| # taz.de -- Deniz Yücel über die Absurdität der Haft: Klagt mich endlich an | |
| > 270 Tage ist Welt-Korrespondent Deniz Yücel in Haft, ohne Anklageschrift. | |
| > Er hat eine Einzelzelle, muss allein Fußball spielen und seinen Strom | |
| > selber zahlen. | |
| Bild: Als Deniz Yücel noch Meer sehen konnte | |
| Doris Akrap darüber, wie [1][dieses Interview] entstand: „Am Dienstag sind | |
| es neun Monate, die Deniz hinter Gittern verbringt. Als ich ihn das letzte | |
| Mal in Istanbul besuchte, im Oktober 2016, musste er ins Krankenhaus, weil | |
| ihm der Blinddarm entfernt wurde. Als ich ihn das letzte Mal sah, am 27. | |
| Februar im Justizpalast von Istanbul, wurde ihm die Freiheit genommen. Nach | |
| zweiwöchigem Polizeigewahrsam wurde er von sechs Wärtern vor das Büro des | |
| Staatsanwalts geführt. Der Haftrichter entschied in dieser Nacht, Deniz | |
| müsse in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe: Terrorpropaganda und | |
| Volksverhetzung. Die Begründung: zwei Texte, die in der „Welt“ publiziert | |
| wurden. Seitdem habe ich mit Deniz nicht mehr gesprochen. | |
| Ich kenne ihn seit dem Abitur in den frühen Neunzigern. Als ich 2003 mein | |
| erstes Interview für eine seriöse Zeitung führte (für die Jungle World, mit | |
| dem türkisch-deutschen Rapper Killa Hakan) war Deniz mein Redakteur. Sein | |
| wichtigster Rat: „Interviews sind auch ein Text. Du musst versuchen, eine | |
| Geschichte zu erzählen“. Seitdem habe ich einige Interviews mit Leuten, die | |
| irgendwas mit der Türkei zu tun haben, geführt. „Langsam hast du genug | |
| zusammen für ein Buch: Doris’ lustige Türken-Interviews“, sagte Deniz | |
| irgendwann. Ein Interview mit ihm selbst, weil er im Gefängnis sitzt, war | |
| darin nie vorgesehen. | |
| Dieses Interview ist auf ungewöhnliche Weise entstanden. Meine Fragen habe | |
| ich schriftlich über Deniz’ Anwälte gestellt und Deniz hat sie über die | |
| Anwälte schriftlich beantwortet. Meine Rückfragen und seine Antworten dazu | |
| gingen dann auf demselben Weg noch zwei Mal hin und her. Dazwischen lagen | |
| jeweils mehrere Tage. | |
| Meine Fragen, so hoffe ich, sind auch die Fragen, die Leser interessieren, | |
| die Deniz nicht so gut kennen. Sicher bleiben tausend Fragen offen. Vor | |
| allem die, die ich nicht stellen konnte, weil er sie nicht beantworten | |
| kann: Deniz, wann wirst du das Meer sehen?“ | |
| taz am wochenende: Deniz, wie geht es dir? | |
| Deniz Yücel: Och, ganz okay. Danke der Nachfrage. Obwohl noch immer keine | |
| Anklageschrift vorliegt, weiß ich ja, weshalb ich eingesperrt bin: weil | |
| ich, so meine ich mir einbilden zu können, meinen Job als Journalist | |
| ordentlich gemacht habe. Und obwohl ich in Einzelhaft sitze, weiß ich, dank | |
| der vielen Menschen, die sich für mich und für meine inhaftierten Kollegen | |
| einsetzen, dass ich nicht alleine bin. Das hilft mir sehr. | |
| Du hast im Juni in der Welt [2][beschrieben], dass es auch im Knast so was | |
| wie ein Wochenende gibt. Alltag im Gefängnis – wie sieht der bei dir aus: | |
| Gehst du jeden Abend um die gleiche Uhrzeit schlafen? Fragen die Wärter | |
| dich morgens, wie es dir geht? Schneidest du so wie Paulie in deinem | |
| Lieblingsfilm „Goodfellas“ den Knoblauch mit der Rasierklinge? | |
| Silivri Nr. 9 ist ein Hochsicherheitsgefängnis; es gibt hier nichts, das du | |
| aus „Die Verurteilten“ oder „Orange Is the New Black“ kennst – keinen | |
