| # taz.de -- Warnung des Weltklimarats IPCC: Steil nach unten und zwar schnell | |
| > Ab 2020 müssen die globalen CO2-Emissionen sehr schnell sehr tief fallen, | |
| > um die Klimaziele zu erreichen. Die Trendwende wäre aber möglich. | |
| Bild: Weniger Konsum = mehr Zukunft | |
| Sie kommen zu Tausenden und sind laut. Mit Kochtöpfen und Sprechchören, mit | |
| Treckern und Transparenten werden am Samstag Kritikerinnen und Kritiker der | |
| Agrarindustrie auf Berlins Straßen demonstrieren. Es ist wieder „Grüne | |
| Woche“ und Agrarministerkonferenz, und wieder fordern die Gegner der | |
| industriellen Landwirtschaft bessere Tierhaltung, weniger Macht für die | |
| Industrie, flächendeckenden ökologischen Anbau und mehr Einkünfte für | |
| Bauern. Im Aufruf zur Demo werden eine „globale Ernährungswende und | |
| gerechter Handel“ gefordert: „Wir schlagen Alarm!“ | |
| Dafür gibt es gute Gründe. Die industrielle Landwirtschaft ruiniert nicht | |
| nur Bauern, Böden und Biodiversität, sondern auch das Klima. Etwa 15 | |
| Prozent der Treibhausgase weltweit stammen aus der Landwirtschaft. Vor | |
| allem Viehzucht und Waldzerstörung heizen die Atmosphäre auf. Auch darauf | |
| weist der Sonderbericht des Weltklimarats IPCC hin, der diese Woche durch | |
| die taz an die Öffentlichkeit gelangt ist. Der Tenor des internen Entwurfs | |
| für den „Sonderbericht 1,5“ klingt wie das Motto der Berliner | |
| Demonstration: Wir schlagen Alarm. | |
| Die Landwirtschaft ist allerdings beim Klimawandel nicht nur Täter, sondern | |
| auch Opfer. „Über 100 Millionen Menschen werden durch Klimaschäden in der | |
| Landwirtschaft und höhere Lebensmittelpreise in die Armut abrutschen“, | |
| warnen die WissenschaftlerInnen. So steht es in dem Papier, das sie derzeit | |
| erstellen. Bis zum Herbst soll es klären, ob und wie das Ziel des Pariser | |
| Abkommens noch zu erreichen ist: Die Erderwärmung bis 2100 auf 1,5 Grad | |
| Celsius im Schnitt zu begrenzen. | |
| Die Experten sind deutlich: Ohne große zusätzliche Anstrengungen wird das | |
| Ziel verfehlt. „Es besteht ein sehr hohes Risiko, dass die Erderwärmung bei | |
| den aktuellen Emissionspfaden und Klimaplänen der Länder 1,5 Grad gegenüber | |
| vorindustriellem Niveau überschreiten wird.“ Offiziell äußert sich das IPCC | |
| nicht zu dem geleakten Papier, intern heißt es, man habe das 1,5-Grad-Ziel | |
| keineswegs aufgegeben. | |
| ## Drastische Mittel notwendig | |
| In der Tat analysieren die Wissenschaftler auch Szenarien (etwa ein Dutzend | |
| von mehreren hundert), die die Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen, ohne ein | |
| „Überschießen“ („overshoot“) – wenn also die Grenze zeitweilig | |
| überschritten wird, dann aber wieder sinkt, wenn das CO2 aus der Luft | |
| gefiltert wird. | |
| Um halbwegs sicher in die Nähe des 1,5-Grad-Ziels zu kommen, empfehlen die | |
| Wissenschaftler des IPCC eine Schocktherapie im Klimaschutz: eine radikale | |
| Senkung beim Ausstoß von Klimagasen ab 2020. „Dafür müssen die Emissionen | |
| aus Kohle, Gas und Öl zwischen 2020 und 2030 und in jedem folgenden | |
| Jahrzehnt halbiert werden“, haben Klimawissenschaftler wie Hans Joachim | |
| Schellnhuber und Johan Rockström 2017 in ihrem Vorschlag für ein „Carbon | |
| Law“ gefordert. | |
| Das wäre eine historische Leistung. Bisher sind CO2-Ausstoß und | |
| Temperaturen fast immer nur gestiegen. Eine Halbierung der Emissionen in | |
| zehn Jahren ist weltweit ohne Vorbild – und doch zeigen die Modelle der | |
| IPCC-Wissenschaftler: Es wäre machbar, wenn auch mit drastischen Mitteln. | |
| So sei es notwendig, den Pro-Kopf-Energieverbrauch in den Industrieländern | |
| radikal zu senken, ebenso den Fleischkonsum, private Autofahrten, die | |
| Verschwendung von Lebensmitteln und die Waldzerstörung. | |
| Zur Mitte des Jahrhunderts müsse der Strom weltweit CO2-frei hergestellt | |
| werden und Erneuerbare das Energiesystem dominieren. Der Kohleverbrauch | |
| müsse jedes Jahr um etwa fünf Prozent fallen und weltweit CO2-Preise | |
| erhoben werden. Das Gute daran: Deutlich weniger Tote durch dreckige Luft | |
| und Wasser, eine bessere Gesundheit. | |
| ## Minus 95 Prozent bis 2050 sind machbar | |
| Eine ähnlich drastische Low-Carb-Diät hatten bereits 2016 die Thinktanks | |
| New Climate, Ecofys und Climate Analytics für 1,5 Grad präsentiert: 100 | |
| Prozent Erneuerbare, Kohle-Ausstieg, Ende des Verbrennungsmotors 2035, ab | |
