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# taz.de -- Restaurantkritik-Serie Auf die Mütze (2): Alles, bloß nicht „le…
> Wie Essen aussieht, ist gut zu beschreiben. Bei Geruch und Geschmack
> gehen uns die Wörter aus. Neues Gastro-Vokabular muss her!
Bild: Wir können die Form einer Wurst beschreiben, aber auch ihren Geschmack?
Dieser Text beginnt im Speisewagen der Deutschen Bahn. Ich wollte auf der
Strecke Berlin–Stuttgart (immerhin rund sechs Stunden Fahrtzeit) etwas zu
essen bestellen. Auf der sechsseitigen Speisekarte stand der Hinweis, es
gebe „aufgrund technischer Einschränkungen in der Bordküche“ nur ein
einziges warmes Gericht: ein Schinken-Käse-Baguette für 4,90 Euro mit den
Zusatzstoffen 1, 2, 5 und 9. Daneben lag eine Broschüre, die immerhin 22
Seiten dick war: „Zutaten und Allergene des aktuellen Speisenangebots.“ 6
zu 22 Seiten – das ist ein bemerkenswertes Verhältnis.
Auf Seite 9 erfuhr ich, dass der heute wegen technischer Einschränkungen
nicht angebotene „Wurstaufschnitt mit Pastrami“ der Deutschen Bundesbahn
immerhin 22 Prozent Rind- und Schweinefleisch enthält, ansonsten aber
Maltodextrose, Dextrose, Würze, Antioxidationsmittel, Aroma,
Starterkulturen, Buchenrauch und „essbare Hüllen“. Ich war dann doch sehr
froh, dass die Bordküche der Bahn heute „nicht wie gewohnt servieren“
konnte.
Als Restaurantkritiker im Speisewagen der Deutschen Bahn essen zu müssen
ist ungefähr so attraktiv, wie wenn ein FC-Bayern-Fan sich das Fußballspiel
des SV Gotteszell anschauen muss. Aber wenn man kurz nach dem Bahnhof von
Hildesheim Hunger bekommt, ist einem vieles egal. Ich muss etwas
verzweifelt geschaut haben, denn die freundliche Servicekraft raunte mir
verschwörerisch zu, sie habe noch eine Portion Rührei mit Würstchen. „Dann
bitte das“, sagte ich, und erstaunliche drei Minuten später stand ein
Teller mit einer gelben Masse und drei kleinen Würstchen vor mir; eine Tüte
Senf und eine Tüte Ketchup rundeten das Ensemble ab.
In meinem Nebenberuf als Restaurantkritiker sitze ich häufig vor viel
komplexeren Gebilden als Rührei mit Würstchen und suche nach Worten, um zu
beschreiben, was sich da an ausgetüftelten Kompositionen auftürmt.
Gelatinewürfel aus dekonstruiertem Rotkohl neben weißen Klecksen von
getrüffeltem Selleriemousse, und grüne geeiste Basilikumperlen
kontrastieren mit dem rosa gebratenen Hirschmedaillon.
## Olfaktorisch wird es kniffelig
Der optische Eindruck lässt sich ja leicht beschreiben. Wenn es dann noch
knackt, flutscht oder sich sämig anfühlt, im Mund aufpoppt oder von fest zu
flüssig mutiert, hat man wenigstens die Texturen des Essens beschrieben.
Aber es ist nicht einfach, ein Geschmackserlebnis so in Worte zu fassen,
dass es beim Leser auch einen olfaktorischen (Geruchsinn) und
gustatorischen (Geschmacksinn) Eindruck hinterlässt.
„Lecker“ wäre womöglich der richtige Ausdruck dafür, aber dieses Wort da…
ein professioneller Restaurantkritiker bei Todesstrafe nicht verwenden.
„Lecker“ ist die Bezeichnung von Dilettanten. „Lecker“ ist wie „nett�…
kleine Schwester von „scheiße“, ein Ausdruck der Hilflosigkeit. „Lecker�…
schreiben Menschen über Essen, wenn sie nichts davon verstehen. „Hat lecker
geschmeckt“ heißt: Ich habe keine Ahnung von guter Küche.