| gemeinsamen Hofgang, keine Gemeinschaftsduschen, keinen Essenssaal. Und | |
| natürlich keine Rasierklingen. Es kommt auch niemand, um abends das Licht | |
| abzuschalten, sodass ich wie gewohnt spät zu Bett gehe; meistens gegen zwei | |
| Uhr nachts. Dafür muss ich den Strom selber bezahlen. | |
| Wie bitte? Aber Miete musst du nicht bezahlen? | |
| Nee, nur Strom. Einmal im Monat kommt die Rechnung. Die Aufseher schließen | |
| morgens die Tür zu meinem kleinen Hof, nehmen Anträge und Einkaufslisten | |
| entgegen und schauen natürlich nach, ob noch alle da sind. Dann sind sie | |
| immer in Eile, ebenso, wenn sie abends zum Abschließen und Nachschauen | |
| kommen. Bei anderen Gelegenheiten plaudern wir schon, etwa wenn sie mich | |
| zum Anwaltsgespräch begleiten. Wenn ich mir aus den wöchentlichen Einkäufen | |
| im Knastladen etwas Warmes zu essen zubereiten oder das Gefängnisessen | |
| aufbessern möchte, bleibt mir nur der Dampf aus dem Wasserkocher und ein | |
| Gurkenglas. Hier würden auch Paulies Kochkünste an ihre Grenzen stoßen. | |
| Apropos: Wenn du selber als Geisel genommen wirst, vergeht dir die Lust auf | |
| Mafiageschichten. | |
| Als du am 1. März ins Gefängnis von Silivri überstellt wurdest, sagte mir | |
| dein Anwalt Veysel Ok, dass es dir dort besser gehen werde als in dem | |
| Schmuddelknast Metris in Istanbul: „[3][Er kann dort Freunde finden.]“ Hast | |
| du welche gefunden? | |
| Meine Anwälte leisten unter auch für sie persönlich schwierigen Bedingungen | |
| großartige Arbeit. Aber Veysel konnte nicht ahnen, dass ich in Einzelhaft | |
| kommen würde. Dafür gibt es nämlich sonst kein anderes Beispiel; in | |
| Istanbul bin ich der einzige Journalist in Einzelhaft. Normalerweise | |
| bedeutet Einzelhaft übrigens auch keine völlige Isolation, es gibt Sport in | |
| größeren Gruppen, und für einige Stunden in der Woche kann man sich mit | |
| anderen Gefangenen seiner Wahl zusammenschließen lassen. Mit dem | |
| Ausnahmezustand wurden diese Dinge abgeschafft. Immerhin: Seit Mai werden | |
| im Gefängnis Silivri Nr. 9 die Gefangenen in Einzelhaft für eine Stunde in | |
| der Woche auf den kleinen Sportplatz gelassen. | |
| Du kannst jetzt also Fußball spielen? | |
| Nein. Denn anders als meine Nachbarn – meist ehemalige Richter und | |
| Polizeioffiziere – bin ich sogar dort alleine. Vorteil: Ich verlasse den | |
| Platz stets als Sieger – könnte auch für den HSV oder die türkische | |
| Nationalmannschaft ein interessantes Modell sein. Ich glaube, stattdessen | |
| habe ich draußen viele neue Freunde gefunden. Hier drinnen aber nur einen: | |
| den Richter in der Nachbarzelle, mit dem ich mich brüllend von Hof zu Hof | |
| unterhalten kann, ohne dass wir uns je sehen würden. | |
| Ist der Richter noch da? | |
| Ja. Er hat zwölf Monate auf seine Anklageschrift gewartet und weitere vier | |
| auf die Prozesseröffnung. Eines muss ich dazu sagen: Ich halte nicht alle | |
| 4.500 Richter und Staatsanwälte, die seit dem Putschversuch entlassen | |
| wurden und von denen etwa die Hälfte verhaftet wurde, für unschuldig. So | |
| manche haben sich als Anhänger der Gülen-Organisation in den politischen | |
| Verfahren des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht und gehören tatsächlich auf | |
| die Anklagebank – zusammen mit den Verantwortlichen in der Regierung, die | |
| diese Prozesse gefördert und unterstützt haben. Anderseits sitzen viele | |