| 2020 nur noch Null-Energie-Häuser. Eine bittere Pille hatte das Gutachten | |
| auch für viele Umweltschützer: Es forderte Forschung zu „negativen | |
| Emissionen“, dem von Ökos schwer bekämpften Versuch, CO2 aus der Luft zu | |
| filtern und zu speichern. | |
| Auch Deutschland wäre ein anderes Land, nähmen Regierung und Bevölkerung | |
| die Klimaziele ernst. Bis 2050 müsste der Stromverbrauch halbiert werden, | |
| rechnet das Bundeswirtschaftsministerium. Schon 2013 hat das | |
| Umweltbundesamt ein Szenario für ein „treibhausgasneutrales Deutschland“ | |
| entworfen. | |
| Fazit: Minus 95 Prozent bis 2050 sind machbar. Dafür müsste sich vor allem | |
| die Verschwendung von Energie und Rohstoffen radikal reduzieren. Dann wären | |
| 100 Prozent Ökostrom möglich, ebenso wie der Einsatz von ausschließlich | |
| ökologisch hergestellten Materialien in der Industrie. Der Verkehr würde zu | |
| 60 Prozent elektrisch sein, Methan und Treibstoffe aus Windstrom würden | |
| importiert, der Fleischverbrauch halbiert. | |
| Die Wissenschaftsakademien Leopoldina, acatech und die Akademieunion warnen | |
| allerdings in einer aktuellen Studie, die Umstellung von Verkehr, Heizung | |
| und Industrie auf Ökostrom koste zusätzlich 30 bis 80 Milliarden Euro im | |
| Jahr und brauche fünf- bis siebenmal so viele Solar- und Windparks wie | |
| heute. | |
| ## Grün ist billiger als Schwarz | |
| Auch Greenpeace hat gefordert, für die Paris-Ziele bräuchte Deutschland | |
| Vollversorgung mit Ökostrom schon 2035, den Kohleausstieg schon 2025. In | |
| jedem Jahrzehnt müssten zehn Prozent der Autofahrer ihre Wagen stehen | |
| lassen, 2035 nur noch Autos ohne Auspuff über die Straßen rollen, fünf | |
| Prozent aller Gebäude im Jahr saniert werden. | |
| Das klingt utopisch? Nicht wirklich, sagt inzwischen selbst der | |
| Bundesverband der deutschen Industrie (BDI). Die Wirtschaftslobby hat diese | |
| Woche ihre „Klimapfade 2050“ vorgestellt. Fazit: Minus 95 Prozent ohne | |
| internationale Abkommen sei „überambitioniert“ – aber minus 80 Prozent s… | |
| mit der jetzigen Technik und mit besserer politischer Planung machbar – und | |
| sogar im nationalen Alleingang und ohne Verluste beim Wirtschaftswachstum. | |
| BDI-Chef Dieter Kempf lehnt zwar ein Klimagesetz und scharfe Ziele für | |
| einzelne Branchen ab, aber: „Klimaschutz eröffnet vielen unserer | |
| Unternehmen langfristig Chancen auf dem Weltmarkt. Richtig gemacht, | |
| unterstützt er die Modernisierung einer Volkswirtschaft.“ | |
| Auch andere Entwicklungen machen das schier Unmögliche denkbar: Grüner | |
| Strom wird billiger als schwarzer. So kostet Strom aus Wind- oder | |
| Solarkraftwerken inzwischen weltweit im Schnitt zwischen 4 und 10 | |
| Dollarcents pro Kilowattstunde – bei fossilen Energien liegt der Preis bei | |
| 5 bis 17 Cents. Das hat die Weltagentur für erneuerbare Energien IRENA | |
| letzte Woche verkündet – verbunden mit der guten Nachricht, bis 2020 würden | |
| alle Arten von Ökostrom wettbewerbsfähig sein. | |
| ## Kleiner Aufschub | |
| Die UN-Umweltorganisation Unep wird nicht müde zu betonen, viele der | |
| Maßnahmen „können zu moderaten Kosten oder sogar ohne Kosten umgesetzt | |
| werden“. Und das New Climate Institute hat seiner Aufgabenliste von 2016 | |
| gerade einen kleinen Mutmacher folgen lassen: Der Ausbau von Solar- und | |
| Windenergie sei weltweit auf Kurs, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, die | |
| Kohle sei unter Druck in China und Indien; E-Mobile setzten sich in | |
| Ländern wie Norwegen durch, in der EU gälten bereits die Gebäudestandards | |
| der Zukunft, Brasilien habe seine Regenwald-Zerstörung um 80 Prozent | |
| reduziert. Das Überangebot bei Stahl führe dazu, dass alte Werke | |
| stillgelegt würden. | |
| Vielleicht gibt es sogar Hilfe von oben. Forscher an der Universität Exeter | |
| haben berechnet, das Klima reagiere eventuell ein bisschen weniger heftig | |
| als bislang befürchtet. Die „Klima-Sensitivität“, die Erwärmung bei der | |
| Verdopplung des CO2-Anteils in der Luft, liege im schlimmsten Fall nicht | |
| bei 4,5, sondern „nur“ bei 3,4 Grad. | |
| Das könnte einen kleinen Aufschub bringen. Aber es würde nichts am letzten | |
| Ausweg zur Rettung des Weltklimas ändern: Dem möglichst schnellen und | |
| steilen Abknicken der Emissionskurven nach unten. | |
| 19 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernhard Pötter | |
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