Aber wie lässt sich ein Kurkumaparfait beschreiben, damit im Mund des
Lesers der Geschmack von Kurkuma entsteht – obwohl er das noch gar nicht
kennt? Vor einer ähnlichen Aufgabe stehen ja auch Musikkritiker. Ich habe
größten Respekt vor der Aufgabe, ein Konzert zu beschreiben, das die Leser
nicht gehört haben.
In meiner Heimatzeitung, dem Reutlinger Generalanzeiger, las ich kürzlich
über die Aufführung von „Don Juan“ durch das baden-württembergische
Landesblasorchester: „Deshalb ‚Don Juan‘, auch wenn die Liebe, nach der
jener giert, eher weniger jene Form mildtätiger Solidarität ist, die die
LBO-Musiker an diesem Abend praktizieren; sondern viel eher Sinnlichkeit,
Erotik, ja, schwafeln wir nicht drum herum: Sex.“ Großartig, dachte ich,
Sex und Blasorchester. Ich versuchte, mir am Frühstückstisch die
Mozart-Oper vorzustellen, aber es wollte nichts wirklich in meinem inneren
Ohr klingen.
Süß, sauer, salzig, bitter. Viel mehr Begriffe, um einen Geschmack zu
beschreiben, gibt es nicht. Umami, die fünfte Geschmacksqualität, am
ehesten mit „fleischig, würzig“ umschrieben, kennt schon kaum ein Mensch.
Manches ist auch „scharf“, aber das ist keine Geschmacksnote, so wenig wie
kalt oder warm.
## Weintrinker haben es besser
Weintrinker hängen ihre Nasen tief ins Glas und riechen Litschi,
Johannisbeere, Leder oder auch mal einen nassen Waschlappen. Beim
Tellergericht versagt diese Fantasie dagegen total.
Dabei könnte eine geschmorte Rinderbacke ja auch nach Heustall oder nach
frisch gewachstem Linoleumboden duften, wer weiß? Doch im Gegenteil: Die
meisten Kritiker flüchten sich in Stereotype, oder, um in der Küche zu
bleiben, in abgestandene oder endlos aufgekochte Formulierungen. Da ist
dann die „marokkanische Gewürzmischung harmonisch eingebunden“ oder
„konstrastiert die Süßkartoffelcrème aufs Trefflichste zur Säure der
Kirschtomate“.
Wir brauchen dringend neue Wörter, um über Geschmack zu sprechen und zu
schreiben. Die Vanillesoße lindnerte (verflüchtigte sich nach kurzem,
intensivem Geruch), das Bärlauchpesto päpstelte (schickte auch Stunden nach
dem Essen noch unangenehme Botschaften aus der Magengegend), und das
Schoko-Kirsch-Sorbet al-qaidate (explodierte im Mund) … Okay, da ist auch
noch Luft nach oben (Vorschläge werden gerne angenommen, schreiben Sie an
[1][[email protected]]).
Wenn mir gar nichts mehr einfällt, suche ich Anregungen bei Kollegen, deren
Begabung größer ist als die meine oder die unter Drogen standen, als sie
über ihren Steinbutt an Yuzu und Erbsenpüree schrieben. Fündig werde ich
oft bei Großkritiker Jürgen Dollase, der seit vielen Jahren für die FAZ
schreibt. Dort lese ich Sätze wie diesen: „Die Mechanik dieser Kreation …
setzt nun nicht auf den klassisch-engen Akkord, dessen Charakteristik aus
der Verbindung von Elementen besteht, die von Textur und Temperatur ähnlich
sind und aromatisch nahe beieinanderliegen, sondern auf das plastisch
inszenierte Freistellen der Aromen und eine zurückhaltenden Verzahnung von
Hintergrundnoten.“
So schön hätte ich auch gerne über das Rührei der Bundesbahn geschrieben.
8 Dec 2017
## LINKS
[1] /[email protected]
## AUTOREN
Philipp Mausshardt
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