| Richter in Haft, die mit alledem nichts zu tun hatten. Das gilt auch für | |
| meinen Nachbarn. | |
| Du wartest seit über acht Monaten auf deine Anklageschrift. Sind die | |
| Staatsanwälte überfordert oder lassen sie sich absichtlich Zeit? | |
| Türkische Staatsanwälte haben in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie | |
| beides können: sowohl seriöse Anklageschriften als auch fantastische | |
| Literatur. In den Verfahren gegen die unmittelbar am Putschversuch | |
| beteiligten Militärs und Zivilisten haben sie – soweit ich das aus der | |
| Medienberichterstattung beurteilen kann – nicht nur überzeugende Beweise | |
| für die individuelle Tatbeteiligung vorgelegt, sondern auch für die | |
| federführende Rolle der Gülen-Organisation. Dennoch sind viele Fragen im | |
| Zusammenhang mit dem Putschversuch unklar. Grob gilt: Je mehr sich die | |
| Anklageschriften von den Vorgängen in jener Nacht entfernen, umso dünner | |
| werden sie. In den Anklageschriften gegen Journalisten, oppositionelle | |
| Politiker und kurdische oder linke Aktivisten zählen rechtsstaatliche | |
| Prinzipien oder bloß Logik und Vernunft wenig. Die Fantasie ist so groß wie | |
| die Schamgrenze niedrig. An Überforderung kann es also nicht liegen. | |
| Allerdings liegt die Initiative auch nicht bei der Staatsanwaltschaft. Ein | |
| Wort vom Chef und Anklageschrift, Prozesseröffnung und Freilassung laufen | |
| in Rekordzeit, wie wir das bei Peter Steudtner und den anderen | |
| Menschenrechtsaktivisten gesehen haben. | |
| Du meinst, Freilassung ist Chefsache? | |
| Ja. Schließlich hatte sich der Staatspräsident öffentlich zum Chefankläger | |
| aufgeschwungen. Dasselbe hat er bei mir gemacht, bei den | |
| Oppositionspolitikern, bei Selahattin Demirtaş, und zuletzt beim | |
| Unternehmer und Bürgerrechtler [4][Osman Kavala]. | |
| Sind die Spatzen, die im Frühjahr in deinem Hof genistet haben, noch da? | |
| Die Spatzen haben ihr Nest in der Sicherheit eines | |
| Hochsicherheitsgefängnisses gebaut. Und als die Brut groß genug wurde, sind | |
| sie ausgeflogen. Die sind ja nicht doof, die Spatzen. | |
| Sind die Wärter überrascht, dass du immer noch da bist? | |
| Silivri Nr.9 ist eine Art Promiknast; die meisten Häftlinge, für die sich | |
| eine größere Öffentlichkeit interessiert, sitzen hier. Vor ein paar Jahren | |
| waren hier İlker Başbuğ, der vormalige Generalstabschef der türkischen | |
| Armee, und andere ranghohe Militärs inhaftiert. Heute sitzt hier zum | |
| Beispiel Hüseyin Avni Mutlu, während der Gezi-Proteste 2013 Gouverneur | |
| von Istanbul. Ich glaube, die Aufseher in Silivri Nr. 9 wundern sich über | |
| gar nichts und haben noch mehr als alle übrigen Bürgerinnen und Bürger | |
| dieses Landes folgende Wahrheit verinnerlicht: Das hier ist Türkiye, hier | |
| kann jederzeit alles passieren. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die | |
| Aufseher Angst haben, etwas falsch zu machen. Ein Angstregime richtet sich | |
| nicht allein gegen Kritiker, sondern umfasst auch die Angehörigen des | |
| Unterdrückungsapparats. Vollzugsbeamte, Richter, hohe Beamte, sogar | |
| Regierungspolitiker – jeder hat Angst. Nur einer nicht. Oder besser: Er hat | |
| noch mehr Angst als alle anderen, weil er weiß, was ihm blüht, falls er die | |
| Macht verlieren sollte. Und darum unterwirft er eine ganze Gesellschaft | |
| seinem Angstregime. | |
| Im Juli hast du [5][in einem Text] für die Welt geschrieben: | |
