschistischen
Regime“ gesprochen. Auf welche Kraft sollte man setzen, damit sich die
politische Situation wieder in Richtung Teilzeitdemokratie entwickelt?
Die große Frage lautet, ob sich die unterschiedlichen, teils
gegensätzlichen politischen Kräfte – Sozialdemokraten, säkulare
Nationalisten, Kurden, Liberale, Sozialisten, Kemalisten, Islamisten
außerhalb der AKP – auf ein gemeinsames Minimalprogramm verständigen
können, das meines Erachtens lauten muss: eine neue Verfassung, mit der das
Referendum rückgängig gemacht wird und die das Erbe des Putsches von 1980
ersetzt. Das ist natürlich eine viel schwierigere Aufgabe, als wenn nur
jeder für sich „Nein“ sagt. Eine nicht minder wichtige Frage lautet, ob in
diesem Land unter diesen Umständen noch halbwegs freie und faire Wahlen
stattfinden und eine einwandfreie Auszählung der Stimmen möglich sein wird.
Wird Erdoğan im Fall einer Niederlage seine Macht einfach abgeben?
Darauf wird die Opposition eine Antwort finden müssen. Doch wenn sie sich
nicht zusammenrauft und eine Dynamik entfaltet und eine Erzählung
entwickelt, die auch einen Teil der bisherigen AKP-Wähler anspricht, gerade
das Heer der Armen und Arbeitslosen, dann wird sich diese Frage nicht
stellen. Dann wird Erdoğan mit einem unsauberen Wahlkampf, aber mit einer
sauberen Auszählung die wichtigste Wahl der türkischen Geschichte gewinnen.
Welche Farbe haben eigentlich die Wände deiner Zelle?
Beige. Und die drei Stahltüren (zum Flur, in den Hof und ins Bad), der
Fensterrahmen samt Stahlgitter und das Stahlbett: dunkelbraun.
Dunkelbraun sitzt jetzt auch im Bundestag. Schwarz-Gelb-Grün könnten die
Farben der nächsten Bundesregierung sein. Gut oder schlecht für die
Beziehungen Deutschland/Türkei?
Joschka Fischer sagte kurz nach der Bundestagswahl 1998: „Es gibt keine
grüne Außenpolitik, sondern nur eine deutsche Außenpolitik.“ Türkischen
Oppositionspolitikern und vielleicht sogar so manchem AKP-Politiker muss
ein solches Diktum geradezu traumhaft erscheinen. Denn die Türkei unter
Erdoğan wollte einst nach Europa. Dann gab sie sich Träumereien von einem
neuen Osmanischen Reich hin. Und seit Neuestem schwimmt sie in
„eurasischen“ Gewässern. Eigentlich gibt es aber gar keine türkische
Außenpolitik. Mit wem man sich gerade fetzt und mit wem man sich wann
wieder versöhnt, folgt allein kurzfristigen innenpolitischen Erwägungen.
Als Zustandsbeschreibung halte ich Fischers Satz für zutreffend, auch wenn
er die Frage aufwirft, wer denn die deutsche Außenpolitik bestimmt, wenn
nicht die durch demokratische Wahlen legitimierten Parteien. Ein weiterer
deutscher Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, hat in seinen letzten
Tagen in diesem Amt den sehr richtigen Satz gesagt: „Wir können es nicht
verhindern, dass die Türkei in eine Diktatur abdriftet. Wir müssen dem aber
auch nicht tatenlos zusehen.“ Die entscheidende Frage lautet also, was kann
Deutschland, was kann Europa tun?
Wie lautet deine Antwort?
Ganz wichtig: die Zivilgesellschaft stärken. Und natürlich Druck ausüben.
Aber das muss sitzen. Die EU-Beitrittsverhandlungen nicht abzubrechen, war
zum Beispiel eine richtige Entscheidung. Das Einfrieren von EU-Geldern
hingegen ist reine Symbolpolitik. Eine ganz schlechte Idee ist Starksprech
– das ist etwa so erfolgversprechend, als würde man die Türken im Autokorso
herausfordern anstatt im Biathlon. Auch keine gute Idee: Maßnahmen, die
allein die Bevölkerung treffen wie der Visa-Beschluss der USA. Zuvor muss
man aber die Frage beantworten, ob man bereit ist, auch bei den eigenen
politischen und wirtschaftlichen Interessen Abstriche zu machen.
Der deutsche Außenminister [11][behauptet], Exkanzler Gerhard Schröder hat
mit dem türkischen Präsidenten über die Freilassung von Peter Steudtner
verhandelt. Wenn du dir aussuchen könntest, wer über deine Freilassung
verhandelt, wen würdest du wählen?
Ich will einen fairen Prozess. Und den am besten gleich morgen. Nicht mehr.
Nicht weniger.
Es gibt zwar keine Märchenfee, die den Gefangenen drei Wünsche erfüllen
kann, trotzdem: Was sind die drei wichtigsten Dinge, die du dir wünschst?
Ich nehme nur einen Wunsch: Gerechtigkeit. Alles weitere ergibt sich
daraus. Und die beiden übrigen Wünsche hebe ich für später auf,
einverstanden?
10 Nov 2017
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[1] /Inhaftierter-Journalist-in-der-Tuerkei/!5461876/
[2] https://www.welt.de/politik/ausland/article165310698/Selbst-im-Knast-gibt-e…
[3] /!5385963/
[4] /!5453882
[5] https://www.welt.de/politik/ausland/article166994264/Tuerkei-Korrespondent-…
[6] /!5446176/
[7] /!5457294/
[8] /!5446454
[9] http://www.zeit.de/2017/28/recep-tayyip-erdogan-g20-gipfel-interview/komple…
[10] https://www.welt.de/kultur/article157367496/Vielleicht-faellt-Erdogans-Dik…
[11] /!5455832/
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