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# taz.de -- Restaurantkritik-Serie Auf die Mütze (4): Ein Häuschen vervespern
> Wie wird man Restaurantkritiker? Erst mal sollte man im Lotto gewinnen.
> Denn die bewusste Wahrnehmung bei der Nahrungsaufnahme ist Luxus.
Bild: Hirschrücken an Blutwurst, Cranberries und Petersilienwurzel? 33 Euro
Einen Reisebuch-Autor, den ich zu mir nach Hause zum Essen eingeladen hatte
und den ich dafür bewunderte, wie sinnlich er auf seinen Reisen jede Szene
in sich aufsaugt, um sie später detailliert in seinen Beschreibungen
wiederzugeben, diesen Autor fragte ich am nächsten Morgen beim Frühstück,
was ich am Abend davor gekocht hätte. Ich ahnte da schon, dass er es nicht
wusste.
Nicht, weil es ein so kompliziertes Gericht gewesen wäre. Sondern weil ich
ihn dabei beobachtet hatte, wie er, während er intensiv erzählte, seinen
Teller leerte, ohne sonderlich darauf zu achten, was er da gerade zu sich
nahm. Es war eine vier Stunden in Rotwein geschmorte Ochsenbacke.
Die bewusste sensorische Wahrnehmung bei der Nahrungsaufnahme ist ein
Luxusthema. Sie funktioniert nämlich nur, wenn man sich nicht allzu
hungrig an einen Tisch setzt. Ab einem gewissen Grad von Hunger schmeckt
alles Essbare wunderbar. Oder anders: Nur ein satter Bauch kann genießen.
Doch jenseits dieser primären Bedürfnisbefriedigung gibt es auch in
wohlhabenden Gesellschaften eine beachtliche große Zahl von Menschen, denen
die Qualität bei der Zubereitung von Gerichten herzlich egal ist. Sie
kennen, wie mein Onkel Walter, nur zwei Kategorien, wenn sie über einen
Restaurantbesuch berichten: Es hat gut geschmeckt, und es gab große
Portionen.
## Vielen reicht, wenn es „wie immer“ schmeckt
Gut und viel – das reichte Onkel Walter sein Leben lang aus, um die
Qualität einer Gaststätte zu bestimmen. „Viel“ konnte man physikalisch
einigermaßen sicher messen, bei „gut“ war das schwieriger. „Gut“ war d…
Umschreibung dafür, dass nichts am Essen störend schmeckte, also nach einem
besonderen Gewürz und schon gar nicht nach einem unbekannten Aroma. Am
besten war es sogar, wenn es „wie immer“ schmeckte, also keinerlei
Überraschungen zu erwarten waren.
Wo und wie die Lust an kulinarischen Erlebnissen beim Menschen entsteht, ob
die Kindesliebe zur Großmutter und ihren duftenden Bratkartoffeln dafür
zuständig ist oder ob die Genussfähigkeit nur eine Form der Substituierung
von Sex ist („Essen ist der Sex des Alters“), konnte noch nicht
abschließend geklärt werden. Wenn ich meine eigene Küchensozialisation
zugrunde lege, hat es aber schon irgendwie mit Sex zu tun.
Als 16-Jähriger ging ich auf eine Waldorfschule und kannte Lehrerinnen vor
allem als ältere grauhaarige Damen in langen Röcken. Bis eines Tages Frau
Kersten als neue Englischlehrerin in unserer Klasse erschien. Circa 1,80
Meter groß, blond und in einem knallroten Minirock, wie er wohl bis dahin
an einer Waldorfschule noch nicht gesehen ward.
Der Ehemann von Frau Kersten betrieb in unserer Stadt ein französisches
Restaurant, in dem sie am Abend bediente. Mein ganzes Taschengeld brachte
ich in den folgenden Monaten dorthin, immer in der Sehnsucht nach den
langen Beinen von Frau Kersten. Nebenbei aß ich irgendetwas Französisches
und bemerkte beiläufig, dass mir diese Art der Küche viel besser schmeckte
als jene zu Hause. Frau Kersten hielt es nicht lange an der Waldorfschule
aus. Aber die Lust am Essen ist mir geblieben.