| „Türkei-Korrespondent müsste man jetzt sein.“ Wie viel von dem, was | |
| deutsche Medien über die Türkei schreiben, kriegst du mit? | |
| Ich freue mich, dass die deutsche Öffentlichkeit weiterhin so großen Anteil | |
| an den Geschehnissen in der Türkei nimmt. Und ich bin meiner Zeitung, der | |
| Welt, und den Kolleginnen und Kollegen in allen deutschen Redaktionen | |
| dankbar, die mich nicht vergessen. Die deutschen Medien verfolge ich eher | |
| indirekt über die türkischen. Meine Anwälte bringen mir manchmal wichtige | |
| Artikel mit. | |
| Von den Zeitungen, die du derzeit abonniert hast: Welche hat den besten | |
| Sportteil? | |
| Unabhängig von der politischen Ausrichtung und egal, ob sie nur eine oder | |
| gleich fünf Sportseiten haben – die türkischen Zeitungen sind alle sehr | |
| fußballistisch, wie es mein Freund und früherer Tischnachbar Jan Feddersen | |
| formulieren würde. Sportfeuilleton, das ich gerne lese, gibt es so gut wie | |
| gar nicht. Dafür habe ich die 11 Freunde, die mir mein Freund Imran | |
| regelmäßig schickt. Die gefällt sogar der „Bildungskommission“, die alle | |
| Druckwerke überprüft, die mir geschickt werden. Die einzige deutsche | |
| Zeitung, die ich regelmäßig erhalte, ist die taz. (Dass ich jemals in den | |
| Genuss eines taz-Knastabos kommen würde, hätte ich auch nicht gedacht, | |
| vielen Dank dafür. Und liebe taz-Leserinnen und -Leser, vielen Dank für | |
| [6][die Geburtstagsgrüße]!) Außerdem schickt mir Chefredakteur Tim Wolff | |
| regelmäßig die Titanic. Beim ersten Mal waren die Aufseher sehr | |
| misstrauisch. Ich habe dann gesagt: „Das sind ein paar Jungs aus Frankfurt, | |
| die machen immer so Witze.“ Das hat die Wärter überzeugt. Seither läuft die | |
| Übergabe reibungslos. | |
| Du hast dir von deiner Schwester Ilkay vor ein paar Monaten Leo Tolstois | |
| „Krieg und Frieden“ mitbringen lassen. Hast du extra dick bestellt, weil | |
| man nie weiß, wie lang so ein Gefängnisaufenthalt dauern kann? | |
| So ungefähr. Allerdings muss ich gestehen, dass ich das Buch noch immer | |
| nicht angefangen habe zu lesen. Vielleicht ein Fehler. Denn womöglich | |
| verhält es sich so wie mit der Zigarette beim Warten auf den Bus: Zündest | |
| du sie dir an, kommt er sicher. | |
| Die mächtigsten Krieger, heißt es in „Krieg und Frieden“, sind Zeit und | |
| Geduld. Du musst sehr viel Zeit rumkriegen und Geduld aufbringen. Was an | |
| deiner Situation in der Einzelhaft macht dir am meisten Sorgen? | |
| Isolationshaft ist Folter. Auch wenn ich eigentlich guter Dinge bin, kann | |
| ich nicht absehen, welche langfristigen Folgen das haben wird. Nur eine | |
| Folge ahne ich bereits: Ich werde jeden vollquatschen, der mir über den Weg | |
| läuft. Am meisten wird das natürlich Dilek ausbaden müssen. Dabei tut sie | |
| jetzt schon so unendlich viel für mich. Und ich glaube, diese | |
| Haftbedingungen haben auf alle eine ähnliche Wirkung, auch auf weniger | |
| gesprächige Menschen. | |
| Trotzdem: Immer wieder fragen mich Leute, ob Einzelhaft gerade für jemanden | |
| wie dich, der so gerne redet, besonders hart ist. | |
| Das wirst du mir vielleicht nicht glauben, aber ich habe mal gelernt: Man | |
| muss ja nicht immer reden. Ansonsten schreibe ich lange Texte. Anfang | |
| kommenden Jahres wird in der Edition Nautilus mein neues Buch erscheinen. | |
| Titel: „Wir sind nicht zum Spaß hier“. Eine Auswahl aus meinen Texten in | |
| der Welt, der taz und der Jungle World. Dazu zwei neue Beiträge und einen | |
| Beitrag von meiner Frau Dilek. | |
| Und du hast ja noch deine Anwälte, richtig? | |
| Oh ja. Und zum Glück unterlagen meine Gespräche mit den Anwälten nie | |
| irgendwelchen Beschränkungen. Zu mir kommen nicht nur meine eigenen, | |
| sondern auch Anwälte, die hier andere Mandanten betreuen, setzen mich | |
| regelmäßig auf ihre Besuchslisten. Und manche fahren nur aus Solidarität | |
| achtzig Kilometer nach Silivri, auch wenn sie im engeren Sinne mit keiner | |
| Verteidigung betraut sind. Die Anwälte sind die stillen Heldinnen und | |
| Helden dieser Epoche der türkischen Geschichte. Soweit mir bekannt, hat die | |
| schwierigsten Haftbedingungen der Journalist Nedim Türfent zu ertragen. Der | |
| Mitarbeiter der inzwischen per Erlass geschlossenen prokurdischen | |
| Nachrichtenagentur Diha sitzt seit 17 Monaten im Gefängnis, ein Jahr davon | |
| in Einzelhaft; lange Zeit bekam er weder Zeitungen noch Bücher. Für seinen | |
| Fall würde ich mir eine größere internationale Aufmerksamkeit wünschen. Der | |
| nächste Prozesstag ist am 17. November in Hakkari im äußersten Südosten des | |
| Landes. #FreeNedim. | |
| Dein Anwalt hat in deinem Namen vor dem [7][Europäischen Gerichtshof] für | |
| Menschenrechte Beschwerde über deine Inhaftierung eingelegt. Das Gericht | |
| hat den Fall mit Vorrang behandelt und der Türkei eine letzte | |
| Fristverlängerung für ihre Stellungnahme bis zum 28. November gewährt. Was | |
| erhoffst du dir von diesem Gericht? | |
| Nach all der Verschleppungstaktik der türkischen Seite hoffe ich, dass der | |
| Gerichtshof nun zügig handelt. Also dass der Gerichtshof für die | |
| überschaubare Anzahl von Journalisten und Abgeordneten, deren Klagen er | |
| bevorzugt zu behandeln beschlossen und in deren Fällen er die türkische | |
| Regierung zur Stellungnahme aufgefordert hat, ein Urteil zur Inhaftierung | |
| spricht. Und danach werde ich gespannt sein, ob die türkische Regierung ein | |
| Urteil aus Straßburg zur Haftentlassung befolgen wird. Das türkische | |
| Verfassungsgericht hat sich ja komplett abgemeldet. In anderen aktuellen | |
| Verfahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bislang | |
| zugunsten der türkischen Regierung entschieden – etwa im Fall der | |
| zehntausenden entlassenen Lehrer und anderer Beamter. Die hat man auf eine | |
| Kommission in der Türkei verwiesen. Das hat viele türkische Oppositionelle | |
| enttäuscht. Ich verstehe diese Enttäuschung. Doch ich weiß auch: Der | |
| Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde gegründet, um einzelne | |
| Menschenrechtsverletzungen zu korrigieren; nicht, um das Abdriften eines | |
| Landes in den Faschismus aufzuhalten. | |
| „Der Witz hat einen Bart. Beenden Sie diese Komödie“, hat Musa Kart, der | |
| angeklagte Karikaturist der Cumhuriyet, in seiner Verteidigung [8][den | |
| Richtern gesagt]. Als was, glaubst du, werden die derzeitigen | |
| Gerichtsverfahren gegen Journalisten in der Türkei in die Geschichte | |
| eingehen? | |
| Als Schande. Wie die mit gefälschten Beweisen geführten Prozesse der | |
| Gülenisten-Justiz in den Jahren 2007 bis 2011. Oder die Prozesse der | |
| Militärjunta nach dem Putsch von 1980, in denen man mit systematischer | |
| körperlicher Folter Geständnisse aus den Angeklagten herauszupressen | |
| versuchte. Die Frage ist nicht, ob ein autoritäres Regime zusammenbricht; | |