## So teuer wie ein Reihenhaus
Seit dieser Zeit habe ich ungefähr den Wert eines Reihenhauses (Berliner
Stadtrandlage) in diversen Restaurants ausgegeben. So viel muss man
ausgeben, um professionell mitreden zu können. Das hat Wolfram Siebeck
gesagt, [1][der 2016 verstorbene Grandseigneur der deutschen
Restaurantkritik]. Auf die Frage: „Wie wird man Restaurantkritiker?“
antwortete Siebeck: „Sie müssen als Erstes im Lotto gewinnen und dann den
Wert eines Reihenhauses in sehr guten Restaurants ausgeben. Dann können Sie
mitreden.“
Das klingt nicht nur ein wenig elitär, sondern ist es auch. Der Besuch
eines Gourmet-Restaurants ist für Hartz-IV-Bezieher eher selten möglich.
Der Hirschrücken mit französischer Blutwurst, Cranberries,
Petersilienwurzel und Rotwein-Schalotten, den ich gestern aß, kostete
immerhin 33 Euro, was für ein Spitzenrestaurant noch nicht einmal viel Geld
ist. Im 3-Sterne-Restaurant „L’Hôtel de Ville“ am Genfer See verlangen s…
für das Menü 325 Schweizer Franken, etwa 300 Euro. Ohne Getränke. Das Lokal
war, zumindest als ich an einem Nachmittag unter der Woche dort aß, bis auf
den letzten Platz gefüllt.
Man ist daher schnell bei der Hand, diese Form der Nahrungsaufnahme als den
abscheulichen Ausdruck von Dekadenz abzutun. Und tatsächlich lässt sich die
Schere unserer Klassengesellschaft kaum besser ablesen als an den Gästen
eines 3-Sterne-Lokals und denjenigen einer sozialen „Tafel“.
Aber daraus zu schließen, nur wer viel Geld für Essen ausgibt, verfüge auch
über bessere Geschmackssensoren, der irrt gewaltig. Für einen Großteil der
Gäste ist der Besuch eines Edelrestaurants lediglich Statusgehabe. Im
Grunde würden sie sogar lieber eine Currywurst mit Pommes verdrücken als
ein Hummersüppchen mit gebackenem Tartar vom Kobe-Rind. Aber sie müssen zu
Schuhbeck, Wohlfahrt und Co., weil sie Eindruck bei ihren Ehefrauen oder
Geschäftspartnern hinterlassen wollen.
## Drei Gänge für 38 Euro als Schnäppchen
Diese Menschen können einem genauso leidtun wie jene, die gern besser essen
würden, es sich aber nicht leisten können. Viele Restaurant-Führer haben
deshalb in den vergangenen Jahren auch Lokale bewertet, die gute Leistungen
zu bezahlbaren Preisen anbieten. Beim Michelin-Führer wurde dafür sogar ein
eigenes Logo geschaffen, das BIB-Gourmand-Männchen. Die Bedingung: ein
3-Gänge-Menü darf nicht mehr als 38 Euro kosten.
Ein Koch, der bei der Auswahl der Produkte und bei der Zubereitung mit
Sorgfalt zur Sache geht, wird daran nicht viel verdienen.
Wem das immer noch zu teuer ist und wer seinen Geschmackssinn noch nicht
bei Lieferando und Co. abgegeben hat, der sei an dieser Stelle getröstet:
Krosse Bratkartoffeln mit ordentlich zubereitetem Marktgemüse der Saison
können ein Abendessen zu Hause zu einem kulinarischen Festakt werden
lassen, bei dem man über die Ungerechtigkeit der Welt auch noch so laut
fluchen darf, wie man will.
12 Feb 2018
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## AUTOREN
Philipp Mausshardt
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