| die Frage ist, welche womöglich irreversiblen Schäden es bis dahin am | |
| Schicksal Einzelner, an der Gesellschaft, an der Natur und am kulturellen | |
| Erbe anrichtet. | |
| Der beste Präsident wo gibt hat in einem Interview mit Giovanni di Lorenzo | |
| in der Zeit [9][über die Deutschen gesagt]: „Sie gehen schlafen, Sie wachen | |
| auf und sagen: Deniz“. Er hat recht. Sollten wir besser die Klappe halten, | |
| damit er das Interesse an dir verliert? | |
| Eine berechtigte Frage. Aber ich glaube, die Antwort lautet: nein. In den | |
| letzten Monaten hat er sich kaum noch über mich geäußert. Trotzdem hat sich | |
| an meiner Lage nichts verändert. Darüber, was in den Köpfen anderer Leute | |
| vorgeht, können wir nur spekulieren. Aber ich weiß, wie es mir gehen würde, | |
| wenn die Öffentlichkeit mich vergessen würde: nicht so gut. | |
| Du hast kurz nach dem Putschversuch Ende Juli 2016 in der Welt [10][einen | |
| Kommentar geschrieben], der den Titel trug: „Vielleicht fällt Erdoğans | |
| Diktatur ja doch aus.“ Hast du dich geirrt? | |
| Dilek meinte damals, ich würde die Dinge nur deshalb rosig sehen, weil ich | |
| in sie verliebt sei. Das weise ich natürlich zurück – also nicht das | |
| Verliebtsein, sondern dass ich mich in meinen politischen Einschätzungen | |
| von solchen persönlichen Gefühlen leiten lasse. In diesem Text Anfang | |
| August 2016 habe ich Indizien in aller Vorsicht zusammengetragen. Das Wort | |
| „Vielleicht“ stand nicht zufällig in der Überschrift. | |
| Anfang Oktober hast du in deiner Dankesbotschaft für den Leipziger Preis | |
| für die Freiheit und Zukunft der Medien von einem „teilzeitfaschistischen | |
| Regime“ gesprochen. Auf welche Kraft sollte man setzen, damit sich die | |
| politische Situation wieder in Richtung Teilzeitdemokratie entwickelt? | |
| Die große Frage lautet, ob sich die unterschiedlichen, teils | |
| gegensätzlichen politischen Kräfte – Sozialdemokraten, säkulare | |
| Nationalisten, Kurden, Liberale, Sozialisten, Kemalisten, Islamisten | |
| außerhalb der AKP – auf ein gemeinsames Minimalprogramm verständigen | |
| können, das meines Erachtens lauten muss: eine neue Verfassung, mit der das | |
| Referendum rückgängig gemacht wird und die das Erbe des Putsches von 1980 | |
| ersetzt. Das ist natürlich eine viel schwierigere Aufgabe, als wenn nur | |
| jeder für sich „Nein“ sagt. Eine nicht minder wichtige Frage lautet, ob in | |
| diesem Land unter diesen Umständen noch halbwegs freie und faire Wahlen | |
| stattfinden und eine einwandfreie Auszählung der Stimmen möglich sein wird. | |
| Wird Erdoğan im Fall einer Niederlage seine Macht einfach abgeben? | |
| Darauf wird die Opposition eine Antwort finden müssen. Doch wenn sie sich | |
| nicht zusammenrauft und eine Dynamik entfaltet und eine Erzählung | |
| entwickelt, die auch einen Teil der bisherigen AKP-Wähler anspricht, gerade | |
| das Heer der Armen und Arbeitslosen, dann wird sich diese Frage nicht | |
| stellen. Dann wird Erdoğan mit einem unsauberen Wahlkampf, aber mit einer | |
| sauberen Auszählung die wichtigste Wahl der türkischen Geschichte gewinnen. | |
| Welche Farbe haben eigentlich die Wände deiner Zelle? | |
| Beige. Und die drei Stahltüren (zum Flur, in den Hof und ins Bad), der | |
| Fensterrahmen samt Stahlgitter und das Stahlbett: dunkelbraun. | |
| Dunkelbraun sitzt jetzt auch im Bundestag. Schwarz-Gelb-Grün könnten die | |
| Farben der nächsten Bundesregierung sein. Gut oder schlecht für die | |
| Beziehungen Deutschland/Türkei? | |
| Joschka Fischer sagte kurz nach der Bundestagswahl 1998: „Es gibt keine | |
| grüne Außenpolitik, sondern nur eine deutsche Außenpolitik.“ Türkischen | |
| Oppositionspolitikern und vielleicht sogar so manchem AKP-Politiker muss | |
| ein solches Diktum geradezu traumhaft erscheinen. Denn die Türkei unter | |
| Erdoğan wollte einst nach Europa. Dann gab sie sich Träumereien von einem | |
| neuen Osmanischen Reich hin. Und seit Neuestem schwimmt sie in | |
| „eurasischen“ Gewässern. Eigentlich gibt es aber gar keine türkische | |
| Außenpolitik. Mit wem man sich gerade fetzt und mit wem man sich wann | |
| wieder versöhnt, folgt allein kurzfristigen innenpolitischen Erwägungen. | |
| Als Zustandsbeschreibung halte ich Fischers Satz für zutreffend, auch wenn | |
| er die Frage aufwirft, wer denn die deutsche Außenpolitik bestimmt, wenn | |
| nicht die durch demokratische Wahlen legitimierten Parteien. Ein weiterer | |
| deutscher Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, hat in seinen letzten | |
| Tagen in diesem Amt den sehr richtigen Satz gesagt: „Wir können es nicht | |
| verhindern, dass die Türkei in eine Diktatur abdriftet. Wir müssen dem aber | |
| auch nicht tatenlos zusehen.“ Die entscheidende Frage lautet also, was kann | |
| Deutschland, was kann Europa tun? | |
| Wie lautet deine Antwort? | |
| Ganz wichtig: die Zivilgesellschaft stärken. Und natürlich Druck ausüben. | |
| Aber das muss sitzen. Die EU-Beitrittsverhandlungen nicht abzubrechen, war | |
| zum Beispiel eine richtige Entscheidung. Das Einfrieren von EU-Geldern | |
| hingegen ist reine Symbolpolitik. Eine ganz schlechte Idee ist Starksprech | |
| – das ist etwa so erfolgversprechend, als würde man die Türken im Autokorso | |
| herausfordern anstatt im Biathlon. Auch keine gute Idee: Maßnahmen, die | |
| allein die Bevölkerung treffen wie der Visa-Beschluss der USA. Zuvor muss | |
| man aber die Frage beantworten, ob man bereit ist, auch bei den eigenen | |
| politischen und wirtschaftlichen Interessen Abstriche zu machen. | |
| Der deutsche Außenminister [11][behauptet], Exkanzler Gerhard Schröder hat | |
| mit dem türkischen Präsidenten über die Freilassung von Peter Steudtner | |
| verhandelt. Wenn du dir aussuchen könntest, wer über deine Freilassung | |
| verhandelt, wen würdest du wählen? | |
| Ich will einen fairen Prozess. Und den am besten gleich morgen. Nicht mehr. | |
| Nicht weniger. | |
| Es gibt zwar keine Märchenfee, die den Gefangenen drei Wünsche erfüllen | |
| kann, trotzdem: Was sind die drei wichtigsten Dinge, die du dir wünschst? | |
| Ich nehme nur einen Wunsch: Gerechtigkeit. Alles weitere ergibt sich | |
| daraus. Und die beiden übrigen Wünsche hebe ich für später auf, | |
| einverstanden? | |
| 10 Nov 2017 | |
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| [2] https://www.welt.de/politik/ausland/article165310698/Selbst-im-Knast-gibt-e… | |
| [3] /!5385963/ | |
| [4] /!5453882 | |
| [5] https://www.welt.de/politik/ausland/article166994264/Tuerkei-Korrespondent-… | |
| [6] /!5446176/ | |
| [7] /!5457294/ | |
| [8] /!5446454 | |
| [9] http://www.zeit.de/2017/28/recep-tayyip-erdogan-g20-gipfel-interview/komple… | |
| [10] https://www.welt.de/kultur/article157367496/Vielleicht-faellt-Erdogans-Dik… | |
| [11] /!5455832/ | |
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